1. Die Neuordnung des Gegenwärtigen und die Wissenschaft vom Vergangenen
Der ›Alpen-Adria-Raum‹ ist ein Konstrukt. Seine naturräumliche Konturierung ist unscharf, die landschaftliche Gliederung vielgestaltig. Doch nicht die Geografie und die ihr folgenden Verkehrs- und Wirtschaftsvernetzungen bilden den Unterbau dieses jungen Raumkonstrukts am sprachlichen Schnittstellenbereich Germanisch – Romanisch – Slawisch. Bestimmend sind vielmehr übergreifende historische Erfahrungen, zivilisatorische Überwölbungen und kollektive Prägungen in einer Region großer Heterogenität und intensiver Kulturraumverdichtung. Dies héritage commun verbindet sich zum Teil mit der vormaligen Adria-Großmacht Venedig, räumlich umspannender und nachdrücklicher jedoch mit der zumeist säkularen Raumbindung an das Haus Österreich. Mit nostalgischen Ausdeutungen des Gewesenen äußert sie sich posthum – und bis in die Gegenwart – in einem nicht selten verklärenden Habsburg-Mythos. Vor diesem Hintergrund kann der Alpen-Adria-Raum als jener kulturelle Übergangsbereich im Gebiet der Ostalpen und in deren südlichem Vorland gelten, der grosso modo die vormals habsburgischen Kronländer Steiermark, Krain, Küstenland (Görz und Gradisca, Triest, Istrien) und Kärnten umfasst, wobei hier der Untersuchungsrahmen auf das angrenzende Friaul und das historische Tirol ausgeweitet wird.
Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts präsentierte sich dieser Raum zwischen Ostalpen und Adria als politische Konfliktlandschaft. Die aufkommenden sozioökonomischen Antagonismen der Zeit – vor allem die Auseinandersetzungen um Zugänge zu politischen Entscheidungsgremien, zu Ressourcen und Revenuen – hatten in der multiethnischen Habsburgermonarchie rasch ihren Niederschlag in alternativen, ethnozentrischen Identitätsund auseinanderstrebenden Raumentwürfen gefunden. Wachsende Intoleranz, verwehrte Autonomieansprüche, sezessionistische Neugliederungsbegehren oder gar irredentistische Forderungen nach territorialer Neuordnung spalteten die Region im Inneren, noch ehe der Erste Weltkrieg und der Vertrag von Saint-Germain sie von außen her zerteilten. Der verlustreiche, doch kaum Geländegewinne erbringende Stellungskrieg zwischen Ortler und Isonzo radikalisierte bestehende Feindbilder ebenso wie die aufflackernden Grenzlandkämpfe der frühesten Nachkriegsjahre. Die neue Ordnung, in deren Folge alle südlichen Kronländer Österreichs ganz, gebiets- oder zumindest strichweise unter die Herrschaft Italiens oder Jugoslawiens wechselten, desillusionierte Weltkriegsverlierer wie Gewinner gleichermaßen: Erhebliche Territorialverluste hier standen gegen ein Zurückbleiben hinter erwartetem Gebietszuwachs dort. Damit wurde der Alpen-Adria-Raum in der Zwischenkriegszeit Projektionsfläche wechselseitiger Revisionismen vonseiten aller Anrainer. Auf die Grenzverschiebungen und Herrschaftswechsel folgten bald schmerzliche sozio-ökonomische und bevölkerungspolitische Maßnahmen zum Nachteil der ethnischen Minderheiten – speziell in den italienischen und jugoslawischen Annexionsgebieten, aber auch (nicht erst seit 1938) in Österreich (Kärnten). Hinzu kam die Schwäche der Demokratien und der rasche, die gesamte Region ergreifende Übergang zur Diktatur. Der ›Anschluss‹ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland markierte den Beginn einer abermaligen Neuordnung von Raum und Bevölkerung. Neben dem Deutschen Reich trat dabei während des Zweiten Weltkrieges zunächst auch das nun verbündete Italien als Interventions- und Besatzungsmacht im Alpen-Adria-Raum in Erscheinung. Seit dem unausweichlichen Bündnisaustritt des Landes im September 1943 jedoch standen mit der nachfolgenden deutschen Okkupation der Apenninenhalbinsel und der weitgehenden Übernahme der italienischen Positionen im besetzten Jugoslawien schließlich alle vormaligen österreichischen Abtretungsgebiete im Süden unter – regional unterschiedlich stark widerstrittenen – nationalsozialistischen Besatzungsverwaltungen. Im Schatten des Krieges machte die Region in der Folge teils mehrfacher Herrschaftswechsel die tragische Erfahrung von erzwungenen Umsiedlungen und Vertreibungen, von ideologisch motivierter Verfolgung, Vernichtung und Ausplünderung politischer und ›rassischer‹ Gegner. Das Epochenjahr 1945, mit dem sich der Eiserne Vorhang trennend, wenn auch nicht hermetisch über den oberen Adriaraum senkte, bedeutete dabei mit Blick auf das nunmehr sozialistische Jugoslawien keineswegs das Ende von Umsiedlungen und Vertreibungen, von ethnischer und politischer Gewalt.
Die Jahre zwischen 1939 und 1945 markieren den Scheitelpunkt dieser Konfliktgeschichte der Alpen-Adria-Region. Er verbindet sich unmittelbar mit der aggressiven Neuordnung von Raum- und sozio-ethnischer Bevölkerungsstruktur, die das nationalsozialistische Deutschland dort in verschiedenen Phasen des Zweiten Weltkrieges – teils eher beiläufig, teils casu et fortuito, stets jedoch primär infolge Urgierens österreichischer Exponenten des NS-Regimes – in Angriff nahm. Diese Interventionen werfen die Frage nach Entwicklung, Bereitstellung und Einsatz sozial- und kulturwissenschaftlich gestützten Herrschaftswissens auf, so wie es für den expansionspolitischen Planungs- und Realisierungszusammenhang unerlässlich wurde.
Unter dieser allgemeinen Perspektive haben Geschichts- und Sozialwissenschaftler seit den späten 1990er Jahren verstärkt die Rolle und Verstrickung ihrer Disziplinen während der Zeit des Nationalsozialismus beforscht. Insonderheit ist der Blick dabei auf die Schnittstellenbereiche von (politikberatenden) Expertennetzwerken der Wissenschaft, von Funktionseliten der Verwaltung und politischen Entscheidungsträgern gerichtet und auf die wechselseitigen Interessen der Akteure gewandt. Wissenschaftlich orientierte Politikberatung sei dabei nicht lediglich »als Teil an exekutivem oder administrativem Handeln [verstanden], sondern [als] die geistige Vorarbeit dafür, vorhandene politische und gesellschaftliche Strukturen sichtbar zu machen, alternativ ein Modell für künftige, noch zu schaffende Sozial- und Bevölkerungsordnungen vorzuführen«1 oder gar auf mögliche Umstrukturierungsverfahren zu verweisen und diese zu legitimieren.
Später und schleppender als in den übrigen historischen Teildisziplinen setzte die fachgeschichtliche Historisierung der Archäologie und die Problematisierung ihrer Stellung im Herrschaftssystem des Nationalsozialismus ein. Dabei hatten Entwürfe von ethnisch-nationaler Identität und Tradition, der Nachweis von Primogenitur und ancienneté des Eigenen sowie darüber abgeleitete Territorialansprüche seit dem 19. Jahrhundert gerade auf die Archäologie rekurriert – auf eine Wissenschaft, die seinerzeit eines ihrer Hauptanliegen in der ethnischen Zuschreibung von Bodenfunden und – im Anschluss daran (so etwa bei Gustav Kossinna) – in der Identifizierung archäologischer Kulturgruppen und Kulturräume sah. Nach frühen, ganz auf die Person Hans Reinerths (1900–1990) konzentrierten Verantwortungszuweisungen, welche zugleich implizit auf die Pauschalentlastung anderer Fachvertreter hinausliefen, hat die spätere Auseinandersetzung mit der Archäologie unter dem ›Dritten Reich‹ nicht selten Züge einer rein beschreibenden Disziplin- und Forschungsgeschichte getragen. Hinzu treten bis heute zahlreiche Forscherportraits, die – oft ohne weitergespannte wissenschaftsgeschichtliche Analysekonzepte heranzuziehen – sich vielfach in der Bemessung weltanschaulicher Nähe des Biografierten zum Nationalsozialismus und in der Ergründung individueller Motivationslagen erschöpfen. Die dem Regime zu- oder gar vorarbeitende archäologische Wissensproduktion wird oftmals nur unzureichend in übergeordneten Gesamtkontexten verortet und kaum nach ihren politischen Anwendungszusammenhängen, nach Konsequenzen und moralischer Verantwortung wissenschaftlicher Herrschaftslegitimation befragt. Indes gilt es wiederum auch, die untersuchten Wissenschaftsmilieus differenziert zu bewerten, pointiert verallgemeinernde Eindimensionalitäten zu vermeiden und unstrittige Verdienste nicht unter der Kritik an politischer Instrumentalisierung erbrachter Forschungen zu verschütten.
Zum Einsatz deutscher Archäologen im besetzten Europa liegen inzwischen Spezialstudien für die meisten okkupierten Länder vor.2 Die hier zu behandelnden halbannektierten Besatzungszonen im Alpen-Adria-Raum haben indes in dieser Hinsicht bisher keine systematische Aufarbeitung, allenfalls knappe sporadische Beachtung gefunden.3 Insofern unterscheidet sich die Forschungslage zu den von Umsiedlungspolitiken und neuen Identitätszuschreibungen gekennzeichneten Okkupationsgebieten zwischen Südtirol und der Untersteiermark deutlich von den besatzungspolitisch weitgehend analog verfassten Zivilverwaltungsterritorien im Westen (Elsass, Lothringen und Luxemburg).4 Auch die rückwärtigen Reichsgaue im Süden als Träger von Ziviladministration und Kulturpolitik in den grenznahen Okkupationszonen sind in Hinblick auf archäologische Forschungen während des ›Dritten Reichs‹ bisher nur zum Teil zufriedenstellend untersucht...