DAS DORNRÖSCHENPHÄNOMEN
Es ist nie zu spät, aus einem belastenden Beziehungsmuster zu erwachen
Vielen ist die Verwandlung Dornröschens von einem „verfluchten Opfermenschen“ zu einer selbstbewussten Person auf Augenhöhe mit dem geliebten Prinzen nicht nur aus dem Märchenbuch bekannt. Der 1890 von der Dresdener Lehrerin Margarethe Löffler aus alten Volksliedern entwickelte Liedtext „Dornröschen war ein schönes Kind“ war zur Umsetzung als bewegtes Singspiel gedacht. Die Strophen wiederholen sich und beinhalten eine Warnung: „Dornröschen, nimm dich ja in Acht, ja in Acht, ja in Acht“, sowie unmittelbar darauf den Textabschnitt: „Da kam die alte Fee herein, Fee herein, Fee herein …“ Der Fluch der Fee bewirkte, dass aus dem unbeschwerten Kind eine unter einem schlimmen Fluch stehende junge Frau wurde, die sich „an einer Spindel stechen und tot umfallen“ sollte. Getreu dem Liedtext sollten auch wir uns vor oft unbedachten negativen Zuschreibungen „böser Feen“ unserer Kindheit und Jugend in Acht nehmen und ihnen zumindest nachträglich die Bedeutung nehmen. Denn was Dornröschen im Schlaf gelang, darum müssen wir uns oft gefühlt hundert Jahre bemühen: darum, innere Blockaden zu durchbrechen und aus alten Verhaltensmustern zu erwachen, die uns betäuben und von einer glücklichen Lebensweise trennen.
Warum lesen wir Märchen, die wir schon kennen, noch einmal? Und singen Lieder wieder und immer wieder? Was hindert uns, neue Beziehungen anders zu gestalten als die alten und umzudenken? Warum fallen uns Verhaltensänderungen so schwer? Auf Märchen, die bestimmten Mustern folgen, sowie Lieder und Brauchtum ist Verlass. Rituale wecken ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Zusammengehörigkeit schafft Sicherheit. Deswegen mildern Gruppenerlebnisse Ängste vor Terror, Tod, Verlust. Nationalhymnen, die vor Fußballländerspielen gesungen werden, bringen die Identität der Spieler und ihre Beziehung zum Herkunftsland zum Ausdruck. Man fasst sich mit der Hand aufs Herz. Es ist eine Herzensbeziehung zum Herkunftsland, die das eigene Selbstverständnis prägt. Rituale vermitteln Sicherheit, weil sie beständig erscheinen. Das erklärt die unermüdlichen Wiederholungen von Gebetsformeln in den Religionen und das Rosenkranzbeten im katholischen Glauben. In Dörfern setzt sich das Rosenkranzgebet ununterbrochen fort, wenn einer den anderen in der Kirche ablöst, das „Gegrüßet seist du Maria“ immer weitergeht. Sigmund Freud beschrieb die Religion sinngemäß als Teilnahme an einer kollektiven Zwangsneurose. Der Begründer der Psychoanalyse betrachtete Gebete als bequeme Ersatzhandlungen, um sich nicht mühsam individuelle Zwangshandlungen ausdenken zu müssen. Bei Zwangshandlungen geht es genau genommen um die Abwehr von Gefühlen wie Angst und Schuld sowie das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Eine Beziehungsformel christlich-abendländischer Tradition lautet: „Wenn du brav bist, kommst du in den Himmel. Wenn nicht, wirst du bestraft und musst in der Hölle büßen.“
An Regeln und Ritualen orientierte sich auch der König in „Dornröschen“, als er eine weise Frau von der Tauffeier ausschloss, weil er nicht genug Teller hatte. Ohne die folgenschwere Beziehungsformel (den dann abgemilderten Fluch, dass sich die Prinzessin an ihrem 15. Geburtstag an einer Spindel stechen und tot umfallen werde) hätte das Mädchen nicht hundert Jahre geschlafen und wäre nicht durch eine Dornenhecke in der Entwicklung behindert gewesen. Zu Beginn der Geschichte verhalf ein Frosch dem kinderlosen Königspaar zu der ersehnten Tochter. In psychologischen Deutungen wird der Frosch als Nebenbuhler des Königs betrachtet, der die Königin schwängerte. Damit wäre eher erklärbar, wie dem König der vermeintliche Fehltritt gegenüber einer von 13 weisen Frauen seines Reiches passieren konnte. Die Rolle der Königin ist blass. Ihre Beziehungsformel mag gelautet haben, sich bedingungslos unterzuordnen. Dies würde erklären, weshalb die Königin am 15. Geburtstag ihrer Tochter, als sich der Fluch erfüllen sollte, mit dem König verreist war. Der König hatte nur zwölf Feen eingeladen, die 13. nicht. Seine narzisstische Selbstbezogenheit oder auch der Hass auf den Frosch als Nebenbuhler verführte ihn dazu, eine der weisen Frauen im Reich zu missachten, unter dem Vorwand, dass sein Festtagsgeschirr zu wenig Becher und Teller habe. Durch den Fluch des ungebetenen Gastes bei der Tauffeier wurde Dornröschens Adoleszenz blockiert. Der Fluch wäre wahr geworden, hätte die zwölfte Fee nicht in letzter Sekunde das Bestmögliche daraus gemacht. Der König versuchte das Problem auf seine Weise durch Beseitigung aller Spinnräder und Spindeln aus der Welt zu schaffen – ungeachtet dessen, damit den Menschen das Werkzeug zum Broterwerb zu entziehen. Klar war, dass die zwölfte weise Frau die Fluchformel der zornigen Kollegin nicht aufheben, aber mildern konnte. Somit musste sich das Mädchen an seinem 15. Geburtstag an einer Spindel stechen, aber nicht „tot umfallen“. Dornröschen fiel in einen hundertjährigen Schlaf, mit ihm der gesamte Hofstaat, Koch und Küchenjunge, Tauben, Hühner, Pferde, König und Königin.
Dass die 13. Fee gekränkt war, als Einzige nicht zur Tauffeier geladen zu werden, ist nicht weiter erstaunlich. Überlegen wir einmal, ob es ähnliche Personen in unserem Umfeld gab, die uns mit formelhaften Verwünschungen in der Art von „Aus dir wird nie etwas“, „Das schaffst du nie“ oder „Du bist nicht gut genug“ entwertet haben.
Wiederholte Sätze, Zuschreibungen von außen, Unterstellungen und Beziehungsformeln, die wir vielleicht verdrängt haben, die aber heute noch immer in Form eines „inneren Kritikers“ Einfluss auf uns nehmen und unser Denken und Handeln durch bitterböse Zwischenrufe stören, bringen uns aus der Fassung und wirken beunruhigend. Selbstzweifel und eine innere Unruhe entstehen, wenn „der innere Kritiker“ nicht schweigt und alles, was wir tun, boshaft kommentiert und in Zweifel zieht, wenn das, was wir leisten, nie genug ist.
Die Tiere, der Hofstaat, alles fiel mit der Königstochter in einen hundertjährigen Schlaf. Ähnlich ergeht es Menschen nach traumatischen Erlebnissen wie Verlust der Arbeit oder Trennung, wenn sie sich wertlos fühlen und den sozialen Rückzug antreten. Alles rundherum erscheint ihnen fremd, fern, bedrohlich, unwirklich oder leblos. Dieses Abrücken von der Wirklichkeit geschieht in vielen Fällen aus Selbstschutz, um traumatische Erfahrungen zu überleben. Im Leben vieler Menschen gibt es einen Zustand, der einem hundertjährigen Schlaf gleichkommt: Dissoziation, Resignation, Depression, sozialer Rückzug, Burn-out sind alternative Bezeichnungen dafür.
Dornröschen war mit 15 Jahren im Begriff, sich von Verhaltensfesseln und Denkmustern zu befreien. Als „Initiation“ wird der Eintritt des Jugendlichen in den Kreis der Erwachsenen bezeichnet – der Übergang zum eigenverantwortlichen Leben. Alle Völker haben Initiationsriten. Von alters her waren Initiationsriten mit Schmerzen und Selbstüberwindung verbunden, wie beispielsweise die Beschneidung. In christlich-abendländischer Tradition sind noch immer Erstkommunion und Firmung/Konfirmation offizielle Feierlichkeiten, um das Kind in den Kreis der Erwachsenen aufzunehmen. In modernen Zeiten stellen der Besitz des ersten Smartphones und die Eröffnung eines Social-Media-Accounts symbolische Akte für das Erwachsenwerden dar. In jugendlichen Peergroups sind Komasaufen, Cannabiskonsum und Rauchen, extravagente Frisuren und ein womöglich heimlich erworbenes Tattoo oder Piercing Initiationsriten. Im Fall von Dornröschen war es das Spiel mit der Spindel.
An seinem 15. Geburtstag betrat das Mädchen den verbotenen Turm, welcher psychologischen Deutungen zufolge ein Phallussymbol (Symbol des männlichen Geschlechtsteiles) darstellt. Dornröschen hatte „sturmfreie Bude“, die Eltern waren ausgeflogen. Das Königskind stand an der Schwelle zum Erwachsensein und folgte seinem Trieb: Neugierig eilte es die Treppen hinauf und kam in das Turmzimmer, wo es eine alte Frau an einem Spinnrad erblickte. Die Spindel wird im Märchen als „Ding“ bezeichnet, „das munter herumspringt“ und das die Prinzessin schließlich neugierig anfasste. Die 13. Fee verkörpert „alles Verdrängte und Ausgegrenzte: Leidenschaft, Gefühle, Sexualität, vibrierendes Leben, Mut zum Risiko“ (Feldmann 2009, S. 96). Das Anfassen des ihm unbekannten Dinges mag für das Mädchen in einer sexuellen Deutung dem Berühren des männlichen Geschlechtsteiles beim Petting gleichkommen. Nachdem Blut fließt, kann es sich bei dem Spindelstich um den Akt der Entjungferung handeln. „Der Stich an der Spindel bedeutet somit, dass die Möglichkeit, eine reife Frau zu sein und auf einen Mann zu ‚spinnen‘, traumatisierend wirkt. Die Spindel verwundet, was psychologisch bedeutet: Einbrechende erotische Phantasien und Impulse mobilisieren lähmende Angst“ (Jacoby 1994, S....