Es dauerte nach dem Auffinden der Tafeln noch ein paar Jahre, bis, nunmehr in Deutschland, eine heftige Diskussion über die theologischen Konsequenzen der Entdeckung entbrannte, die als der sogenannte Babel-Bibel-Streit in die Geschichte eingehen sollte. Anlass war ein öffentlicher Vortrag des Assyriologen Friedrich Delitzsch am 13. Januar 1902 in Gegenwart von Kaiser Wilhelm II. vor der Deutschen Orientgesellschaft in Berlin. Delitzsch verkündete die Theorie, die jüdische Religion und das Alte Testament hätten ihre Wurzeln im Zweistromland an Euphrat und Tigris. In dieser Verallgemeinerung ist die These sicher falsch, wie wir heute wissen. Der Assyriologe wurde deshalb massiv von konservativer christlicher und jüdischer Seite angegriffen. Raoul Schrott, der eine Neuübersetzung der Texte des Gilgamesch-Epos vorgelegt hat (3), beschreibt den eigentlichen Grund für die Aufregung über den Fund am Tigris so: »… die Autorität der Bibel als Zeugnis göttlicher Offenbarung war damit ein für allemal im wahrsten Sinne des Wortes untergraben: das Wort Gottes war nichts als die Abschrift eines mesopotamischen Textes.«
Man kann das so deuten. Aber nur, wenn man die Bibel zuvor als wörtlich von Gott offenbart verstanden hat. Das aber ist im Lichte historisch-kritischer Forschung blanker Unsinn.
Die Sintflut-Sage ist unter den eingeborenen Völkern weltweit verbreitet. Bereits im Jahre 1925 hatten Wissenschaftler 268 davon handelnde Berichte zusammengetragen: von einer Flut, einer Überschwemmung, einer Tränenflut, einem Blutstrom und so weiter. Viele Details, etwa der Regenbogen als Zeichen der Versöhnung mit der Gottheit, stimmen mit dem biblischen Sintflutbericht überein – oder sind den örtlichen Gegebenheiten entsprechend verändert worden. So ist bei den Michoacán in Mexiko nicht wie in der Bibel von einer Taube die Rede, sondern von einem Geier. Und am Ende landet hier die Arche nicht, wie im Buch Genesis, im Gebirge Ararat in der heutigen Türkei, sondern auf dem Berg von Colhuacan (Johannes Riem, Die Sintflut, Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg, 1925). Einfältige christliche Fundamentalisten nehmen die Geschichte wörtlich, und Geschäftemacher wollen Aufsehen erregen mit der Behauptung, die Arche im Gebirge Ararat gefunden zu haben.
Für die Verfasser der biblischen Noah-Geschichte war die Keilschrift-Vorlage aus dem Gilgamesch-Epos Material, das sie benutzten, um damit ihre Deutung des Wirkens Gottes in der Welt vorzulegen. Wenn es um das Material geht, das die Verfasser für ihre Deutungen verwendet haben, zählt Gilgamesch zu den Ahnen der Bibel, oder in einem anderen Bild: Das Gilgamesch-Epos gehört zum ältesten Baumaterial. In der babylonischen Sintflutgeschichte spielen, wie man heute weiß, mindestens vier Gottheiten eine wichtige Rolle: der Gott der rechten Ordnung, Enlil, der Wetter- und Sturmgott, Hadad, der Gott der Weisheit, Ea, und die Muttergöttin, Ischtar. In der biblischen Version übernimmt Gott alle diese Rollen, was dazu führt, dass er »ziemlich inkohärent« wirkt, wie der Alttestamentler Othmar Keel von der Universität Fribourg sagt.