1
Mose und sein Lebenssaft
Im 5. Buch Mose lesen wir:
Bei seinem Tod war Mose 120 Jahre alt. Bis zuletzt waren seine Augen klar und seine Lebenskraft ungebrochen.
Das ist einigermaßen klar, richtig? Mose war alt … und dann starb er.
Gibt es dazu sonst noch was zu sagen? Ehrlich gesagt, eine ganze Menge. Lesen Sie den zweiten Satz noch einmal:
Bis zuletzt waren seine Augen klar und seine Lebenskraft ungebrochen.
Fällt Ihnen etwas Ungewöhnliches auf? Zum Beispiel an der Formulierung: und seine Lebenskraft [war] ungebrochen?
Mose ist doch gerade gestorben, oder?
Und Sterben ist üblicherweise etwas, was geschieht, wenn man seine Lebenskraft verliert. Warum also möchte der Autor uns wissen lassen, dass Mose starb, obwohl seine Lebenskraft ungebrochen war?
Ein paar Worte zum Ausdruck Lebenskraft. Das Alte Testament wurde auf Hebräisch geschrieben, und im Hebräischen steht für Lebenskraft das Wort leho.
Leho heißt wörtlich: Lebenssaft oder Frische.
Er starb, aber er war noch voller Lebenssaft?
Er verschied, aber seine Frische war noch nicht geschwunden?
Eine andere Übersetzung sagt,
seine Kraft war nicht verfallen (L).
Wieder eine andere:
Er war noch rüstig (NLB).
Und der JPS-Thora-Kommentar bemerkt, dass Ibn Ezra den Vers so verstand, dass Mose
noch keine Falten hatte.
Lebenssaft?
Kraft war nicht verfallen?
Er hatte keine Falten?
Was will dieser Autor uns damit über Mose sagen?
Die Formulierung mit dem Wort leho, nur um sicher zu sein, dass wir es alle verstehen, ist ein Euphemismus für sexuelle Potenz. Das will uns der Erzähler hier über Mose zum Zeitpunkt seines Todes sagen.
Ganz richtig, Freunde. Als Mose, der große Führer der Israeliten, der Befreier, der seine Leute aus der Sklaverei herausführte, der Held, der sich dem Pharao entgegenstellt, der, der den Sinai bestieg und dort oben Gott begegnete, die überragende Figur der ganzen hebräischen Bibel – als dieser Mose starb,
war er noch im Vollbesitz seiner sexuellen Potenz.
Nur damit das klar ist.
Womit sich natürlich die Frage stellt: Warum?
Warum möchte der Verfasser, dass sein Leser das begreift?
Um die Frage zu beantworten, müssen wir noch weiter zurückgehen in die Geschichte von Mose und seinem Volk, zurück zu einem Mann namens Abraham. Abraham hatte viele Söhne und viele Söhne hatten Abraham zum Vater und Mose war einer von ihnen.
Abraham, so erfahren wir im 1. Buch Mose, dem ersten Buch der Bibel, verließ sein Vaterhaus und alles, was ihm vertraut war, und machte sich auf eine Reise in ein neues Land. Zu diesem Zeitpunkt der Geschichte tat man das nicht, denn die Menschen hatten die Vorstellung, die Geschichte sei zyklisch und alles, was schon einmal geschah, würde sich wiederholen. Sie glaubten, sie wären in einen Kreislauf der Ereignisse hineingeboren und stürben auch irgendwo innerhalb dieses Kreislaufes, der sich endlos wiederholte.
Mit anderen Worten: Es gibt nie etwas Neues.
Was den eigenen Vorfahren passierte, würde irgendwann einem selbst auch passieren und danach den eigenen Kindern … die gesamte Familiengeschichte drehte sich im Kreis.
Aber dann verlässt Abraham sein Elternhaus. Er verlässt diesen Kreislauf. Er macht sich auf in eine neue Zukunft, eine, die es bisher so nicht gegeben hat. Niemand vor ihm hatte so etwas getan, denn niemand vor ihm hatte die Welt und das Leben und die Zukunft so betrachtet wie er.
Es war eine neue Idee in der Geschichte der Menschheit – dass man nicht in einem ewigen Kreislauf gefangen war, dass man nicht endlos immer nur das wiederholen musste, was bereits passiert war.
Aber wir sind gerade erst am Anfang. Denn wenn wir die Bedeutung dieser Geschichte über Abraham verstehen wollen, müssen wir noch ein wenig weiter zurückgreifen und sehen, dass die Verfasser des ersten Mosebuches auch die Geschichte von Abraham im Rahmen einer umfassenderen Geschichte erzählt haben.
In den ersten Kapiteln des ersten Buchs Mose gibt es eine auffällige Steigerung der Gewalt. Die Entwicklung beginnt damit, dass ein Mann namens Kain seinen Bruder Abel tötet, und dann eskaliert die Gewalt kontinuierlich und die gesamte Menschheit gerät in eine Abwärtsspirale von immer heftigeren Konflikten und umfassenderer Zerstörung. Bis wir das Ende von Kapitel 11 erreichen – das Kapitel, bevor wir Abraham begegnen – haben die Menschen bereits Weltreiche begründet, um die Massen zu unterdrücken, und umfassende Systeme des Unrechts etabliert.
Wie viel schlimmer kann es denn noch werden?
Diese Frage liegt in der Luft, wenn der Erzähler uns diesen Mann Abraham vorstellt, der den Entschluss fasst, alles hinter sich zu lassen und etwas Neues zu beginnen. Er verlässt seine Heimat, aber er verlässt damit auch eine komplette Lebensweise.
Der Erzähler möchte seinem Leser sagen, dass Abraham eine Bestimmung hat, die er erfüllen muss. Es ist die Bestimmung, Vater einer neuen Art von Menschen zu werden und damit für die Menschheit eine neue Epoche einzuläuten – eine Epoche, die nicht auf Gewalt, sondern auf Liebe begründet ist. Wie Abraham im Kapitel 12 gesagt wird, sollen alle Völker der Erde … durch dich gesegnet werden.
Das war eine neue Idee. Sie würden andere Völker nicht mehr unterwerfen, sondern sie segnen?
Wie formt man Menschen von einer neuen Art, die die Welt in eine neue Richtung führen?
Indem man Kinder hat.
Und wie bekommt man Kinder?
Indem man Sex hat.
Und zum Sex gehören – richtig gelesen – Lebenssaft und Frische.
Wenn der Verfasser uns also sagt, dass Mose keine Falten und seine Frische noch nicht verloren hatte und noch im Vollbesitz seiner Lebenskraft war, dann sagt er uns damit, dass Mose immer noch in der Lage war, an der Erschaffung dieses neuen Volkes mitzuwirken, das die Welt in eine neue Richtung führen sollte, fort von Gewalt und Zerstörung.
Kann diese Welt sich in eine neue Richtung bewegen oder sind wir gefangen, dazu verurteilt, denselben alten, ermüdenden Kreislauf von Konflikten immer wieder zu wiederholen?
Das ist die Frage, um die sich die ganze Abraham-Mose-Geschichte dreht.
Aber damit kratzen wir gerade erst an der Oberfläche. Denn Abrahams Sippe fand sich irgendwann in der Sklaverei der Ägypter wieder, als Eigentum des ägyptischen Herrschers, des Pharao. Und dort begegnen wir Mose, der sich gegen den Pharao erhob und die Israeliten schließlich aus der Sklaverei herausführt in die Wüste und nicht müde wird, sie an ihre Bestimmung zu erinnern, dass sie eine neue Art Menschen für diese Welt sein sollen.
Warum ist das so wichtig?
Weil man als Sklave nur eine einzige brennende Frage hat: Werden wir auf ewig Sklaven bleiben?
Oder anders gesagt: Wird der Pharao auf ewig Macht über uns haben?
Oder noch anders gefragt: Wer hat die Götter auf seiner Seite – wir oder der Pharao?
Oder noch einmal anders: Sind die entscheidenden Kräfte des Lebens für uns oder gegen uns?
Oder noch mal anders: Sind wir hier, um zu leiden, oder sind wir hier, um etwas anderes, etwas Größeres und Besseres zu vollbringen?
Oder noch anders: Was hat das letzte Wort – Freiheit oder Unterdrückung? Wer gewinnt am Ende – Unrecht oder Freiheit?
Als nun Mose sein Volk aus Ägypten herausführte, ging es nicht nur um die Befreiung einer einzelnen Sippe – nein, es war die Antwort auf eine Frage, die die Menschen seit Jahrtausenden gestellt hatten:
Ist unser Leben in Stein gemeißelt und unveränderbar oder können wir uns frei machen von allem, was uns versklavt, was immer es ist?
Aber es ging nicht nur um die Beantwortung dieser Frage. Diese Geschichte über Mose und den Auszug aus Ägypten war auch eine Warnung an jeden, der je einen anderen tyrannisiert hatte, an jeden, der je einem Untergebenen seinen Willen aufgezwungen hatte, an jeden, der je Macht und Einfluss missbraucht hatte, um die schwächere Position eines anderen auszunutzen und ihn zu demütigen:
Die Zeit, in der ihr an der Macht seid, läuft ab, denn die entscheidenden Mächte des Universums sind aufseiten der Unterdrückten, der Verlierer, der Ohnmächtigen.
Für diese Sippe von Israeliten war es also wirklich, wirklich wichtig, diese befreiende und berauschende Idee an eine nächste Generation weiterzugeben. So konnte man die Welt verändern, indem man die eigene Befreiung verinnerlichte und dann diese Freiheit und Freude und Unabhängigkeit an die eigenen Kinder weitergab.
Und wie kommt man zu Kindern?
Durch Sex.
Und wie hat man Sex?
Nun, wie wir wissen, hat das etwas zu tun mit Lebenssaft und Frische.
Können Sie mir noch folgen?
Sehen Sie, was wir gerade getan haben?
Begonnen haben wir mit ein paar obskuren Begriffen aus dem vierunddreißigsten Kapitel des fünften Buches Mose über einen Mann namens Mose. Dann sind wir nur ein ganz klein wenig unter die...