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Die Bibel irrt

Die sieben großen Mythen auf dem Prüfstand

AutorChristian Schüle
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644005716
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Hat es den Exodus unter der Führung von Moses wirklich gegeben? Hat die Schlacht von Jericho wie überliefert stattgefunden? Gab es Goliath? Sind Sodom und Gomorrha tatsächlich in Feuer und Schwefel untergegangen? Hat die Bundeslade mit den Zehn Geboten jemals existiert? Wo lag der Garten Eden? Und wo genau, wenn überhaupt, fand die Sintflut statt? Geschichten oder Geschichte - was in der Bibel ist wahr, falsch oder schlicht erfunden - und warum? In Ägypten, Jordanien und Israel hat Christian Schüle aufwendige Forschungsreisen zu den mutmaßlichen Originalschauplätzen der großen biblischen Mythen und Legenden unternommen. Und schöpfte einen verblüffenden Verdacht, als er neueste archäologische Funde im Lichte jüngster wissenschaftlicher Erkenntnisse analysierte: Die Bibel irrt nicht nur häufig - sondern in wichtigen Erzählungen offenbar mit Absicht. Mit der gebotenen Sorgfalt und Vorsicht, aber ebenso beharrlich verfolgt der Autor eine Spur, die unser Bild vom Alten Testament verändern wird, ja revolutionieren kann.

Christian Schüle, geboren 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaften in München und Wien. Er lebt als freier Autor in Hamburg und schreibt für Die Zeit, National Geographic, Rheinischer Merkur, mare und den Bayerischen Rundfunk. Er ist Träger mehrerer Journalistenpreise. Sein Buch «Deutschlandvermessung» erhielt 2007 die Empfehlung als «Politisches Buch des Jahres».

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Leseprobe

Eine neue Perspektive


Bis zum heutigen Tag haben die alttestamentlichen Mythen nichts von ihrer sagenhaften Kraft und Faszination eingebüßt. Sie sind das Gründungsdokument des Judentums und die Quelle der christlichen Zivilisation. Doch es gibt Streit, ob und inwieweit die biblischen Erzählungen historischer Wahrheit entsprechen. Hat es Moses’ Auszug aus Ägypten, hat es die Schlacht von Jericho und die Eroberung des von Gott versprochenen Landes unter Josua und David je gegeben? Existierte der Goliath wirklich, sind Sodom und Gomorrha tatsächlich in Feuer und Schwefel untergegangen, und war die Bundeslade je ein realer Gegenstand?

Wenig versöhnlich stehen sich seit über vierzig Jahren zwei Fraktionen gegenüber. Die sogenannten Maximalisten sind biblische Archäologen, die durch ihre Grabungen die Mythen des Alten Testaments bestätigen und verifizieren wollen: Ja, die Bibel hat recht! Ihre Hauptvertreter sind William F. Albright, Frank Moore Cross und auch der deutsche Jurist, Publizist und Journalist Werner Keller mit seinem 1955 erschienenen, in zwanzig Sprachen übersetzten Buch «Die Bibel hat doch recht».

Die sogenannten Minimalisten um die Kopenhagener Schule dagegen behaupten, die Bibel sei nichts weiter als eine gutmontierte Sammlung ausgedachter Geschichten, die auf keinerlei nachprüfbaren Tatsachen beruhten. Israel, so meinen sie, sei ein Konzept, erfunden in der hellenistischen Periode des 3. Jahrhunderts vor Christus – eine auch aktuell politisch relevante Ansicht, auf die im Übrigen mancher Palästinenser im existenziellen Streit mit Israel um den legitimen Besitz des Landes gern zurückgreift. Der Streit zwischen Minimalisten und Maximalisten nimmt seinen Ausgang in der unterschiedlichen Datierung der ausgegrabenen Orte und ihrer Zeugnisse, im Eigentlichen aber ist es ein Streit zwischen Ideologien darüber, ob die Bibel irrt oder nicht.

Die Bibel (lateinisch «biblia»: «die Bücher») ist kein einheitliches Werk, sondern eine Zusammenstellung von Texten verschiedener Autoren – eine Collage, vergleichbar mit der Loseblattsammlung einer Rechtsordnung: Immer wieder kamen Blätter dazu, wurden Berichte neu abgefasst, verändert, umgeschrieben, ausgeschmückt und aktualisiert, indem man die Motive in die jeweilige Gegenwart der Autoren führte. Während man auf alte Sagen und Geschichten zurückgriff, passte man sich bei ihrer literarischen Ausgestaltung stets dem herrschenden Zeitgeist, dem neuesten geografischen Wissen und den kulturellen Moden an.

Die Bibel enthält das Alte und das Neue Testament. Während das Neue Testament die Geschichte Jesu Christi erzählt, berichten die Legenden des umfangreicheren Alten Testaments von dem Aufstieg des Volkes Israel. Das lateinische Wort «testamentum» heißt «Bund» und drückt das Treuebekenntnis der Israeliten zu Gott aus. Jesus hat sein Wirken stets auf das Alte Testament bezogen, insofern ist das Alte Testament die Grundlage des Neuen Testaments. Das Alte Testament, auch als Hebräische Bibel («Tenach») bezeichnet, ist eine Sammlung heiliger Schriften des antiken Judentums. Es kompiliert Sagen, Gesetze, Dichtung, Prophezeiungen und historische Schilderungen und beginnt mit der sogenannten «Tora» (Gesetz), den in ihrer enormen Wirkmächtigkeit kaum überschätzbaren fünf Büchern Mose (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), die auch mit dem griechischen Wort «Pentateuch» bezeichnet werden. Darauf folgen die dichterischen Bücher der Psalmen, Sprüche und das Buch der Weisheit, schließlich die Bücher der Propheten, die in die früheren (Josua, Richter, Samuel, Könige) und die späteren Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Buch der zwölf kleinen Propheten) unterteilt sind. Der offizielle christliche Kanon zählt 39 Bücher zum Alten Testament.

In der Bibelwissenschaft unbestritten ist, dass die Arbeit an den Schriften des Alten Testaments hauptsächlich vom 8. bis 6. Jahrhundert vor Christus in den Schreibstuben des Jerusalemer Tempels stattfand. Wer die Autoren waren, ist nicht bekannt. Namen werden nirgends genannt. In Frage kommen aber nur sehr wenige Personen, die zur damaligen Zeit überhaupt schreiben konnten: Priester, ihre Schüler, Militärbeamte und Chronisten am königlichen Hof. Bibelwissenschaftler schätzen, dass bei 3000 Einwohnern im Jerusalem des 6. Jahrhunderts nicht mehr als 50 Menschen schriftkundig waren. Große Teile der Prophetischen Bücher etwa wurden viel später, im 3. Jahrhundert vor Christus, abgeschlossen, ihre Texte atmen bereits das geistige Aroma der hellenistischen Welt. Endredaktion der Mythen, so nimmt man an, war um 200 vor Christus.

In seiner kompositorischen Raffinesse ist die Bibel als literarisches Werk geradezu genial. Ihre Entstehung korrespondiert mit der plötzlichen Eruption an Kreativität im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts und lässt sich mit den Kulturleistungen der Renaissance im nachchristlichen 16. Jahrhundert vergleichen. Als in Athen der Autor Homer seine Epen schreibt, entstehen auch die großen Erzählungen des Alten Testaments. Der Vergleich mit Homer ist keineswegs abwegig: Die Stadt Troja ist, archäologisch gesichert, um 1200 vor Christus untergegangen, doch Homer lebte und schrieb die Ilias sehr viel später, Ende des 8. Jahrhunderts, die Odyssee im frühen 7. Jahrhundert. Zeitlich betrachtet ist genau derselbe Spagat von 500 Jahren zwischen vermeintlichem Ereignis und Niederschrift festzustellen wie bei den Autoren des Alten Testaments.

 

Die Hintergründe der Bücher des Alten Testaments sind weitaus komplexer und komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheint. Man kann die Bibel ohne die politischen, sozialen, geografischen Kontexte und die kulturellen und ökonomischen Entwicklungen zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert vor Christus im alten Vorderen Orient nicht ausreichend verstehen. Das Alte Testament ist das Dokument nationaler Identitätssehnsucht und Selbstbehauptung in einer von Angst und Zerfall im Vorderen Orient bestimmten Krisenperiode. Die Exodus-Erzählung zum Beispiel, in ihrer ältesten literarischen Fassung um 670 vor Christus entstanden, verrät sehr wenig über den historischen Kern eines vermeintlichen Auszugs aus Ägypten, sehr viel dagegen über die politische Situation im frühen 7. Jahrhundert vor Christus in Jerusalem. Die Legende ist eine Propagandaschrift des theologischen Aufruhrs gegen die Bedrohung durch die assyrische Weltmacht. Die Truppen des assyrischen Königs Sargon II. hatten 722 vor Christus das nördliche Königreich Israel zerstört und die Bevölkerung deportiert. Eine traumatische Erfahrung: Gottes auserwähltes Volk war in Völkchen zerstreut, die Einheit des Gelobten Landes zerschlagen. Welche Lehre war daraus zu ziehen, und was konnte in einer solch desolaten Situation Hoffnung geben?

Man kann aus allen Erzählungen und Legenden des Alten Testaments zum einen Parolen für den politischen Widerstand gegen die Großmächte der Region, zum anderen Motive zur Errettung und Befreiung des israelitischen Volkes unter kontinuierlicher Aufsicht Gottes herauslesen. Hinter allen Geschichten steht immer auch Realpolitik.

 

Im Jahr 622 vor Christus, als der Niedergang Assyriens offensichtlich ist, gibt es auf einmal eine Art Vakuum. Ist nicht eben jetzt, in einer unverhofften, schicksalhaften Wende der Geschichte, da das Nordkönigreich zerstört war, die große Chance gegeben, unter dem Dach des Südkönigreichs Juda alle hebräischen Stämme zu einer Nation zu einen? In Jerusalem, der Hauptstadt des wenig entwickelten Juda, macht sich der 26-jährige König Josia mit großer Verve daran, das ehrgeizige Ideal einer nationalen israelitischen Identität zu erschaffen. Josia ist der Gerechteste unter allen. Er entstammt angeblich dem Hause Davids, wird mit acht Jahren König und regiert 30 Jahre lang, von 639 bis 609 vor Christus, in Jerusalem. Die Geschichtsschreiber der Bibel schwärmen in den höchsten Tönen: Nie habe es einen wie ihn zuvor gegeben, und nie würde es einen wie ihn wieder geben. Josia wird in eine Reihe gestellt mit dem heldenhaften David und dem großen Moses. Er ist der letzte Rechtschaffene in einer Zeit der Bedrohungen und des Zerfalls, und er ist der Mittelpunkt aller Hoffnungen und Sehnsüchte des Volkes von Juda auf eine große, eine goldene Zukunft. Zu dieser Zeit herrscht Angst vor ägyptischen Neoimperialisten, die die Wiedergeburt ihres zerfallenen Großreichs anstreben und den levantinischen Korridor nordwärts ziehen. Josia bereitet sich auf den Kampf vor und verordnet eine revolutionäre Kultreform. Er dekretiert das Ende von Götzenglauben und Vielgötterei und befiehlt eine Zentralisierung: ein Gott, ein Tempel, ein Kultort, ein Glaube. Konkurrierende Kulte werden ausgelöscht, Tempelanlagen im ganzen Land geschlossen. Jedes Land und jeder Stamm, die Edomiter, die Moabiter, die Ammoniter, alle verehrten bis dahin ihre eigene Nationalgottheit. Funde aus archäologischen Grabungen legen eine ausgeprägte Volksfrömmigkeit in der Region Kanaan nahe, abzulesen an Graffiti, Inschriften, Segenssprüchen und Amuletten. Polytheismus war zur alttestamentlichen Zeit der Normalfall, und zu 99 Prozent betete man Göttinnen an, Anrufungen der Fruchtbarkeit, symbolisiert in 12  15 Zentimeter hohen Figurinen mit großen Brüsten. Deren große Blütezeit war das späte 7. Jahrhundert vor Christus, als so gut wie jeder judäische Haushalt...

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