Da das Thema der Bilanzierung latenter Steuern sich als komplex erweist, werden in diesem Kapitel zunächst die theoretischen Grundlagen der Steuerabgrenzung dargelegt. Hierbei wird der Zweck sowie die Funktionsweise der latenten Steuern erläutert und auf die verschiedenen Ermittlungskonzepte und Abgrenzungsmethoden eingegangen.
Latente Steuern haben ihren Ursprung in der unterschiedlichen Ermittlung des handelsund steuerrechtlichen Jahresergebnisses aufgrund abweichender Gewinnermittlungsvorschriften. So führen steuerrechtlich abweichende Ansatz- und Bewertungsregeln ggü. der Handelsbilanz zu Differenzen zwischen den beiden Rechenwerken[20]. Die Folge ist, dass der in der handelsrechtlichen Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) ausgewiesene Steueraufwand nicht in einem sinnvollen Zusammenhang zum handelsrechtlichen Vor- Steuer-Ergebnis steht. Dem Gewinnausweis in der Handelsbilanz steht also entweder ein zu hoher oder zu niedriger Steueraufwand, in Relation zum Steuersatz, gegenüber. Ist der Steueraufwand aus handelsrechtlicher Perspektive zunächst zu hoch und bei Umkehrung der Differenz zu niedrig, wird dies durch die erfolgswirksame Bildung eines aktiven latenten Steuerpostens ausgeglichen. Per Saldo wird dadurch in der GuV ein geringerer Steueraufwand, bestehend aus tatsächlichen und latenten Steuern, ausgewiesen [21]. Für den umgekehrten Fall, dass der aus der Steuerbilanz übernommene Steueraufwand aus handelsrechtlicher Perspektive zu niedrig ist, ist eine passive latente Steuer zu bilden. Diesen Zusammenhang soll das nachfolgende Beispiel[22] verdeutlichen:
Beispiel 1:
Die A-AG erwartet aus einem schwebenden Geschäft einen Verlust i.H.v. 750.000 €, für das das Unternehmen zum Bilanzstichtag gem. § 249 Abs. 1 S. 1 HGB eine Rückstellung für drohende Verlust aus schwebenden Geschäften in entsprechender Höhe passiviert. Da die Bildung einer solchen Rückstellung steuerrechtlich gem. § 5 Abs. 4a S. 1 EStG nicht zulässig ist, ist das zu versteuernde Einkommen in der Steuerbilanz um 750.000 € höher. Ohne Berücksichtigung dieses Sachverhalts erzielte die A-AG ein vorläufiges Ergebnis i.H.v. 1.800.000 €. Der Steuersatz des Unternehmens beträgt 30%.
Die folgende Tabelle zeigt das Missverhältnis zwischen dem Steueraufwand und dem handelsrechtlichen Ergebnis auf, sofern keine latenten Steuern berücksichtigt werden.
Tab. 1: Missverhältnis zwischen Steueraufwand und Handelsbilanzergebnis bei Nichtberücksichtigung latenter Steuern
In diesem Fall wird der Steueraufwand unkorrigiert aus der Steuerbilanz in die Handelsbilanz übernommen und vermittelt dem Bilanzleser daher ein fehlerhaftes Bild der Ertragslage des Unternehmens. Die Steuerquote von 51,43% steht in keinem plausiblen Zusammenhang mit der tatsächlichen Steuerbelastung i.H.v. 30%. Dieses Missverhältnis wird durch die Bildung einer aktiven latenten Steuer ausgeglichen.
Tab. 2: Korrektur des Missverhältnisses zwischen Steueraufwand und Handelsbilanzergebnis durch Bildung latenter Steuern
Im Ergebnis wird durch die Bildung der aktiven latenten Steuern in der handelsrechtlichen GuV ein Steueraufwand abgebildet, der sich ergeben hätte, wenn das Vor-Steuer- Ergebnis der Handelsbilanz Steuerbemessungsgrundlage gewesen wäre. Da die nach dem Vorsichtsprinzip gebildete Rückstellung für schwebende Geschäfte eine gewisse
Eintrittswahrscheinlichkeit aufweist, kann die oben dargestellte aktive latente Steuer in der Handelsbilanz auch als zukünftige Steuerentlastung gesehen werden, sollte der zugrunde liegende Sachverhalt tatsächlich eintreten.[23]
Das Beispiel hat gezeigt, dass latente Steuern zwei wesentliche Funktionen besitzen. So dient die Bilanzierung latenter Steuern einerseits der periodengerechten Erfolgs ermittlung, da der „richtige“ Steueraufwand, d. h. der mit dem handelsrechtlichen Ergebnis korrespondierende und nicht der auf Basis der Steuerbilanz berechnete Steueraufwand, in der Handelsbilanz ausgewiesen wird. Der Steueraufwand wird durch die Bildung latenter Steuern in der Bilanz berichtigt. Andererseits sind latente Steuern zur Beurteilung der Vermögens- und Finanzlage des Unternehmens von Bedeutung, da sie Informationen über voraussichtlich künftige Steuerbe- oder -entlastungen vermitteln. So signalisieren aktive latente Steuern eine zukünftige Steuerentlastung und passive latente Steuern eine künftige Steuerbelastung. Latente Steuern haben allerdings keine Wirkung auf die tatsächlichen Steuern, sondern stellen „lediglich“ einen reinen Informationsposten dar.[24]
Konzeptionell kann die Ermittlung latenter Steuern sowohl nach dem Timing-Konzept als auch nach dem Temporary-Konzept erfolgen. Im Folgenden sollen die beiden wesentlichen Konzepte der Steuerabgrenzung dargestellt werden.
Nach dem Timing-Konzept wird die Steuerabgrenzung aus einer GuV-orientierten Sichtweise vorgenommen[25]. Der konzeptionelle Grundgedanke basiert hierbei auf einem Vergleich der Jahresergebnisse nach Handels- und Steuerrecht, d. h. die Ergebnisdifferenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz, die sich im Zeitablauf in der jeweiligen Ergebnisrechnung wieder umkehren, werden erfasst. [26] Nach dem Timing-Konzept werden lediglich solche zeitlichen Differenzen in die Steuerabgrenzung einbezogen, die sich sowohl bei der Entstehung als auch bei der Auflösung in der GuV auswirken. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass erfolgsneutral entstandene Differenzen[27] bei der Ermittlung latenter Steuern keine Berücksichtigung finden, da aus solchen Differenzen im Zeitpunkt ihrer Entstehung keine Abweichung zwischen dem steuerpflichtigen Einkommen und dem handelsrechtlichen Ergebnis resultieren[28]. Nach h. M. wird ein Ansatz latenter Steuern beruhend auf quasi-permanenten Differenzen[29] abgelehnt. Permanente Differenzen[30] sind ebenfalls zu vernachlässigen.[31]
Zielsetzung des Timing-Konzeptes ist ein periodengerechter Erfolgsausweis. Um diesem Periodisierungsgedanken gerecht zu werden, ist eine Korrektur in Form einer Steuerabgrenzung vorzunehmen, sofern zeitlich begrenzte bzw. temporäre Ergebnisdifferenzen bestehen. In der GuV soll dazu ein Steueraufwand ausgewiesen werden, der mit dem handelsrechtlichen Ergebnis im Einklang steht[32]. Nach dem Timing-Konzept soll durch Bildung latenter Steuern eine Kongruenz zwischen dem tatsächlichen Ertragsteueraufwand - basierend auf der Steuerbilanz - und dem fiktiven Steueraufwand, der mit dem handelsrechtlichen Ergebnis korrespondiert, bezweckt werden[33]. Latente Steuern lassen sich daher als Differenz zwischen dem tatsächlichen Steueraufwand einer Periode und dem Steueraufwand definieren, der resultieren würde, wenn der handelsbilanzielle Erfolg die Basis für die Steuerberechnung bilden würde.[34]
Bei dem Temporary-Konzept erfolgt die Steuerabgrenzung aus einer bilanzorientierten Sichtweise[35]. Aus diesem Grund führen prinzipiell sämtliche Bilanzierungs- und Bewertungsdifferenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz zu einer latenten Steuerabgrenzung, sofern durch diese Differenzen eine zukünftige Steuerbe- oder -entlastung resultiert. Zur Ermittlung latenter Steuern im Rahmen dieses Konzeptes sind jedem handelsrechtlichen VG die entsprechenden, nach steuerlichen Vorschriften ermittelten, Steuerbilanzwerte gegenüberzustellen. Dieser Vergleich ist ebenfalls für Schuldposten und Rechnungsabgrenzungsposten (RAP) vorzunehmen.[36] Nach dem Temporary-Konzept werden auch solche Differenzen zwischen den Wertansätzen erfasst, die erfolgsneutral entstanden sind. Des Weiteren ist die Zeitdauer bis zur Umkehrung der Differenzen nicht relevant und somit erfolgt ebenfalls eine Berücksichtigung quasi-permanenter Differenzen. Kein Gegenstand der Steuerabgrenzung sind hingegen permanente Differenzen[37]. Entscheidend für die Steuerabgrenzung ist das Vorhandensein von Bilanzdifferenzen und nicht von Ergebnisdifferenzen.[38] Ziel des Temporary-Konzeptes ist der korrekte Ausweis gegenwärtiger Steuerminderungsansprüche und -verbindlichkeiten ggü.dem Fiskus und damit verbunden eine zutreffende Darstellung der Vermögenslage[39].
Ein Vergleich zwischen Timing- und Temporary-Konzept zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf, die vor allem auf der unterschiedlichen Zwecksetzung der Systeme beruhen. Während das Timing-Konzept auf eine periodengerechte Erfolgsermittlung abzielt, verfolgt das Temporary-Konzept das Ziel, einen zutreffenden Vermögensausweis zu gewährleisten. Daher werden auf der einen Seite GuV-orientierte Differenzen zwischen Handels- und Steuerbilanz betrachtet, die sich in Entstehung und Umkehrung in der GuV niederschlagen, während auf der anderen Seite der bilanzorientierte Charakter des Temporary-Konzeptes dadurch zum Ausdruck kommt, dass jeder VG, RAP bzw. jede Schuld seinem steuerlichen Wert...