I.
Was dürfen wir von Christus erhoffen?
Mit ihrer letzten Antwort haben Sie schon zur Frage nach Christus hingeführt. Er stellte sich als derjenige vor, der die Hoffnung des Volkes Israel zur Vollendung bringen sollte. Wie verbindet sich diese Hoffnung mit der christlichen? In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar Sätze des Oberrabbiners von Rom, Riccardo di Segni, zitieren. Er beklagte sich heftig über die Aussage der Familiensynode, mit Christi Kommen und der Erlösung „endete die von Moses eingeleitete Ära“. Riccardo di Segni erklärte: „Mit einer gewissen Härte in Form und Substanz kommen die Bischöfe daher, um heute uns, die wir der Torah des Moses folgen, zu sagen, dass wir in der Sünde wären und dass unsere Ära zu Ende ist. Wie schwierig ist doch der Dialog!“ Hat Christus der Hoffnung des Volkes Israel ein Ende gesetzt?
Die Geschichte des Volkes Israel ist die Geschichte der Offenbarung Gottes. Den Gott, der sich offenbart, bekennen die Juden als Schöpfer aller Menschen und zugleich als Urheber der Erwählung des Volkes Israel. Die Hoffnung der Juden fußt auf dem machtvollen Wirken Gottes, der über sie gewacht, sie gerettet und ihnen eine noch größere Rettung versprochen hat. Diese Hoffnung nimmt unterschiedliche Formen an. So hofft man beispielsweise auf eine volle Gottesgegenwart in einem neuen Tempel wie auch auf das Kommen eines Messias aus dem Hause Davids, welcher der Welt den vollkommenen Gottesfrieden bringen wird. Die Propheten haben außerdem verkündet, dass sein Kommen das Menschenherz verwandeln wird, sodass es dem Bund treu bleibt und zu einer neuartigen Gottesliebe fähig wird.
Wir Christen glauben unsererseits, dass dieses jahrhundertelange Warten auf unübertreffliche Weise erfüllt wurde, als der Gott Israels seinen Sohn sandte, der Fleisch annahm und Mensch wurde für uns. Der Sohn, der dem Volk Israel von Generation zu Generation versprochen wurde, ist gleichzeitig der ewige Sohn Gottes. Die volle Gegenwart Gottes, die das Volk Israel erhoffte, ist im auferweckten Leib Jesu, in diesem endgültigen Tempel Gottes, geschehen. Dennoch kann man nicht behaupten, die Messiaserwartung der Juden sei gegenstandslos, denn, wie die Päpstliche Bibelkommission einmal sagte, „sie kann für uns Christen ein starker Ansporn sein, die eschatologische Dimension unseres Glaubens lebendig zu erhalten. Wir, wie sie, leben von der Erwartung“ (Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel 21). Im Bewusstsein um das „reiche gemeinsame geistliche Erbe von Christen und Juden“ (vgl. Nostra aetate 4) wissen wir, dass sich die neue Religion im Leib eines Menschen, in Christus und in seinem Liebesopfer verwirklicht und dass das Gesetz endlich ins Menschenherz eingeprägt wurde, wie es die Propheten erwarteten. Nichts des Vorherigen wurde verworfen: Alles wurde im Licht einer überreichen Erfüllung gerettet.
So ist die Person Jesu das Kriterium der Unterscheidung des Judentums vom Christentum. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Religionen. Trotzdem ist es nötig, den fruchtbaren interreligiösen Dialog zu vertiefen, den wir Christen mit unseren jüdischen Brüdern aufrechtzuerhalten berufen sind und der beeindruckende Resultate gezeitigt hat sowohl auf unserer Seite, zum Beispiel in dem schon zitierten Text Nostra aetate, als auch auf jüdischer Seite mit dem Dokument Dabru emet, verfasst im Jahr 2000 von 220 Rabbinern und Intellektuellen in Vertretung aller Zweige des Judentums. Dieser Dialog befasst sich nicht nur mit einzelnen politischen oder kulturellen Problemen, sondern vor allem mit theologischen Fragestellungen. Bei der 14. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode vom 4. bis 25. Oktober 2015, gemeinhin als „Familiensynode“ bekannt, hat keiner der Bischöfe behauptet, das göttliche Gesetz, der Dekalog, die Psalmen oder die Gegenwart des Gottesworts, die wir in allen Büchern der jüdischen Bibel finden, seien überholt oder abgeschafft. In Wirklichkeit schätzt der Christ dieses Gesetz sehr hoch: Es ist ein Geschenk Gottes für das Volk Israel und für das Volk des Neuen Bundes, ein Licht, das unser Wirken ermöglicht. Gewiss, es wäre eine schwere Beleidigung für die Juden, wollte man das Gesetz aus dem christlichen Leben ausschalten oder es als übermäßige Belastung auffassen; es wäre jedoch vor allem ein Angriff auf die christliche Wahrheit. Das Gesetz verschwindet also nicht durch den Glauben an Jesus; vielmehr wird es, wie der hl. Paulus schreibt, im Licht des vollkommenen Gesetzes der Liebe neu interpretiert (vgl. Röm 13,8–10). Wenn die Synode sagt, das Zeitalter Mose sei zu Ende, darf man dies nicht als Geringschätzung des Gesetzes deuten, sondern nur als Bestätigung des Umstands, dass dieses Gesetz zur Erfüllung gelangt ist. Jesus betont: „Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, … Ich [aber] sage euch …“ (Mt 19,8–9). Er kommt auf die Worte des Schöpfers zurück und wirkt als offenbartes Wort Gottes, als echter Interpret des göttlichen Willens. Die genannte „Ausnahme“ hat insofern Sinn, weil Jesus die Hartherzigkeit überwunden und damit ein neues Volk eingesetzt hat, in dem es möglich ist, die Güte des Anfangs der Schöpfung zu leben. Die Kirche – als Organismus und als Volk, in ihrer vollen Sichtbarkeit, in ihrer gesellschaftlichen Präsenz, in ihren Institutionen und in ihrer Ordnung – kann nur die von Christus eingesetzte Ordnung widerspiegeln. Er hat die Hartherzigkeit überwunden.
Wir Christen anerkennen, respektieren und schätzen unsere jüdischen Wurzeln. Bei seinem historischen Besuch in der Synagoge von Rom am 13. April 1986 sagte der hl. Johannes Paul II., die Juden seien „unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder“. Papst Benedikt XVI. hat bei der Abfassung des zweiten Teils von Jesus von Nazareth3 seinerseits erhebliche exegetische Bemühungen unternommen, um einige Passagen aus dem Matthäusevangelium zu erläutern, die viel zur Verschlechterung unserer Beziehungen zum Judentum beigetragen haben. Schließlich, im Juni 2015, betonte Papst Franziskus, dass unsere beiden Gemeinschaften eine Verpflichtung übernommen haben: „‚Ja‘ zur Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln des Christentums; ‚Nein‘ zu jeder Form von Antisemitismus“. Wenige Wochen später, am 25. September 2015, betete der Papst in der St. Josephs-Universität der Jesuiten in Philadelphia und segnete dort die Skulptur „Synagoge und Ecclesia in unserer Zeit“; es berührte uns alle, als er von der „Reise der Freundschaft“ sprach, die Juden und Christen seit 1965, also seit der Erscheinung des Dokuments Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils, gemeinsam unternehmen. Hier muss man, meine ich, die besondere Art und Weise von Papst Franziskus, mit diesem Thema umzugehen, würdigen. Weithin bekannt ist ja seine persönliche, während seiner Amtszeit als Erzbischof von Buenos Aires begonnene und nun als Papst weitergeführte Freundschaft mit bedeutenden Juden, wie dem Rabbiner Abraham Skorka, dem Rektor des Lateinamerikanischen Rabbinerseminars in seiner Heimatstadt. Die Empathie, die uns seine Treffen vermitteln, und die eindrucksvollen Bilder seiner brüderlichen Umarmungen bestätigen eindeutig, dass wir mit den Juden nicht nur einige Werte und historische Erinnerungen teilen, sondern den gleichen Gott der Heilsgeschichte des gleichen auserwählten Volkes. Der Gott, auf den wir Christgläubigen hoffen, ist derselbe, auf den die Juden hoffen, zu dem sie beten und dem sie ihr ganzes Leben verpflichten.
Das tiefere Geheimnis Christi ist ja der Vater, auf den Er alles bezog. Das moderne Zeitalter hat die Vatergestalt Gottes abgelehnt und auf diese Weise versucht, sich von Traditionen zu befreien, um eine neue Zukunftshoffnung zu schaffen. Dennoch sieht es so aus, als habe Jesus seine Hoffnung gerade in der ursprünglichen Offenbarung, also in der Person seines Vaters verankert. Kann man sagen, dass die Hoffnung und die Befreiung, die Jesus bringt, seine Hoffnung auf den Vater ist? Was können wir vom Vater erhoffen, gerade jetzt in einer Zeit der Krise, in die das Vaterbild gekommen ist?
Zunächst muss man sagen, dass Christus selbst die Hoffnung auf den Vater lebte. Christus erwartete viel vom Vater. Sein ganzes Leben bestand aus der Einheit mit dem Vater und aus dem Gehorsam zum Heilsplan des Vaters. Was Christus an erster Stelle erhoffte, war, dass der Vater die von ihm angenommene Menschlichkeit zur Erfüllung führe: Er hoffte, der Vater werde ihn mit der Herrlichkeit, die dem Gottessohn eigen ist, verherrlichen. Für sich selbst hoffend, hoffte Jesus auch für uns, denn die Menschennatur, die er angenommen hatte, war die unsere, es war unser eigenes Fleisch, und so hat er sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt (vgl. Gaudium et spes 22). Jesus hoffte, der Vater werde die Welt von der Sünde befreien und sie mit ewigem Leben erfüllen.
Unsere Berufung besteht nun in der Anteilnahme (in allen Dimensionen unseres Lebens) an der Sohnschaft Jesu. Jeder Mann und jede Frau ist Adressat der ewigen Liebe Gottes. Nachdem der Mensch der Sünde verfallen war, hat der Gottessohn aus Liebe in diese sündige Welt eintreten wollen, in diese Welt der Verzweiflung, der Despotenherrschaft, der Ausschaltung des Schwächeren. Gott trat in die vom Bösen und von Hochmut beherrschte Welt ein; sie war unterdrückt vom Fürsten dieser Welt, wie wir in den großen Prologen des Johannesevangeliums, des Kolosser- und des Epheserbriefs wie auch im Hymnus des Philipperbriefs nachlesen können. Der Ewige wurde im Zeitlichen gegenwärtig, der Unendliche im Endlichen, um das Zeitliche und das...