ERSTES KAPITEL
Eine traurige frühe Jugend
Warum die beiden Kinder die Natur lieben, während sie sich von den Menschen gequält fühlen
Als im Sommer 1823 die Geheimrätin Kohlrausch aus Berlin und die Fürstin von Hohenzollern im böhmischen Marienbad Johann Wolfgang von Goethe kennenlernen, sind sie sehr erstaunt. Der Vierundsiebzigjährige sieht viel schöner und jugendlicher aus als auf allen Altersporträts. Kein Wunder, denn er selbst fühlt sich gerade temporär verjüngt durch die Liebe zur neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow, die sich mit ihrer Mutter ebenfalls in Marienbad aufhält. Doch von dieser letzten Liebe Goethes haben die beiden Damen nichts gewusst, als sie den berühmten Dichter ins Gespräch zu locken versuchen. Er ist recht wortkarg, und meist bemerkt er nur, obwohl mit abwechselndem Tonfall und reizvoller Bedeutungsvielfalt: «Wunderlich genug!» Man kommt auch auf Frau Kohlrauschs Heimatstadt zu sprechen. Ist der Herr Geheimrat schon einmal in Berlin gewesen? Goethe verneint es. Doch als man später über den gemeinsamen Bekannten Wilhelm von Humboldt redet, der sich nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 1820 in die Einsamkeit seines Familienschlosses Tegel nahe Berlin zurückgezogen hat, fällt es ihm wieder ein: «Ach ja, da haben wir einst einen frohen Tag verlebt.» Gelassen kommentiert Goethe seine Erinnerungslücke. «Da sehen Sie, wie man sich doch zuweilen verschnappt.»1 Dann wird er ernst und bricht das Gespräch ab. Man merkt, dass er an seinen einzigen Berliner Aufenthalt nicht gern erinnert werden will. Oder ärgert er sich über seine Vergesslichkeit?
Es ist ihm also zunächst nicht bewusst, was er einst erlebt hat. In seinem Tagebuch hat er es festgehalten. Es ist im Mai 1778 gewesen. Eine diplomatische Mission hat Goethe, der seit 1776 als Geheimer Legationsrat in alle politischen Händel am Weimarer Hof verwickelt war, mit dem damals noch sehr jungen Herzog Karl August von Sachsen-Weimar in die preußische Hauptstadt geführt. Inkognito, als ein Herr von Ahlefeld, ist der Herzog, begleitet von seinem Jugendfreund Kammerherr von Wedel und Goethe, nach Berlin und Potsdam gereist. Mit König Friedrich II., dem «Alten Fritz», musste über Sachsen-Weimars politische und militärische Position im Bayerischen Erbfolgekrieg verhandelt werden, der zwischen Preußen und Österreich unmittelbar bevorstand. Am 15. Mai war man in Potsdam angekommen. Es waren keine günstigen Eindrücke, die Berlin während der nächsten Woche auf Goethe machte. Das ungeheure Gewimmel von Menschen, Pferden, Wagen und Geschützen beunruhigte ihn. Er saß an der Quelle des Krieges «in dem Augenblick, da sie überzusprudeln droht»2.
Ein wenig Entspannung versprach die kleine Tagesreise am 20. Mai 1778, über die Goethe stichwortartig notierte: «Von Berlin um 10 über Schönhausen auf Tegeln. Mittags Essen. Über Charlottenburg nach Zehlendorf. Nachts 11 in Potsdam.»3 Er war also wirklich in Tegel gewesen, und Jahrzehnte später wird die Erwähnung des Namens «Wilhelm von Humboldt» ihn daran erinnern, hier einen frohen Tag verlebt zu haben. Das war der Anlass für jene kurze Geschichte, die oft kolportiert worden ist und auch in zahlreichen Biographien über die Brüder Humboldt ihren festen Platz gefunden hat: Goethe habe Wilhelm 1778 in Tegel besucht, «aber dieser war noch ein junger Mann, und zählte noch nicht unter die Nobilitäten»4. Ausführlicher hat es Julius Löwenberg in der dreibändigen wissenschaftlichen Biographie Alexander von Humboldt, Leipzig 1872, ausgemalt: «Auch Goethe war im Mai 1778 bei seiner einmaligen Anwesenheit in Berlin als Gast in Tegel eingekehrt. Sein guter Genius führte den Dichter aus seinem Misbehagen in dem märkischen Athen zu Fuss über Schönhausen und Tegel nach Potsdam. Im tegelschen Schlosse hielt er Mittagsrast, als wäre er angezogen von dem geistigen Zauber der Stätte, auf der Wilhelm und Alexander, damals noch elf- und neunjährige Knaben einer ihm verwandten Generation, zu seinen Füssen spielten.»5 Da kann man sehen, wie sich auch Historiker zuweilen «verschnappen» und ihrer Phantasie freien Lauf lassen.
Dass der alte Goethe in seinem Marienbader Kurgespräch den Namen Humboldt mit seiner Reise nach Berlin und Tegel assoziiert hat, ist allerdings nicht erstaunlich. Denn beide Brüder haben in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, seit ihren Begegnungen und wissenschaftlichen Gesprächen, die im Dezember 1794 in Jena ihren Anfang nahmen. Sie haben ihm oft, wie er in mythologischer Anspielung auf das unsterbliche Zwillingspaar Castor und Pollux schrieb, als «Dioskuren auf meinem Lebenswege geleuchtet»6, Alexander mit seinen breitgefächerten Naturforschungen, die auch Goethes naturkundliche Arbeiten oft in Schwung gebracht haben, und Wilhelm mit seinen ästhetischen und literarischen Reflexionen.
Doch für ein frohes Zusammentreffen mit den Brüdern bereits im Mai 1778 spricht weder ein verlässlicher Tatsachenbericht, noch gibt es überzeugende Indizien. Goethe selbst ließ unbestimmt, wen er mit «wir» gemeint hat. War der Herzog mit ihm in Tegel gewesen? Und warum hat er überhaupt an diesem 23. Mai einen Tagesausflug nach Tegel unternommen? Man weiß es nicht. Vielleicht hatte er in Friedrich Nicolais populärer Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam gelesen, dass zu den Sehenswürdigkeiten der umliegenden Gegend auch das Dörfchen Tegel gehört. An einem mehr langgestreckten als breiten Gewässer, das den Havel-Fluss ausweitete, lag dieser kleine Ort im Amt Schönhausen, und dicht daneben befand sich ein Schlösschen mit einem «schönen Garten und Weinberg, deren Lage sehr reizend ist. An der anliegenden Kette von Anhöhen, die sämtlich mit Bäumen bepflanzt sind, hat man mannigfaltige Spaziergänge und an vielen Orten reizende Aussichten über den Tegelschen See nach Spandau und den anliegenden Orten.»7 Vor allem für seine Bäume war auch der Tegeler Wald berühmt, in dem der Forstrat Friedrich August von Burgsdorf nicht nur umfangreiche Baumschulen für einheimische Gewächse angelegt hatte, sondern auch zahlreiche fremde, vor allem nordamerikanische Holzarten auf märkischem Sandboden zu kultivieren versuchte. Diese Hinweise könnten für Goethe verlockend gewesen sein, war er doch selbst seit dem Frühjahr mit der Neugestaltung des Weimarer Landschaftsgartens am «Stern» und des Tiefurter Parks beschäftigt. Vielleicht war an diesem kleinen Flecken Tegel, draußen vor den Toren der sich in Aufregung und Unruhe befindenden Stadt, etwas zu sehen, das er für seine botanischen Zwecke nutzen könnte. Aber vielleicht hat Goethe sich auch nur durch Nicolais Empfehlung nach Tegel locken lassen, dass man dort in einem guten Wirtshaus, dem «Neuen Krug», ausgezeichnet speisen könne, «daher oft, von Berlin aus, hieher Spazierfahrten geschehen. Die Mahlzeiten müssen vorher bestellt werden.»8
«Mittags Essen», hielt Goethe fest. Den Namen «Humboldt» erwähnte er nicht. Er war also um 10 Uhr morgens aufgebrochen, hatte das Oranienburger Stadttor bald hinter sich gelassen und sich in nordwestlicher Richtung auf den beschwerlichen tiefsandigen Weg begeben, der die Menschen und Tiere nur langsam vorwärts kommen ließ. Der Sand um Berlin war staubartig. Über den Bach Panko wird er gekommen sein, dann durch die ausgedehnten Fichten- und Kiefernwälder, die man damals noch «Heide» nannte, durch die Jungfern-Heide, die Heiligensee’sche und Spandauische Stadt-Heide. Wie eine Urlandschaft streckte sich dann der lange breite Ausläufer der Havel vor ihm hin, mit seinen vielen Inseln, dann noch ein Wiesengrund, durch den sich ein Bach schlängelte, der eine Mahl- und Sägemühle antrieb. Auf der einen Seite dieses Mühlenbaches lag das kleine Tegel, auf der anderen konnte man auf einem Schildchen am Waldrand lesen: «Das Schlösgen».
Beschreibungen und Zeichnungen des Schlösschens zu Tegel vermitteln uns ein Bild dieses Ortes, an dem die Brüder Humboldt die meiste Zeit ihrer Kindheit und Jugend verbracht haben. Vom Bach führte ein angenehm schattiger Zugang zum alten Gebäudekomplex, damals zentriert um einen kräftigen Turm, an den sich rechtwinklig ein zweistöckiges Wohnhaus und ein Wirtschaftsflügel anschlossen. Dazu gehörte auch ein landwirtschaftlicher Gutshof. Ein Ziehbrunnen sorgte für den Wasserbedarf, Scheune und Stall beherbergten Futter und Tiere, und seitab lag das bescheidene Weinmeisterhaus, dessen Bewohner sich um die Weinstöcke kümmerten, die auf eingezäunten Hügeln in der Nähe angepflanzt worden waren. Trotz des sandigen Bodens war der Tegeler Wein durchaus zu genießen, auch wenn er ein «etwas krätziges Tischgetränk»9 gewesen sein soll.
Vor allem im Sommer hielt sich die Familie Humboldt, der das Gut und das Schloss seit 1766 gehörten, an diesem landschaftlich schönen Ort auf, während sie im Winter das Berliner Stadthaus bevorzugte. Und während es sehr unwahrscheinlich ist, dass am 20. Mai 1778 der damals elfjährige Wilhelm und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alexander zu Goethes Füßen gespielt haben, so ist gewiss, dass es vor allem die natürliche Umgebung Tegels war, in der sie sich gern herumtrieben. Nicht ohne Wehmut haben sie sich später an den befreienden Eindruck erinnert, den diese Natur auf ihr kindliches Gemüt gemacht hatte.
Am schönsten hat Wilhelm von Humboldt die Tegeler Landschaft seiner Verlobten Caroline von Dacheröden geschildert, als er ihr ein Bild des Ortes zu vermitteln versucht, an dem er groß...