I.
Erbschaften: Der Erste Weltkrieg und das lange 19. Jahrhundert Europas
In der Erinnerung war es ein strahlender Sommer. Die Kinder planten für das Wochenende zusammen mit ihren Freunden aus der Nachbarschaft ein Stück aufzuführen, das sie aus Gustav Schwabs bekannter Sammlung der Sagen des klassischen Altertums kannten: Die Büchse der Pandora erzählte in der Form einer antiken Parabel von der Rache des antiken Göttervaters Zeus an Prometheus, nachdem dieser den Göttern das Feuer gestohlen hatte. Hephaistos, der Gott der Schmiedekunst, musste Zeus daraufhin die lebensgroße Gestalt einer Jungfrau anfertigen, die von allen übrigen Göttern mit vielen Gaben ausgestattet wurde, um den Menschen Unheil zu bringen. Zeus selbst führte Pandora, die «Allbeschenkte», zu Prometheus’ Bruder Epimetheus. Obwohl von seinem Bruder gewarnt, nie ein Geschenk der Götter anzunehmen, um Schaden von den Menschen abzuwehren, nahm Epimetheus Pandora bei sich auf: «In ihren Händen trug sie ihr Angebinde, eine goldene Büchse von erlesener Arbeit, die mit einem Deckel versehen war. Sacht hob sie den Deckel von dem Gefäß – und in dem gleichen Augenblick entflog diesem ein Schwarm von Übeln und verbreitete sich im Nu über die ganze Erde. Ein einziges Gut nur war zuunterst in der Büchse verborgen: die Hoffnung. Aber auf Eingebung des Göttervaters schloss Pandora, ehe jene entweichen konnte, rasch den Deckel. Und nun erfüllte das Elend in allen Gestalten Erde, Luft und Meer; allerlei Fieber belagerten die Erde, und der Tod, der vordem die Sterblichen nur langsam beschlichen hatte, beflügelte seinen Schritt.»[1]
Die Kinder fieberten der Aufführung ihres Stückes entgegen. Doch wurde die Generalprobe am Samstag, dem 1. August 1914, schon in eigens geschneiderten Kostümen im sommerlichen Garten des Ferienhauses, von dem Kinderfräulein der Familie unterbrochen: «Zieht euch nur wieder aus, ihr könnt heute nicht Theater spielen, der Krieg ist ausgebrochen.» Die ratlosen Kinder fanden ihre Eltern auf der Terrasse, die Mutter konzentriert Zeitung lesend, während der Vater, «den in sich gekehrten Blick ins Weite gerichtet» und nicht ohne eigene Theatralik, den Moment kommentierte: «Nun wird wohl auch gleich ein feuriges Schwert am Himmel erscheinen.» So jedenfalls erinnerten es die Kinder. Es war die Familie von Thomas Mann, die den Sommer in ihrem idyllisch gelegenen Ferienhaus in Bad Tölz verbrachte. Am Nachmittag des 1. August 1914 hatte das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt. Eigenartig kam den Kindern vor, wie ihr Vater sich in diesem Moment an Leo Tolstoi erinnerte, den Schriftsteller und Repräsentanten einer radikalen Gewaltlosigkeit, der 1910 gestorben war: «‹Merkwürdig›, erklärte er, ‹aber wenn der Alte noch lebte, – er brauchte gar nichts zu tun, nur da zu sein, auf Jasnaja Poljana, – dies wäre nicht geschehen, – es hätte nicht gewagt, zu geschehen›.»[2]
Vier Jahre und drei Monate später, im November 1918, sollte Thomas Mann in seinem Tagebuch den Zusammenbruch jener Ordnung kommentieren, in der er selbst aufgewachsen, von der er tief geprägt, dessen Chronist er mit den Buddenbrooks geworden war: die Ordnung der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, ihrer Werte und Symbole, die im November 1918 in einer doppelten Welle aus Revolution und Kriegsniederlage zusammenzubrechen schienen. Das markierte etwas anderes als einen bloßen Wechsel der politischen Staatsform. Lakonisch wird seine Eintragung vom 9. November 1918 klingen, in der er auf die durch den langen Krieg längst ausgehöhlte Ordnung hinweisen wird, deren Ende ihn im Spätjahr 1918 nicht mehr überrascht: «Alles in Allem habe ich ziemlich kaltes und nicht weiter unwilliges Blut. Revolutionen kommen erst, wenn sie gar keinen Widerstand mehr finden (auch bei dieser war es so) und eben dies Fehlen beweist, dass sie natürlich und berechtigt sind. Die alten Machthaber sind im Grunde froh, ihre Macht, die keine mehr war, los zu sein, und es ist zuzugeben, dass ihre Autorität der Lage, wie sie ist und demnächst sein wird, nicht gewachsen wäre.»[3]
Was war der Erste Weltkrieg? Im Wissen um seine Konsequenzen erscheint er als prägender Auftakt, als elementare Krise und frühzeitiger Umbruch des noch jungen 20. Jahrhunderts.[4] Bereits die miterlebenden Zeitgenossen suchten unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges nach angemessenen Bezeichnungen, um das Neuartige, das Ungeheuerliche, das Ausgreifende des Ereignisses zu erfassen: Britische Zeitgenossen sprachen vom «Great War», Franzosen von der «Grande Guerre» und deutsche Beobachter vom «Weltkrieg», oder sie betonten wie Ernst Jünger wenige Jahre später seinen universellen, ja revolutionären Charakter als Umbruch: Hier sei «der Krieg nicht die Ausmündung, sondern die erste Tatsache der Revolution. An ihm – als Tatsache – kommt niemand vorbei, jedes Sein ist durch ihn gerichtet und bestimmt, wie es ideologisch sich auch immer zu ihm stellen möge».[5] Dagegen sind heutige Etiketten – die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts», die «Krise der Moderne», der «Zivilisationsbruch», der Auftakt zu einem zweiten «Dreißigjährigen Krieg» zwischen 1914 und 1945 oder der Beginn einer Phase, in der Europa zu einem «dunklen Kontinent» der Gewalt wurde – erst aus der rückblickenden Erkenntnis von Konsequenzen formuliert, die kein Zeitgenosse im August 1914 erahnen konnte.[6] Denn die beispiellosen Gewalterfahrungen des Weltkrieges endeten nicht mit den formalen Friedensschlüssen nach 1918, sondern setzten sich in Europa und der ganzen Welt im Namen neuartiger und radikaler Ideologien fort und steigerten sich noch. Das ließ den Krieg zur Epochenwende werden, die auch den Zeitgenossen nach 1918 bewusst war. Für Thomas Mann rührte die «hochgradige Verflossenheit» der Geschichte vor 1914, die er in seinem Roman Der Zauberberg widerspiegelte, der Zwang, in der Erzählung auf die «Zeitform der tiefsten Vergangenheit» zurückzugreifen, daher, «dass sie vor einer gewissen Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt», eben in der «Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.»[7] Der tiefe Bruch wurde zum prägenden Merkmal – ob in stilisierten Kindheitserfahrungen oder als Orientierungspunkt einer Generation, die nach 1918 die Konsequenzen des Krieges erfuhr.[8] Im Neuen Vorwärts schrieb der SPD-Politiker Dittmann im Dezember 1937: «Das Deutschland der Vorkriegszeit ist für die heutige Generation fast eine terra incognita, ein unbekanntes Land, so sehr hat der Krieg den Zusammenhang zwischen dem Vorher und dem Nachher zerrissen.»[9]
Dieser Krieg markierte nicht nur eine bisher ungeahnte quantitative und qualitative Gewaltsteigerung mit annähernd zehn Millionen getöteten Soldaten und annähernd sechs Millionen getöteten Zivilisten, eine bis dahin völlig unbekannte Dimension von Opferzahlen, eine nie dagewesene Mobilisierung von Gesellschaften und Medien, von Ökonomien und Finanzen, von Deutungen und Rechtfertigungen des Krieges, sondern auch einen tiefgreifenden Umbruch in der Bedeutung unterschiedlicher Weltregionen und zumal im Gewicht Europas in der Welt.[10]
Was war der Erste Weltkrieg? Wer den Krieg verstehen will, muss nachvollziehen, auf welche Welt dieser Konflikt traf, auf welche Erfahrungen und Erwartungen. William Gladstone, als liberaler Premierminister Großbritanniens eine der prägenden Figuren des Viktorianischen Zeitalters, wurde 1809 geboren und starb 1898. Hatte er als Kind die Kanonenschüsse von Edinburgh Castle anlässlich der Abdankung Napoleons gehört, so lauschte er am Ende seines Lebens seiner eigenen aufgezeichneten Stimme und lernte auch noch das neu erfundene Telefon als Kommunikationsmittel des 20. Jahrhunderts kennen.[11] Die ungeheure Veränderungsdynamik und Spannung des 19. Jahrhunderts, die historische Brücke in die Zeit vor 1800 und in die Vorgeschichte der Gegenwart, war hier innerhalb eines Menschenlebens konzentriert, in dem das Jahrhundert gleichsam biografisch abgebildet war. Wie lässt sich dieses Erbe des langen 19. Jahrhunderts charakterisieren, und was bedeutete der Erste Weltkrieg für es?
(1) Das Leitmotiv der Emanzipation bestimmte das 19. Jahrhundert. Sie prägte bei allen regionalen Unterschieden die Konsequenzen des demografischen Wachstums, indem immer größere Bevölkerungsteile mobilisiert wurden, indem sich die industriewirtschaftliche Produktionsweise durchsetzte und sich die auf Rechtsprivilegien beruhende Ständegesellschaft in eine komplexe Klassengesellschaft verwandelte. Der soziale Ort des Individuums wurde immer stärker durch soziale und wirtschaftliche Kriterien bestimmt. Zum Erbe des 19. Jahrhunderts gehörten vor diesem Hintergrund die Erfahrung wirtschaftlichen Wachstums und das Ideal nicht nur der politischen Gleichheit als Bürger, sondern auch der sozialen Gleichheit, so etwa in den immer wieder aufflammenden Konflikten um die Durchsetzung einer Republik als Staatsordnung mit sozial definierten...