II. «Christus in uns»
Grundlagen in der Bibel und den ersten Jahrhunderten des Christentums
1. Paulus
In der Theologischen Realenzyklopädie, dem wichtigsten repräsentativen Lexikon der deutschsprachigen Theologie, findet man unter dem Stichwort «Mystik» vier Unterpunkte: «religionsgeschichtlich», «kirchengeschichtlich», «systematischtheologisch» und «philosophisch». Vergleicht man diesen Aufriss mit anderen Artikeln desselben Standardwerkes, so fällt das Fehlen einer eigenen Thematisierung des biblischen Befundes auf. Dies gibt der lange Zeit vorherrschenden Deutung der Nachkriegstheologie insbesondere im Protestantismus Ausdruck. Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Albert Schweitzer eine große Abhandlung über Die Mystik des Apostels Paulus abfassen konnte, wurde aufgrund der theologiegeschichtlichen Entwicklung der folgenden Jahrzehnte zunehmend der Gedanke einer Verbindung der biblischen Grundlagen des Christentums mit mystischen Vorstellungen verdrängt und das Neue Testament deutlich in einen nichtmystischen Deutungshorizont hineingestellt. Inzwischen ist die Forschungslage hier etwas entspannter. Nicht nur ein Blick auf Paulus selbst, sondern auch die verstärkte Hinwendung zu seinen jüdischen Wurzeln spielt bei dieser Wahrnehmung in der Forschung eine Rolle. Im frühen Judentum hat man nämlich inzwischen zunehmend Ansätze zu mystischer Frömmigkeit und Theologie gefunden. So nimmt man an, dass die in Qumran gefundenen Sabbatlieder, die ausführliche Beschreibungen der himmlischen Hierarchien enthalten, auch dazu dienen sollten, eine nicht präziser zu fassende Gemeinschaft mit den Engeln zu bewirken, die durchaus als Transzendenzüberschreitung zu fassen wäre, wie sie oben als konstitutiv für Mystik festgestellt wurde. Zudem wird auch deutlich auf die Bedeutung des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.–ca. 45 n. Chr.) verwiesen, über den platonische Motive ins hellenistische Judentum und vielleicht bis zu Paulus gelangt sein können – und Plato ist und bleibt die wichtigste philosophische Instanz für jede Form christlicher Mystik. Religionsgeschichtlich wäre eine «Mystik des Apostels Paulus» also kaum eine Überraschung.
Freilich wäre es auch nach dem oben vorgetragenen weiten Begriff von Mystik verkürzt, das Neue Testament insgesamt als mystisch oder auch nur den Apostel Paulus einfach als «Mystiker» zu deuten. Doch lassen seine eigenen zurückhaltenden Hinweise auf Transzendenzerfahrungen – die Entrückung in den dritten Himmel und das Paradies (2. Korinther 12,2–4) – wenigstens fragen, ob die Späteren tatsächlich nur einem Irrtum aufgesessen sind, als sie in seinem Werk Anhaltspunkte für mystisches Denken fanden. In der Tat spielen nämlich eine Fülle von Bildern und Aussagen aus den Briefen des Paulus für spätere christliche mystische Texte eine ganz entscheidende Rolle. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Wandlung, die der Mensch durch die Taufe erfährt:
Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. (Römer 6,3–4)
Dieses neue Leben wird dann auch durch Formeln, die geradezu einen mystischen Identitätswechsel auszudrücken scheinen, beschrieben:
Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben hat. (Galater 2,20)
Solche Aussagen machen deutlich, dass es für spätere Autoren genug Anhaltspunkte gab, Formulierungen des Apostels Paulus als mystisch zu verstehen, auch wenn diese Formulierungen vermutlich zunächst nur eine allgemeine Bestimmung der christlichen Existenz bedeuteten, nach der Deutung von Hans-Christoph Meier etwa so viel wie «bestimmt von Christus».
Insofern sind diese Aussagen wohl nicht von so fundamentaler Bedeutung für eine Zuordnung des Paulus zur Mystik, wie Albert Schweitzer noch meinte, doch hat er selbst eine Spur zu ihrer Einordnung gelegt. Wiederholt hat er auch in seinem Mystik-Buch die Bedeutung der Nähe des Endes für Paulus herausgestrichen: Paulus war offenkundig überzeugt, dass noch zu seinen Lebzeiten der auferstandene Jesus Christus wiederkehren werde und die Glaubenden in seiner Nachfolge der Auferstehung teilhaftig werden würden (1. Thessalonicher 4,15). Er ging davon aus, dass die Nähe des Endes schon jetzt das Verhalten der Menschen bestimmen sollte: Angesichts der Nähe des Endes sollten «auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine» (1. Korinther 7,29). Lebensgestaltung war angesichts des in Christus schon vollzogenen Anbruchs des Endes nicht mehr in normalen Kategorien zu erfassen, sondern sie war grundlegend verändert, ja es gab neben der futurischen Eschatologie, der Erwartung des Zukünftigen, Aspekte einer von der heutigen Forschung so genannten «präsentischen Eschatologie», die die zukünftige Wirklichkeit schon jetzt erfahrbar machte. Eben hier ist der eigentliche Ort der mystisch eingefärbten Aussagen des Paulus.
Zu den Kennzeichen des Endes gehörte nach den alttestamentlichen Erwartungen die Ausgießung des Geistes (Joel 3,1) – und die frühen Christen waren der Meinung, dass genau dies sich in ihrer Zeit erfüllte (Apostelgeschichte 2,17f. 33). Vor diesem Hintergrund sprach Paulus in einer leichten Abwandlung davon, dass die Liebe Gottes durch den Heiligen Geist in die Herzen der Gläubigen ausgegossen sei (Römer 5,5). Das Ende war schon angebrochen, auch wenn sein letzter Vollzug noch ausstand. Paulus lebte in einer deutlichen Spannung zwischen schon vollzogener Wirkung des Endes und noch zu erwartender voller Erfüllung der Hoffnungen, und es ist diese Spannung, die seine Aussagen trägt. Tatsächlich sind viele Aussagen bei ihm auf den einzelnen Glaubenden bezogen – etwa auch die zum Wohnen des Geistes in den Glaubenden (Römer 8,9–11). Aber so, wie hier der Plural steht, also jeder einzelne im Rahmen seiner gemeindlichen Gemeinschaft angesprochen ist, so kann Paulus gerade bei denjenigen Aussagen, die die Nähe Christi ausdrücken, zwischen Einzelnem und Gemeinde wechseln: Nicht nur der einzelne Glaubende ist Tempel Christi (1. Korinther 6,19), sondern auch die ganze Gemeinde (ebd. 3,16f.): Dass der Geist Gottes in den Glaubenden wohnt, ist ein Kollektivphänomen, und es ist ein Phänomen, das nichts mit einer bestimmten Anlage des Menschen zu tun hat, sondern es ist Ausdruck einer den Menschen verwandelnden neuen Zeit, die alles umgestaltet. Die ganze Situation des glaubenden Menschen ist durch Jesus Christus eine neue geworden: Statt verloren zu sein, ist er gerettet (1. Korinther 2,15; 4,3), statt in der Finsternis lebt er im Licht (1. Thessalonicher 5,4–5). Paulus spricht also nicht wie die oben genannten christlichen mystischen Schriftsteller von punktuellen Durchbruchserfahrungen, er spricht auch nicht, wie wir weiter unten noch sehen werden, von Seelenbestandteilen, die den Menschen immer schon mit Gott verbinden und nur freigelegt werden müssen, sondern er spricht von der Veränderung der gesamten Seinswirklichkeit der Menschen im Angesicht des Endes.
Am stärksten ist die hierdurch bewirkte Nähe zu Christus wohl in dem Bild vom Leib Christi ausgedrückt, das sich bezeichnenderweise auf die Gemeinde, also die Gemeinschaft der Glaubenden, bezieht:
Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft (…) Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied. (1. Korinther 12,12f. 27)
Das Bild dient dazu, die unterschiedlichen Gaben innerhalb der Gemeinde in ein rechtes Verhältnis zueinander zu setzen. Es argumentiert also mit der Metapher des Organismus, die auch in politischen Zusammenhängen für ein Gemeinwesen verwendet werden konnte. Der Bezug auf die Geistesgabe und die Taufe unterstreicht aber, dass Paulus mehr bieten will als eine bloße Metapher: Die Gemeinde ist tatsächlich Leib Christi und wird als solcher durch Christus selbst konstituiert.
Die Aussagen, die es erlauben, bei Paulus einen Anhaltspunkt für mystische Formulierungen zu finden, haben ihre Basis also in einer ganz bestimmten Konstellation: Es ist die Nähe des schon angebrochenen Endes, die die Gemeinschaft der Glaubenden durch den Geist umgestaltet und den Einzelnen in die neue Seinswirklichkeit hineinnimmt. Verschiedene Charakteristika, die oben als kennzeichnend für Mystik genannt wurden, treffen hier also nicht zu. Denn es geht nicht um die Vorwegnahme des Endes im Einzelnen, sondern der reale, wenn auch noch unvollständige Beginn für alle wird in den Blick genommen, und dies in radikaler Weise. Vor allem aber ist das, was Paulus beschreibt, gerade nicht ein besonderer Moment innerhalb der christlichen Existenz, sondern konstituiert überhaupt erst die neue Seinswirklichkeit, in die der Christ mit der Taufe eintritt. Ein Mystiker, mystischer Theologe oder Mystagoge also war der...