II. Politik I: 1940/41
Ausgangspunkt: Europa im Juli 1940
Schon früh, im Juni 1940, schien der Zweite Weltkrieg fast entschieden. Zumindest die Landkarte Europas musste das suggerieren. Die deutsche Wehrmacht hatte ihre Gegner förmlich überrannt – Polen (1.9.–6.10.1939), dann Norwegen und Dänemark (9.4.–10.6.1940) und schließlich Westeuropa (10.5.–22.6.1940). In Polen und Skandinavien hatte es sich im Grunde um Vorfeldkämpfe gehandelt, kaum aber bei der deutschen Offensive im Westen. Nach dem ebenso schnellen wie überraschenden Sieg über die vereinigten Armeen Frankreichs, Belgiens, der Niederlande sowie ein britisches «Expeditionskorps» schien das Ende des Kriegs nahe. Frankreich, der große deutsche Angstgegner des Ersten Weltkriegs, war besiegt und besetzt, Großbritannien auf seine Inseln zurückgetrieben. Zwar hatte es noch das Gros seiner Landstreitkräfte gerettet, zumindest die Soldaten, auch verfügte es über eine der stärksten Kriegsmarinen der Welt, eine moderne Luftwaffe sowie über die schier unerschöpflichen Ressourcen des Commonwealth, politisch aber blieb das Inselreich vorerst isoliert. Im Sommer 1940 war es Hitlers letzter Gegner, und es war deutlich angeschlagen, nicht nur psychologisch. Der europäische Kontinent stand nun fast vollständig unter deutscher Herrschaft.
Diese Herrschaft hatte sich in kürzester Zeit etabliert. Noch gut fünf Jahre zuvor waren die Grenzen des Deutschen Reichs so verlaufen wie zu Zeiten der Weimarer Republik. Entsprechend eng waren die Spielräume der deutschen Außenpolitik gewesen; ihre Ziele beschränkten sich zunächst auf die Revision des Versailler Friedensvertrags, etwa auf die Wiedervereinigung des Saarlands mit dem Deutschen Reich (Januar 1935) und die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch die Wehrmacht (März 1936). Das waren nicht mehr als territoriale Korrekturen innerhalb des deutschen Machtbereichs. 1938 sollte sich das ändern. Mit dem recht störungsfreien «Anschluss» Österreichs im März und der schon etwas dramatischeren Annexion des Sudetenlands im September/Oktober 1938 konnte das nationalsozialistische Deutschland erstmals seine Grenzen ausdehnen. Beides ließ sich noch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker begründen, wie es der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs propagiert hatte. Dass aber Hitler nicht in diesen Dimensionen dachte und auch nicht in den Grenzen und Traditionen des Bismarck-Reichs, zeigte sich schon wenig später, im März 1939: Die Besetzung der sog. «Rest-Tschechei», die nun als «Protektorat Böhmen und Mähren» firmierte, war eine brutale Okkupation, und sie war ein Wendepunkt, denn spätestens jetzt mussten die Westmächte erkennen, dass ihre Politik, die auf Beschwichtigung, Ausgleich, auf «Appeasement» setzte, endgültig gescheitert war. Ihre Garantieerklärungen für die Staaten Osteuropas wurden von Hitler indes ignoriert. Als er kurz darauf auch Polen territorial, vor allem aber politisch zu erpressen suchte, ließ er Großbritannien und Frankreich keine andere Wahl. Auf den deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 folgten zwei Tage später die britische und die französische Kriegserklärung. Damit hatte für das Deutsche Reich etwas begonnen, was sein «Führer» schon lange geplant und vorbereitet hatte – die Eroberung von «Lebensraum» mit kriegerischen Mitteln.
Im Juli 1940 schien diese Etappe fast schon abgeschlossen, zumindest in Europa. Betrachtete man die Landkarte jedoch genauer, so war rasch zu erkennen, wie heterogen der deutsche Machtblock in Wirklichkeit war. Es gab Gebiete, die von den Deutschen regelrecht besetzt waren, vollständig oder zum Teil (Böhmen und Mähren, Polen, Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich), es gab verbündete (Sowjetunion, Italien, seit November 1940 Rumänien und Ungarn, seit März 1941 Bulgarien), befreundete (Finnland, Rumänien, Spanien) oder weitgehend abhängige Staaten (Slowakei), während die Zahl der neutralen Mächte bis zum Sommer 1941 kontinuierlich schrumpfte. Nach dem Balkanfeldzug und der deutsch-italienischen Besetzung von Jugoslawien und Griechenland (6.4.–23.4.1941) blieben nur noch wenige «Inseln» in Europa von Krieg und Gewaltherrschaft verschont: die Schweiz, Schweden, Irland, Portugal und die Türkei, und selbst sie waren einem wachsenden Druck der deutschen Politik ausgesetzt.
Auf fast ganz Europa konnte das nationalsozialistische Deutschland damals zugreifen, und entsprechend groß war sein militärisch-ökonomisches Potenzial. Widerstand gab es kaum. Zumindest die Offensivkraft Großbritanniens war vorerst erschöpft, während sich die europäischen Widerstandsbewegungen noch organisieren mussten. Das Lebensgefühl der europäischen Besatzungsgesellschaften war damals meist auf «l’attentisme» gestimmt, auf ein vorsichtiges Abwarten. Für Hitler und seine Anhänger waren das denkbar günstige Voraussetzungen. Er stand im Sommer 1940 im Zenit seiner Macht, und viel schien dafür zu sprechen, dass sich das ungeheure Risiko des von ihm entfesselten Kriegs offenbar doch gelohnt hatte.
Hitler: Ideologie und Strategie
Für die sprunghafte Ausdehnung der deutschen Macht in Europa finden sich viele Erklärungen – politisch-militärische, gesellschaftliche und auch historische. Am überzeugendsten aber scheinen in diesem Fall die biographischen. Denn eigentlicher Motor dieser Entwicklung war ein Einzelner, Adolf Hitler (1889–1945). Natürlich bündelten sich in seiner Biographie viele überpersönliche Tendenzen, Ressentiments und Sehnsüchte. Aber zutreffend ist auch, dass sich Hitler bis Sommer 1940 in eine Situation manövriert hatte, in der er als unangefochtener Oberster Kriegsherr so frei wie nie zuvor und nie mehr danach die großen Linien der deutschen Strategie festlegen konnte. Seine Macht und seine Möglichkeiten waren ungeheuer groß, und entsprechend war auch der Einfluss, den er nun wie nur wenige auf die Weltpolitik nehmen konnte.
Doch war auch er äußeren Zwängen ausgesetzt. Drei Faktoren waren für ihn am gefährlichsten: Großbritannien, das Commonwealth und Winston Churchill (1874–1965). Dieser war am 10. Mai 1940, am Tag des deutschen Angriffs im Westen, britischer Premierminister geworden, und es war – wie Joachim Fest meisterlich formuliert hat –, «als habe das in seine komplizierten Einverständnisse mit Hitler verstrickte und tief defätistisch gestimmte Europa mit diesem Mann seine Normen, seine Sprache und seinen Selbstbehauptungswillen wiedergefunden». Früher und deutlicher als viele seiner Zeitgenossen hatte Churchill erkannt, dass der Nationalsozialismus nicht nur sein Land oder Europa infrage stellte, sondern im Grunde die ganze bestehende Weltordnung. Und wie kaum ein Staatsmann vor ihm war Churchill bereit und auch fähig, sich den scheinbar unüberwindlichen deutschen Eroberern zu widersetzen, mit allen nur denkbaren Mitteln, notfalls auch unter Preisgabe des gesamten britischen Empire. Erst Churchills Widerstandswille und erst die Bereitschaft der britischen Gesellschaft, seiner Politik des «Sieges um jeden Preis» zu folgen, zogen die entscheidende Grenze, an der sich die unersättliche deutsche Eroberungsgier brach. Es war eine einsame Entscheidung, ohne den Rückhalt wirklicher Verbündeter. In seinen Memoiren hat Churchill die Überschrift über dieses wahrscheinlich entscheidende Kapitel des Zweiten Weltkriegs auf ein einziges Wort beschränkt: «alone». Es war in der Tat «the finest hour» – nicht nur für Churchill.
Für Hitler ergaben sich daraus gleich mehrere Probleme, machtpolitische und weltanschauliche. Stets hatte er auf ein Bündnis zwischen Deutschland und Großbritannien gehofft, die sich als kongeniale «germanische» Partner die Weltherrschaft zu Lande bzw. zur See und in Übersee teilen sollten. Doch hatte er schon vor 1939 einsehen müssen, dass solche Ideen in der britischen Welt nur wenig Freunde fanden. Ebenso wirkungslos blieb nun Hitlers «Friedensappell» an Großbritannien (19.7.1940), sodass in seinem Verständnis der Welt jetzt nichts anderes mehr übrig blieb, als die ebenso verhasste wie bewunderte Seemacht zum Frieden zu zwingen. Die drei Ansätze, auf die die deutschen Strategen in den kommenden Wochen setzten: ein verschärfter Luftkrieg gegen die Britischen Inseln als Vorbereitung zu deren Invasion, dann ein umfassender U-Boot-Krieg gegen die britischen Geleitzüge im Atlantik und schließlich ein wachsendes Engagement im Mittelmeerraum, führten indes zu keiner Entscheidung. Trotz aller Opfer und Anstrengungen hatte sich bis Jahresende 1940 am strategischen Patt in Europa nichts geändert. Noch lag die Initiative bei Deutschland. Bei den überwältigenden Reserven des britischen Commonwealth und langfristig auch der USA war indes abzusehen, dass die Zeit für seine Gegner arbeiten würde.
Aber Hitler war nicht bereit, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Anstatt den Krieg zu begrenzen oder ganz zu beenden, wollte er ihn ausweiten. Was er nun...