Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes stand zunächst die Phase der politischen Säuberung und des Neuaufbaus in allen Besatzungszonen an. Dennoch entstand in beiden Nachfolgestaaten zunehmend die Notwendigkeit belastete Personen und Gruppen zu integrieren und den Deckmantel des Schweigens über die Verbrechen der NS-Vergangenheit zu legen. Vergangenheitsbewältigung fand erst auf der Basis der jeweils neugewonnen politischen Stabilität in Ost und West statt. Nun war bereits eine neue Generation „Unbelasteter“ herangewachsen, die zur systematischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bereit war, diese teilweise sogar forderte. Doch auch diese „unbelastete Generation“ konnte für sich keine Position des neutralen Beobachters oder Schiedsrichters beanspruchen, da der Nationalsozialismus das zentrale Bezugsereignis für das Selbstverständnis aller Generationen der beiden deutschen Staaten war und es gewissermaßen bis heute ist.[9]
Erst zehn Jahre nach der Gründung beider deutscher Teilstaaten geriet die nationalsozialistische Vergangenheit in den Mittelpunkt des deutsch-deutschen Kräftemessens. Während sich die DDR selbst als antifaschistisches Staatswesen betrachtete, dem es gelungen war, die Grundlagen des Nationalsozialismus zu beseitigen, erschien die Bundesrepublik aus dieser Perspektive als „Staat der Mörder“. Jene wiederum figurierte die DDR als totalitäres System, das mit dem NS-Regime grundlegende Strukturen gemeinsam hatte, während sie selbst eine freiheitliche Demokratie aufbauen konnte. Zwischen den späten fünfziger Jahren bis hin zur allmählichen Annäherung beider Staaten, Ende der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre, war die NS Vergangenheit das brisanteste Thema ihres Abgrenzungs- und Verflechtungsverhältnisses. [10]
Das Wechselverhältnis zwischen BRD und DDR durchlief während dieser Zeit mehrere Entwicklungsstufen. Teilweise entstanden ähnliche Vergangenheitsdiskurse, andererseits aber auch sehr unterschiedliche Diskussionskulturen, die jedoch immer aufeinander Bezug nahmen.[11]
Der Historiker Norbert Frei entwickelt ein Dreiphasenmodell zur Vergangenheitsbewältigung in den beiden deutschen Teilstaaten.
Die erste Phase grenzt er in den Zeitraum 1945-1948/49 ein. Diese Phase, so Frei, sei zwar in allen Besatzungszonen von säuberungspolitischen Initiativen der Besatzungsmächte dominiert gewesen, Ost und West entwickelten sich aber schnell in verschiedene Richtungen. Während „bürokratische Säuberung“ im Westen vorgenommen wurde, erklärt Frei die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zur „instrumentalisierten politischen Säuberung“.
Die zweite Phase, 1948/1949 bis Ende der Fünfziger, habe dann ein paralleles Phänomen der Bewältigung der frühen Bewältigung[12] hervorgebracht. Beide Staaten setzten nun auf Integration der zuvor ausgegrenzten Gruppen, da sie erkannt hatten, dass dies notwendig war um die breite Masse in das jeweilige neue Staatskonzept einzubinden. Dieses Phänomen wurde durch das Bedürfnis mit der NS-Vergangenheit abzuschließen verstärkt. Gesetze zur Entlastung der „kleineren NS-Täter“ stellten die Weichen zum Einbezug ehemaliger Nazis in die neue Gesellschaft.
Die dritte Phase der Vergangenheitsbewältigung begann, nach Frei, Ende der fünfziger Jahre. Die mediale Erfassung der unbewältigten Vergangenheit zwang vor allem die Bundesrepublik eine Stellung zur eigenen Kontinuitätsproblematik einzunehmen. Die historisch-moralische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wurde in der BRD Ende der Sechziger besonders wichtig, während es in der DDR zur Erstarrung des antifaschistischen Geschichtserinnerungskonzepts kam.[13]
Beide deutschen Staaten mussten die Vergangenheit aufarbeiten, Schuldige, Mitläufer und Opfer des nationalsozialistischen Regimes definieren und sich als dessen Gegenkonzept öffentlich positionieren. In der DDR vollzog sich eine Verschiebung der Schuldzuweisung. Wurde vor der Staatsgründung noch von der Mitschuld des ganzen Volkes gesprochen und damit die Pflicht zur Haftung, insbesondere bezüglich der Reparationszahlungen an die UdSSR begründet, verlagerten sich die Akzente im neuen „antifaschistischen“ Staat. Kontinuitäten zum alten Reich sollte es nicht mehr geben. Durch oberflächliche politische Säuberung und gesellschaftliche Veränderung sagte man sich los von den Schatten der NS-Vergangenheit. Hierbei wurde nicht nur die Arbeiterklasse, sondern das gesamte Volk in die „antifaschistische Front“ eingereiht und von der Mittäter- in die Opferperspektive gerückt. Aus dem zuvor proklamierten „Irrweg der deutschen Nation“ wurde nun der „Irrweg der herrschenden Klasse“.[14]
Die Erinnerungskultur in der SBZ war anfänglich noch auf verschiedene Opfer- und Verfolgtengruppen ausgelegt. Erst mit der Staatsgründung der DDR erfolgte eine ganzheitliche Fokussierung auf parteipolitische Sonderinteressen der SED. Die zunächst von vielen verschiedenen politischen Lagern gehegte Hoffnung auf den antifaschistischen Neubeginn wurde zerschlagen. Nun begann die Neuordnung nach sowjetischem Muster.[15] Dies ließ die Dominanz der in die Sowjetunion emigrierten Führungskorps der KPD in der Politik der frühen DDR schnell offenkundig werden. Deren Elitebewusstsein und Gefühl der Überlegenheit berief sich ganz auf die Aussage, man habe nicht nur unter dem Nationalsozialismus gelitten, sondern diesen auch von Beginn an aktiv bekämpft. Die Funktionärkorps der KPD erklärten sich quasi zum Bestandteil der sowjetischen Militärmacht. Die Niederlage der KPD von 1933 und das Scheitern des Widerstandes in Deutschland wurden dann entsprechend umgedeutet.[16]
Ebenso entschieden nun kommunistische Kriterien über die Zuwendung von Fürsorgemaßnahmen. Gegenüber jüdischen Verbänden und Israel wurde eine Absage erteilt, mit dem Verweis auf die Diskontinuität der DDR zum NS-Regime und dem politisch-moralischen Nichtbetroffenseins am Holocaust. Die DDR sah in der Verpflichtung auf den Antifaschismus eine besondere Art der Wiedergutmachung. [17]
Die Geschichtswissenschaft wandte sich erst Anfang der sechziger Jahre der Erforschung der NS-Zeit zu. Bürgerliche Historiker, die noch bis in die fünfziger Jahre hinein lehrten wurden entfernt, von kommunistischer Seite gab es zunächst kaum Fachwissenschaftler. Die Neuinterpretation der Geschichte wurde folglich zur Parteisache erklärt. Forschung und Universitäten wurden neu strukturiert, wobei der Darstellung der NS-Zeit eine besondere ideologische Vorbereitung zuteilwurde. Jeder Abschnitt der NS-Vergangenheit sollte parallel zum „antifaschistischen Kampf“ stehen, um von Anfang an den Eindruck zweier Lager und Entwicklungsstränge zu vermitteln. Der Mythos des „verordneten Antifaschismus“ verhalf dazu, sich von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu entziehen.[18]
Jürgen Danyel, stellvertretender Direktor des Zentrums für Zeitgeschichte in Potsdam, schreibt dem „verordneten Antifaschismus“ sogar die Funktion einer Ersatzreligion zu. Diese Ersatzreligion habe über eine immense emotionale Bindekraft verfügt, die eine stärkere Identifikation der Bürger mit dem Staat erreichte, als alle anderen Elemente der SED-Ideologie. Der „antifaschistische Totenkult“, sprich die gefallenen kommunistischen Widerständler, erinnern Danyel an eine Art „Auferstehung“ der toten Märtyrer in der Gesellschaft des Realsozialismus.[19] Den Antifaschismus sieht der Geschichtswissenschaftler Danyel als simplen Gesellschaftsvertrag, der die DDR als Vaterland aller Deutschen die den Faschismus hassen und in Frieden leben wollen, erscheinen soll. Die weitgehend abstrakte und entdifferenzierte Erinnerung nivelliert die Individualität der Widerständler ganz bewusst, denn die Gruppe, das Kollektiv, soll die Botschaft vermitteln und Identifikationsmöglichkeiten für möglichst viele DDR-Bürger geben.[20]
Der Antifaschismus war Gründungskonsens und Sühneleistung in einem. Er ermöglichte einen relativ spannungsfreien gesellschaftlichen Integrationsprozess ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Die, auch in Ostdeutschland mehrheitsbildenden, Gruppe derjenigen, die den Nationalsozialismus toleriert und gestützt hatten, konnten somit ins neue Staatsystem einbezogen werden. Ihre Wiedergutmachungsleistung bestand an der Mitwirkung am sozialistischen Aufbau. Politisch-pragmatische Erwägungen siegten letztlich über die sozialistische Schlussstrichvariante, die eine radikale Säuberung aller Belasteter erfordert hätte. Als Schutzschild gegen die vermeintlichen imperialistischen Kriegspläne sollten möglichst viele Bürger in die neue Gesellschaft integriert werden. Auch deshalb war die Verschleierung bzw. Verallgemeinerung der Geschichte von Verfolgung und Widerstand so nützlich. Letztlich fungierte der Antifaschismus als Konsens über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, der für die Mehrheit des ostdeutschen Volkes akzeptabel sein sollte.[21]
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