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Die Dynamik des Tötens

Die Ermordung der Juden von Berditschew. Ukraine 1941-1944

AutorMichaela Christ
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
ReiheDie Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe« 
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783104013046
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion lebten im ukrainischen Berditschew (Berdychiv), einem legendären Zentrum jüdischen Lebens, rund 25000 Juden. Vier Monate später waren mindestens 18 000 von ihnen tot - erschossen von deutschen SS-Männern und Polizisten. Dieses Buch zeichnet detaillert den Prozess der Gewalt nach, seinen Beginn, den Ablauf und seine Folgen.

Michaela Christ studierte Soziologie, Politik und Pädagogik in Göttingen. Sie forscht am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen über massenhafte Gewalt im 20. Jahrhundert.

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Leseprobe

Einleitung


Geschichte der Stadt Berdyčiv[2]


Früheste Hinweise auf jüdisches Leben in Berdyčiv stammen aus dem 16. Jahrhundert. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte entwickelte sich die Stadt zu einem jüdischen Zentrum, religiös, kulturell und intellektuell. Bis heute besuchen Pilger das Grab Rabbi Levi Yitzchaks, eines berühmten chassidischen Gelehrten, der 1809 in Berdičev beerdigt wurde.[3] Deutschsprachige jüdische Zeitungen und Zeitschriften berichteten seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Rubrik Russland häufiger aus und über Berdičev. Ein Artikel aus der ›Allgemeinen Zeitung des Judenthums‹ aus dem Jahr 1844 gibt einen kleinen Einblick in das Leben dieser jüdisch geprägten Stadt, die zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 50 Synagogen zählte. Als dieser Artikel geschrieben wurde, war Berdičev zusammen mit Odessa, Kiew und L’viv eine der größten ›jüdischen‹ Städte der Ukraine. Rund 50 000 Einwohner/innen lebten dort, mehr als 90 Prozent von ihnen Juden.[4] »In Berditschew z.B., dem jüdischen Moskau, in welcher Stadt über 30 000 Juden wohnen, sind 9 Kaufleute der ersten, 12 der zweiten gegen 500 der dritten Gilde. Ferner gibt es Krämer, die mit Esswaren handeln. Einzelne widmen sich der Kunst, und ohne den Künstler aufzusuchen, um bei ihm zu lernen, verlieren sie Zeit und Geld, dieselbe aus sich selbst durch viele und nutzlose Versuche hervorzuzaubern, welches zwar äußerst selten, aber doch manchem gelingt. So gibt es Baumeister, Färber, 3 Graveure, 40 Juweliere, 6 Maler, 17 Uhrmacher, 30 Musikanten. – Andere gibt es, die ihre Bedürfnisse von der Feder ziehen; so gibt es Buchhalter und Korrespondenten in Komtoirs, manche sind in den, den Juden zugänglichen Ämtern beschäftigt und Viele ziehen ihre Nahrung vom Unterrichte der Jugend, teils in hebräischer, teils in europäischen Sprachen (218). Handwerker gibt es zusammen (außer Gesellen) über 4000, und zwar Gold- und Silberarbeiter, Kupfer- und Eisenschmiede 250, Messing- und Blecharbeiter 124, von dem Gouvernements-Physikate geprüfte Barbiere über 20, Strickmacher und Tabaksrohrbohrer 70, Riemer und Tapezierer 92, Schneider- und Bandagenmacher 598, Schuster 353, Tischler und Drechsler 204, Bäcker 90, weibliche Kopfputzmacher 16, Mattenmacher 13, Schnupf- und Rauchtabakzubereiter 56, Strick-, Stecknadel-, Knopf-, Bleifeder-, Zündhölzchen-, Bleiweißmacher, Franzenstricker, Seidenschnur- und Bandwirker, Buchbinder, Böttcher, Seifensieder, Ziegelbrenner; dazu noch viele Tagelöhner, als Fuhrleute, Maurer, Wasserträger, und sehr Viele, die mit der Axt, dem Strick und Spaten arbeiten. Ferner 112 Gastwirte mit größtenteils bequemen Einkehrhäusern; 200 Schenkwirte und Geldwechsler.«[5]

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in der Stadt ein jüdisches Gericht, Dutzende Gebetshäuser und Synagogen sowie ein jüdisches Theater, in dem regelmäßig andere Bühnen gastierten. Vor dem Ersten Weltkrieg in Berdičev gedruckte und verlegte Bücher und Zeitschriften auf hebräisch, jiddisch und russisch finden sich noch heute in vielen europäischen, US-amerikanischen und israelischen Bibliotheken. Alte Postkarten mit Straßenansichten zeigen auf zahlreichen Geschäftsschildern jiddische und hebräische Aufschriften. Nebeneinander existierten bis Ende der 1930er Jahre jüdische, russische und ukrainische Schulen. Das Leben in Berdičev war über Jahrhunderte von jüdischer Kultur und Tradition geprägt. In religiösen jüdischen Haushalten verrichteten nicht-jüdische Haushaltshilfen am Sabbat, wenn gemäß religiöser Vorschriften nicht gearbeitet werden durfte, als ›Schabbesgoj‹ die anfallenden Arbeiten: Sie zündeten Kerzen an, öffneten Briefe oder machten Feuer im Herd.

Infolge der politischen Umwälzungen nach der Oktoberrevolution 1917 hat sich das jüdische Leben in der Sowjetunion dramatisch verändert. Obwohl für Juden die gleichen Rechte galten wie für den Rest der Bevölkerung, blieben ihnen doch diejenigen Rechte vorenthalten, die anderen nationalen Gruppen zugestanden wurden. Juden fehlten, so die Argumentation zunächst Lenins und später Stalins, zentrale Merkmale einer nationalen Gruppe. Als solche Merkmale galten eine gemeinsame, historisch gewachsene Kultur und Sprache, eine geteilte Ökonomie und ein gemeinsames Territorium. Juden sollten sich daher an die sie umgebende Kultur anpassen.[6]

Bis zu den stalinistischen ›Säuberungen‹ von 1937/38, als viele Juden ihre Arbeitsplätze in staatlichen Behörden verloren, jüdische Schulen, Kulturvereine, Verlage und andere Institutionen geschlossen wurden, überdauerte in Berdičev allen dem Akkulturierungs- und Säkularisierungsdruck geschuldeten Schwierigkeiten zum Trotz einiges an jüdisch-kulturellem Leben.[7] In Häusern und Stadtteilen, in denen Juden und Nicht-Juden zusammenlebten, galt es nicht als ungewöhnlich, dass alle Bewohner/innen Jiddisch sprachen oder zumindest verstanden. Zeitungen und Bücher konnten weiterhin in jiddischer Sprache erscheinen und bis Mitte der 1930er Jahre wurden auch die Verlautbarungen des kommunistischen Regimes in Jiddisch publiziert.[8] Dies unter anderem deshalb, weil Jiddisch als Sprache des jüdischen Proletariats galt, Hebräisch hingegen als Sprache der Bourgeoisie angesehen und verboten wurde.[9] Mehrere Sprachen zu sprechen war in jüdischen Haushalten nichts Ungewöhnliches. Viele jüdische Zeitzeug/innen berichteten, dass sie zu Hause Jiddisch gesprochen hatten, in der Schule oder am Arbeitsplatz hingegen Russisch oder Ukrainisch. In gebildeten und besser situierten Familien sprach man darüber hinaus bisweilen Hebräisch oder auch Deutsch. Die deutsch- oder polnischstämmigen Einwohner/innen Berdičevs trugen das Ihre zur Sprachenvielfalt in der Stadt bei. Wie später gezeigt werden wird, wurden Sprachkenntnisse, nicht nur für Juden, während der deutschen Besatzung zu einer wichtigen Ressource.

Sprachenvielfalt und eine heterogene Bevölkerungsstruktur kennzeichneten die Stadt Berdičev und den umliegenden Bezirk Žytomyr genauso wie Armut und Gewalterfahrung. Der Erste Weltkrieg hatte auch hier ungeheure Menschenverluste, Zerstörungen und materielle Krisen verursacht. Es folgten Revolution und anschließend Bürgerkrieg, darauf stürzten Hungersnot und Zwangskollektivierungen große Teile der Bevölkerung in bittere Armut und existentielle Not. Ökonomische Ausbeutung, Unterdrückung, unmittelbare physische Gewalt, Hunger und landschaftliche Verwüstungen gingen miteinander einher oder wechselten sich ab. Nicht wenige Ukrainer/innen hofften während der 30er Jahre auf einen Angriff durch die Deutschen, als Befreiung aus verzweifelter Lage.

Juden litten neben den prekären Lebenssituationen zusätzlich unter antisemitischen Diskriminierungen und antijüdischen Pogromen – Gewalt ist ein durchgehendes Thema in der jüdischen Literatur dieser Gegend. Pogrome und andere Akte antijüdischer Gewalt etwa gaben in deutschsprachigen jüdischen Zeitschriften immer wieder Anlass, über Russland zu berichten.[10] Als Folge der großen Pogromwelle während der revolutionären Unruhen im Jahre 1905 zogen viele Juden aus kleineren, jüdisch geprägten Shtetln in größere Ortschaften, andere verließen Russland und wanderten in die USA oder nach Australien aus.[11] Ähnliches geschah, als sich antijüdische Angriffe ukrainischer Nationalisten, vor allem in den Jahren des Bürgerkrieges nach der Revolution 1917/18 häuften.[12] Das politische System in der Sowjetunion propagierte vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg eine atheistische Staatsdoktrin, in deren Folge antireligiöse, das heißt auch antijüdische Positionen, toleriert und zum Teil gefördert wurden.[13]

Bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges veränderte sich der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung Berdičevs noch durch eine zweite Wanderungsbewegung erheblich: Die Hungerkatastrophe der 1930er Jahre zwang viele Bewohner/innen ländlicher Regionen dazu, in den Städten nach Arbeit zu suchen. Stalins Versuch, die Landwirtschaft so schnell wie möglich zu industrialisieren und die im Zuge dessen durchgeführten Zwangskollektivierungen verursachten in der ganzen Sowjetunion eine verheerende Hungersnot. Am dramatischsten waren deren Auswirkungen in der Ukraine. Im Bezirk Žytomyr, in dem Berdičev gelegen ist, verhungerten fast 20 Prozent der ländlichen Bevölkerung oder starben an den Folgen der Unterernährung.[14] Zahlreiche, meist junge Ukrainer/innen, versuchten in den Städten, so auch in Berdičev, Arbeit zu finden.[15] Während 1926 noch rund 56 Prozent – das entspricht ungefähr 30 000 Menschen – der Berdičever Bevölkerung Juden waren, betrug ihr Anteil 1939 infolge dieser gesamtgesellschaftlichen Verschiebungen – Zuzug ukrainischer Bauern in die Stadt und gleichzeitige Auswanderung...

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