2. Siehe, der Bräutigam!
Die prophetische Rede des Herrn
In diesem Kapitel wollen wir einen Blick auf die große prophetische Rede unseres Herrn werfen, die Er auf dem Ölberg vor Seinen Jüngern gehalten hat (Mt 24 und 25). Sie bildet eine wichtige Grundlage für das Verstehen der prophetischen Zusammenhänge, wie sie uns besonders im Propheten Daniel und in der Offenbarung gegeben werden. Leider wird sie vielfach völlig missdeutet, und das hat zu viel Verwirrung und Unsicherheit unter Kindern Gottes geführt. Aber gerade die Unterscheidung der verschiedenen Themenkreise, die der Herr in dieser Rede berührt, ist zum Verstehen unseres Gegenstandes von so großer Bedeutung.
Die Gliederung der Rede
Es ist an dieser Stelle nicht meine Absicht, eine genaue Untersuchung der Rede des Herrn auf dem Ölberg zu geben, obwohl sie unbedingt eines sorgfältigen Studiums wert ist. Viele wichtige Einzelheiten enthält sie und auf manche von ihnen werden wir auch im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen zurückkommen. Zunächst jedoch ist es wichtig, mit der Hilfe des Herrn einen Überblick über das 24. und 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums zu erhalten. Daran anschließend wollen wir uns eingehender mit dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen beschäftigen, weil dieses Gleichnis direkt unseren Gegenstand berührt.
Ich bin überzeugt: Allein das Erkennen der Gliederung, oder wir können auch sagen, der Struktur der Rede des Herrn bedeutet einen großen Schritt vorwärts in dem Erfassen der Wahrheit Gottes überhaupt. Durch das Verstehen dieser Zusammenhänge werden wir in die Lage versetzt, die einzelnen prophetischen Ereignisse richtig einzuordnen und Nutzen daraus für unser praktisches Leben zu ziehen.
Der Herr Jesus spricht hier als der große Prophet Gottes, auf den schon Mose hingewiesen hatte (5. Mo 18,18). Es war ein überaus ernster Augenblick in der Geschichte Israels, als der Sohn Gottes hinaustrat und von dem Tempel hinwegging (Mt 24,1). Bedenken wir es: Nie mehr würde Seine Stimme in seinen Vorhöfen gehört werden! Jerusalem hatte seinen König verworfen! „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen; denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht:,Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!'“ (Mt 23,38.39), hatte der Herr dem jüdischen Volk und seinen Führern zurufen müssen. Vor diesem ernsten Hintergrund müssen wir Seine Darlegungen in diesen beiden Kapiteln sehen.
Die Jünger hatten Ihm voll Bewunderung die Gebäude des Tempels zeigen wollen. Doch Seine Antwort musste sie notwendigerweise befremden, wenn nicht beunruhigen: „Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird.“
Als sie dann auf dem Ölberg mit dem Herrn allein waren, stellten sie Ihm drei bedeutsame Fragen:
- Wann wird das sein?
- Was ist das Zeichen deiner Ankunft?
- Was ist das Zeichen der Vollendung des Zeitalters?
Der Herr geht in Seiner Antwort über das hinaus, was sie erfragt hatten. Das ist immer Seine Weise. Er gibt ihnen – und damit auch uns – einen großartigen Überblick über die zukünftigen Ereignisse, die Seinem Weggang folgen würden. Dabei geht Er von der damaligen Situation in Israel aus und entwickelt die Dinge bis hin zu der Zeit, wenn Er schließlich hier auf der Erde auf Seinem Thron der Herrlichkeit sitzen und das Reich nicht länger in einem Geheimnis, sondern in offenbarer Macht bestehen wird. Wir müssen jedoch beachten, dass die Jünger hier nicht als Christen vor dem Herrn Jesus stehen. Noch gab es das Christentum nicht. Nein, als Vertreter des gläubigen Überrests aus dem jüdischen Volk stehen sie vor Ihm. Als gläubige Juden hatten sie Ihn gefragt, und als Vertreter des jüdischen Überrests auch späterer Tage empfangen sie Seine Belehrungen.
Die Weissagung selbst hat drei große Abschnitte:
Der erste umfasst die Verse 1 bis 44 von Kapitel 24 und hat es mit den Juden zu tun. Drei Dinge sagt der Herr von ihnen voraus:
- die Bedrängnisse, die sie erdulden werden (V. 9);
- die Verführungen, denen sie ausgesetzt sein werden (V. 24);
- die Befreiung, die sie erfahren werden (V. 31).
Der zweite Teil erstreckt sich von Kapitel 24, Vers 45, bis Kapitel 25, Vers 30. In ihm geht es ausschließlich um Christen, die im Blick auf ihren abwesenden Herrn
- im inneren Bereich dienen (Kap. 24,45–51),
- auf Ihn warten (Kap. 25,1–13),
- im äußeren Bereich arbeiten (Kap. 25,14–30).
Der dritte Teil reicht von Vers 31 bis zum Ende des 25. Kapitels. In ihm kommen die Nationen vor uns. Sie werden danach beurteilt und gerichtet, ob sie die Sendboten des Königs
- aufgenommen (V. 34–40) oder
- verworfen (V. 41–46) haben.
Der jüdische Bereich
Im ersten Teil Seiner Weissagung beschreibt der Herr also den jüdischen Bereich. Dabei fällt besonders auf, dass Er die in zeitlicher Hinsicht darin eingebettete christliche Haushaltung, die Zeit der Kirche, vollständig übergeht. Er redet in diesem Sinn ganz nach der Weise des Alten Testaments. Erst nachdem Er die Aufeinanderfolge der prophetischen Ereignisse in dem jüdischen Bereich dargestellt und bis hin zur Ankunft des Sohnes des Menschen in Macht und Herrlichkeit entwickelt hat, kommt Er dann in dem zweiten Teil auf den christlichen Bereich zu sprechen. Dieser schließt zeitlich nicht etwa an das Ende des ersten, des jüdischen, an. Auch der dritte Teil, der es mit dem Gericht der lebenden Nationen zu Beginn des Tausendjährigen Reiches zu tun hat, schließt zeitlich nicht direkt an das Ende des zweiten Bereichs an. Eher schließt der dritte Bereich an das Ende des ersten an.
Es ist gut, das recht zu verstehen. Der Herr schildert die drei Bereiche jeweils getrennt für sich, damit wir den ihnen eigentümlichen Charakter klar erkennen mögen.[1] Aus diesem Grund gibt Er uns drei in sich selbst abgerundete, geschlossene Bilder. Die zeitliche Zuordnung der einzelnen Bereiche zueinander steht hier nicht im Vordergrund. Aus anderen Schriftstellen können wir sie erschließen. Aber selbst innerhalb der einzelnen Bereiche hält Sich der Herr bei der Darstellung der einzelnen Vorgänge nicht unbedingt an deren chronologische Reihenfolge. Das wird sofort deutlich, wenn wir uns nun dem ersten Bereich zuwenden.
Mit Vers 14 nämlich erreicht Er in Seiner Schilderung bereits die Zeit des Endes: „Dann wird das Ende kommen.“ Es ist zwar nur eine allgemein gehaltene Andeutung davon, bezieht sich dennoch klar auf das Ende – übrigens nicht das Ende der Welt, sondern des dann laufenden Zeitalters, wonach ja die Jünger auch gefragt hatten (V. 3). Aber ab Vers 15 greift Er dann wieder zurück (und zwar um einen Zeitraum von genau dreieinhalb Jahren, wie wir später sehen werden) und spricht von der Zeit der großen Drangsal Jakobs, die mit der Aufstellung des Gräuels der Verwüstung an heiligem Ort beginnen wird. Diese Zeit wird, wie schon angedeutet, dreieinhalb Jahre dauern und den Juden unvorstellbare Nöte bringen. Viele werden geärgert, viele verführt, viele verfolgt werden. Es wird viele falsche Christi, viele falsche Propheten, viele Verführer geben. Mit der Ankunft Christi in Macht und Herrlichkeit wird dann diese Gerichtsperiode ihren Abschluss finden.
Unsere besondere Beachtung verdient hier die Art der zurückgreifenden Schilderung, deren sich der Herr bedient. Sie findet sich wiederholt auch in der Offenbarung. Wir sollten uns deshalb gut mit ihr vertraut machen, denn das wird uns sehr zum Verständnis der jeweils vorgestellten Zusammenhänge helfen.
In diesem Teil Seiner Rede zeigt also der Herr Seinen Jüngern, was der Zustand der Welt nach Seinem Weggang und was ihre eigene Stellung während der Zeit Seiner Abwesenheit sein würde. Da ich im letzten Kapitel noch auf die eine oder andere Parallele zu dem hier Gesagten aufmerksam machen werde, darf ich mich jetzt auf diesen einen Punkt beschränken: zu zeigen, dass es in diesem ersten Bereich tatsächlich um Juden und nicht um Christen geht. Ich zitiere einfach einige Sätze oder Formulierungen des Herrn.
- „Ihr werdet von Kriegen und Kriegsgerüchten hören“ (Kap. 24,6).
Ist das die Sprache des Herrn für uns Christen? Hören wir an irgendeiner Stelle in den Briefen des Neuen Testaments, wo wir ja die christliche Lehre entfaltet finden, auch nur ein einziges Mal etwas Derartiges? Dem Apostel Paulus war die Offenbarung des Geheimnisses von Christus und der Versammlung anvertraut worden, er war sowohl der Diener des Evangeliums als auch der Diener der Versammlung (Kol 1,23–25). Warnt er uns irgendwo vor Kriegen und Kriegsgerüchten? Natürlich haben diese Warnungen des Herrn ihre Bedeutung, aber eben nicht für uns Christen, sondern für Seine Jünger aus dem jüdischen Volk.
- „Dies muss geschehen, aber es ist noch nicht das Ende“ (V. 6).
Auch dieses Wort steht im Gegensatz zu dem, was uns Christen gesagt wird: „... auf die das Ende der Zeitalter gekommen ist“ (1. Kor 10,11). Für uns Christen gibt es keine weiteren Haushaltungen Gottes mehr. Im jüdischen Bereich jedoch müssen noch viele Dinge geschehen, ehe das Ende kommt und damit der gläubige Überrest aus Juda in den Genuss der ihm zugedachten Segnungen...