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Die Entstehung der Geschlechterhierarchie

Als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts

AutorHelke Sander
VerlagVerlag Zukunft & Gesellschaft
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783000556890
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wie, wann und warum wurden Frauen zum zweiten Geschlecht? Über viele Jahrhunderttausende gab es in der sich entwickelnden Menschheit keine Geschlechterhierarchie. Jede und jeder sorgte für sich. Von einer natürlichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern kann keine Rede sein, sie ist erst das Ergebnis einer äußerst langen Entwicklungsgeschichte, an deren Anfang Lösungen standen, die hauptsächlich Frauen für neu entstandene und nur sie betreffende Probleme finden mussten In faszinierenden Rückblenden zeigt Helke Sander, dass und wie das Geschlechterverhältnis, wie wir es kennen, als unbeabsichtigte Nebenwirkung sozialer Folgen der Gebärfähigkeit und des Fellverlusts entstand.

Regisseurin und Autorin, Professorin an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, Mitbegründerin der neuen deutschen Frauenbewegung 1968. Bücher u.a.: Die Geschichten der drei Damen K. Oh Lucy BeFreier und Befreite Fantasie und Arbeit (zusammen mit Iris Gusner) Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten über das Altern Filme u.a. Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers Der subjektive Faktor Der Beginn aller Schrecken ist Liebe BeFreier und Befreite Die Deutschen und ihre Männer Dorf Mitten im Malestream - Richtungsstreits in der neuen Frauenbewegung

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Leseprobe

MENSTRUATION


1972 bot ich mein Filmprojekt »Rote Tage« verschiedenen Redaktionen des damaligen SFB (Sender Freies Berlin) an und scheiterte grandios. Sowohl die Feature/Dokumentar-Abteilung, in der ich den Film zuerst unterbringen wollte, wie auch die Frauen- und zuletzt die Gesundheitsredaktion winkten angeekelt ab. Um bei anderen Sendern vorzusprechen, fehlte mir das Geld. (Damals gab es nur das Erste, Zweite und für jedes Bundesland ein 3. Programm, das auch nur dort empfangen werden konnte).

Mit diesem Film wollte ich zum ersten Mal mein Interesse an Fragen zur Körpergeschichte mit meinem Beruf verbinden, ohne zunächst zu begreifen, dass dieses Thema direkt mit meinem schon vorher vorhandenen Interesse an der Urgeschichte verbunden war.

Ich stellte mir einen 90-minütigen Dokumentarfilm vor, in dem ich die verschiedenen Riten, Verbote, Sitten und Gebräuche, die sich weltweit um die Menstruation ranken, zusammentragen wollte, um Hinweise darauf zu finden, ob die auch heute noch erzwungene Isolierung vieler Frauen in vielen Ländern während dieser Tage nicht ursprünglich auf ihrem eigenen Willen beruhte und das Gegenteil einer Diskriminierung war, sondern selbst bestimmter Rückzug, der sich erst später gegen die Frauen wenden sollte. Es könnte ja auch sein, dachte ich damals, dass dieses einschneidende Ereignis irgendwann und irgendwo auch mal gefeiert wurde und das Selbstbewusstsein der Frauen stärkte, anstatt Minderwertigkeitsgefühle zu provozieren. Ich versuchte mich in das 11-jährige Mädchen von früher hinein zu versetzen, das von Krämpfen geschüttelt nach der Schule auf dem Sofa lag und spürte, wie sich immer wieder große Schleimbrocken lösten und von den mit Unmengen von Watte verstärkten Binden aufgenommen wurden. Ab und an gab es eine halbe Aspirin oder eine Wärmflasche, aber normalerweise hieß es nur, dass Kinderkriegen schlimmer sei. Ich kann mich an das Gefühl der Scham erinnern. Es drückte sich so aus, dass möglichst keine Fremden, vor allem kein Mann von diesem sich wiederholenden Zustand etwas erfahren sollten. Gleichzeitig genoss ich aber auch diesen Aufruhr des ganzen Körpers und verfasste sogar Gedichte darüber, die das Gefühl von Eingewachsensein in der Erde beschrieben. Ich konnte mir vorstellen, wie schön es sein müsse, in diesen Tagen einfach in Ruhe gelassen zu werden, um all den neuen Empfindungen nachzugehen. Zwar sprach kaum jemand über die Menstruation, sehr selten wussten wohl auch die Mütter mehr darüber, aber es gab doch eine Reihe von Regeln, die komischerweise allen Mädchen bekannt waren und die wir uns hin und wieder leise weitergaben: In dieser Zeit sollten wir uns weder die Haare waschen noch Marmelade kochen, und Katholikinnen durften nicht zur Kommunion gehen. Da die Klassen voller Flüchtlingskinder waren, steuerten die aus verschiedenen Regionen zusammen gewürfelten Ausgebombten, A-, B- oder C-Flüchtlinge noch ihre aus der Heimat mitgebrachten Verbote bei: Frauen durften in dieser Zeit kein Brot backen, anderen nicht die Hand geben, keine Fotos entwickeln. Dagegen kann ich mich nicht daran erinnern, jemals mit anderen Mädchen über unsere Empfindungen gesprochen zu haben. Wie sich Jahrzehnte später herausstellte, als das Thema dank der Frauenbewegung angesprochen werden konnte, teilten wir die Furcht, dass es »durchblutete« und andere das vielleicht sehen könnten.

Es gab ganz typische Bewegungen über Rock und Hintern, mit denen sich die Mädchen vergewisserten, dass sie trocken sind. Die Binden waren damals hart und primitiv und schützten nur teilweise, und die noch primitiveren Befestigungen und die mangelhaften Schultoiletten taten ein Übriges, um eine latente Panik in dieser Zeit wach zu halten.

Der Werbespruch: »Camelia schenkt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen« traf gerade nicht ins Schwarze, denn Sicherheit und Selbstvertrauen waren mit Einsetzen der Menstruation praktisch dahin. Ganz schlimm war es, diese Binden auch noch selber einkaufen zu müssen. Dazu durften möglichst keine anderen Kunden in den Drogerien sein (Supermärkte gab es noch nicht), schon gar nicht Männer, wenn das Tabu-Wort geflüstert und das Paket in die mitgebrachte Tasche gestopft wurde.

Dass wieder eine »dran« war, wurde in der Turnstunde sichtbar, wenn immer mehr Mädchen auf den Bänken am Rand der Halle sitzen blieben und der Lehrerin meist ein Oktavheft zeigten, in dem die Mutter auf die »Unpässlichkeit« der Tochter hingewiesen hatte und um Befreiung vom Sport bat. Drei bis vier Wochen später wurde dann nur noch das neue Datum mit der echten oder von der Tochter gefälschten mütterlichen Unterschrift ohne den Text hinzugefügt.

In den 60er- und Anfang der 70er-Jahre waren die Recherchen zu diesem Thema in den öffentlichen Bibliotheken noch mühselig und eher unergiebig, aber immerhin konnte ich herausfinden, dass es tatsächlich irgendwo auf der Welt Leute geben sollte, die die Mädchen bei ihrer ersten Menstruation feierten und meine diesbezüglichen Gedanken darum nicht so abwegig zu sein schienen. Die Feiern zu den 15. Geburtstagen der Mädchen in Südamerika sind wohl noch ein Relikt dieser Riten, allerdings haben auch sie eine Umkehrung erfahren, weil sie heute mehr der Einführung in die traditionelle Frauenrolle dienen und häufig mit den ersten Schönheitsoperationen verbunden werden.

Menstruation war im uns bekannten Umfeld mit einem Makel verbunden. Dass Mädchen und Frauen während dieser Zeit als unrein galten, entsprach den eigenen Empfindungen. Die Krämpfe, die unreine Haut und die strähnigen Haare waren geeignet, jedes Selbstwertgefühl zu vernichten. Diese Unreinheit betraf offenbar alle Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt – und darum musste die Minderwertigkeit wahr sein. Ein Beweis war schon die Scham, mit der ich die auch noch vielfach benutzten ausgewaschenen Stoff-Damenbinden draußen auf den Wäscheleinen betrachtete. Ich gehörte plötzlich zu denen, für die diese ekelhaften Dinger gedacht waren. Ein entsetzlich intimer Anblick, mit dem nicht nur ich nichts zu tun haben wollte. Wäre ich, wären wir doch nur Jungen geworden! Manche Mädchen versuchten das ganz wörtlich zu nehmen und banden sich die Brüste ab, bis dann Jahre später genau das Gegenteil erwünscht wurde: einen möglichst gut sichtbaren Busen vorzeigen zu können.

Die Aufklärung über die körperlichen Vorgänge war mangelhaft und beschränkte sich oft auf den Hinweis, bloß aufzupassen, um nicht schwanger zu werden, was von nun an möglich sein sollte. Wie dies geschehen könnte, blieb meist im Dunkel. Immer noch gab es in der Nachkriegszeit Mädchen, die sich während ihrer Roten Tage nicht auf einen Stuhl setzen wollten, der noch warm von einem vorher darauf sitzenden Mann war. Vor Vätern – soweit sie nach dem Krieg noch vorhanden waren – schämten sich die Mädchen meistens auch. Neben der Lehrerin war der Vater normalerweise der einzige, der eingeweiht wurde. Die Tochter sei nun »soweit«.

Dieses Filmprojekt war das erste in einer langen Reihe von Ablehnungen, die mich im Lauf der Jahrzehnte begleiteten. Wie ich irgendwann feststellte, hatte das System: Sobald ein »Perspektivwechsel« thematisiert wurde, schlug die Zensur fast automatisch oder instinkthaft zu. Mein vorgesehener Titel »Rote Tage« war schon eine Provokation. Angesagt war damals der Film »Rote Fahnen sieht man besser«17, der eine Betriebsstilllegung in Krefeld aus Sicht der Arbeiter dokumentierte. Die Farbe ROT stand für Revolution und nicht für eklige Frauensachen. Für den Film hätte ich zudem um die Welt reisen müssen, um die unterschiedlichsten Bräuche und Verbote zu recherchieren, und das ging eindeutig zu weit, weil zu teuer. Zu teuer vor allem für eine Regisseurin. Derartige Ausgaben waren ja nicht einmal für filmende Männer vorgesehen. Aber der Hauptgrund für die Ablehnung durch die Redaktionen – Kinoförderungen wurden erst entwickelt und waren auch nur mit Männern besetzt – war der, dass das Sujet sämtlichen Redakteuren, denen das Projekt unterbreitet wurde, zu unappetitlich war. Darum war eine Beschränkung des Vorhabens auf die verschiedenen Provinzen der damaligen kleinen BRD, was ich als Kompromiss schließlich anbot, auch nicht möglich.

Wenn das Thema überhaupt außerhalb der medizinischen Literatur erwähnt wurde, dann in einem religiösen Zusammenhang: Frauen verschiedener Religionen galten während dieser Zeit als unrein und hatten sich möglichst aus ihrer jeweiligen Gruppe zu entfernen. Sie mussten sich nach Beendigung der Periode in unterschiedlicher Weise rituell reinigen, bevor sie wieder in ihren Familien aufgenommen wurden. Aber ein Makel blieb an ihnen haften, weil die Frauen ja möglicherweise die Männer auch hätten täuschen können. Deswegen geben orthodoxe Juden Frauen grundsätzlich nicht die Hand. Frauen werden sogar aus Fotos in orthodoxen Zeitungen weg retuschiert, die Politiker und Politikerinnen gemeinsam auf einem Bild zeigen. (So geschehen mit Bundeskanzlerin Merkel und anderen...

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