Während meiner Schulzeit versuchte mein Patron unseren Kontakt auszuweiten, was ich allerdings nicht zu registrieren schien. Ich habe wenig bedeutende Erinnerungen daran, das Folgende kann ich erzählen: Mit neun Jahren wurden wir im Religionsunterricht von unserem damaligen Pfarrer gefragt, wer denn Lust hätte Ministrant zu werden, um Gott in der Kirche zu dienen. Mit Begeisterung meldete ich mich. Diese Euphorie hielt an, bis ich an einem Samstag bei einer Beerdigung ministrierte. Am Grab des Verstorbenen hatten sich viele Menschen versammelt. Ich dachte mir: „Warum sind sie alle so traurig? Wenn man tot ist, dann ist man doch nicht im schön geschmückten Sarg, sondern im Himmel, vereint mit Gott.“ Ich konnte mir gar nichts Schöneres vorstellen. Aber alle um mich herum weinten. Ich hörte den Rest von Pfarrer P. `s Messe. Er bat Gott, alle zu segnen, den Papst, alle Bischöfe, alle Priester, alle die zum Dienst an Gott bestellt sind und das ganze Volk. In dieser Reihenfolge. Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass die Kirche Unterschiede zwischen den Menschen macht. Ich war mir tief im Inneren sicher, dass Gott uns alle gleich liebt und dass man nicht traurig sein muss, wenn jemand im „Himmel“ aufgenommen wird. Für mich stand daraufhin fest, dass ich keinesfalls weiter einen Dienst für die Kirche tun konnte. Ich quittierte mein Ministrantenamt und habe danach auch nur noch zu besonderen Anlässen, wie Taufe, Hochzeiten und dergleichen, den Gottesdienst besucht. Mein Patron hat mich hier übrigens nicht beeinflusst, er hat mich nur gelenkt, damit ich selbst einen Eindruck gewinnen und meine eigene Entscheidung treffen konnte. An dieser Stelle muss ich noch bemerken, dass ich gerne in die Kirche gehe, aber nur, wenn niemand da ist und ich Stille finden kann. Mit 11 Jahren beschloss ich, Soldat zu werden. Ich spielte immer noch leidenschaftlich gern mit meinen Plastikkameraden. Hinter unserem Haus hatten wir eine große Terrasse, die gefliest war. Zwischen den Fugen platzierte ich meine Kämpfer, damit sie in Deckung gehen konnten. In meinen Gedanken konnte ich sie schon laufen sehen. Kleine Blumen waren Sträucher, Löwenzahnblätter stellten Bäume dar und die Äpfel, die von unserem Baum gefallen waren, bedeuteten für mich die Feinde. Ins Spiel vertieft, hörte ich wieder die Stimme: „Roland, komm her! Geh weg von da!“ Erschrocken stand ich auf und suchte nach der Person, von der die Stimme kommen musste. Ich konnte allerdings niemanden ausmachen, was mich noch mehr verunsicherte. Hier muss ich einfügen, dass ich es nicht mochte, wenn mich beim Spielen jemand beobachtete, weil niemand in der Familie meine Art zu spielen verstand. Meine Geschwister hänselten mich oft deswegen und meine Mutter schaute mir manchmal besorgt zu. Jetzt hörte ich wieder eine Stimme, diesmal meine Mutter, um mich mit zum Einkaufen zu nehmen. Sie stand am Fenster und hatte mich wohl schon eine Weile beobachtet. Deshalb auch die Warnung meines Patrons - denn keine andere Person als er hatte mir befohlen, meinen Spielort zu verlassen -. Nach dem Mittagessen ging ich erneut nach draußen, um mich wieder meinen Soldaten zu widmen. Nach einiger Zeit hörte ich diese, mir noch unvertraute Stimme wieder, nur diesmal viel lauter. Heute kann ich den genauen Wortlaut nicht mehr wiedergeben, ich weiß nur, dass ich völlig kopflos aufgesprungen bin, angsterfüllt weglief und schrie: „Lass mich in Ruhe!“ Dass mein Patron zu mir sprach, sollte ich aber erst viel später erfahren. Von nun an begann eine Zeit der „Stimmlosigkeit“. Ich erzählte meiner Mutter nämlich von den Stimmen in meinem Kopf. Sie machte sich Sorgen und ging mit mir zu unserem Hausarzt, der mir Tabletten verschrieb. Es schien zu funktionieren, die Stimme war weg. Jahre später erzählte mir mein Patron, dass er die Verbindung unterbrochen habe, um mich vor einer höheren Dosis Tabletten zu schützen. Meine Art zu spielen hatte sich dadurch allerdings nicht geändert, nur hörte ich keine Stimmen mehr. Als die Medikamente wieder abgesetzt wurden, versuchte mein Patron erneut eine Kontaktaufnahme. Diesmal setzte er an einer anderen Stelle an. Der Frühling hatte Einzug gehalten und ich konnte endlich wieder nach draußen zum Spielen gehen. Ich suchte meine Sachen, die Soldaten, Autos und Panzer und konnte sie nirgends finden. Verzweifelt lief ich zu Mutter und fragte sie, ob sie wüsste, wo sich die Sachen befänden. Sie zuckte nur mit den Schultern und antwortete, ich solle besser Ordnung halten, dann müsste ich auch nichts suchen. Genervt lief ich erneut nach draußen, fand aber nichts. Stattdessen entdeckte ich im Postkasten ein Heft, in dem Spielzeug abgebildet war. Kurzerhand schnitt ich mir alles aus, was ich für mein Spiel brauchte. Es funktionierte fast genauso. Ich freute mich riesig! Doch schon am nächsten Tag waren auch die Papierschnipsel weg. Meine Mutter hatte das Feuer damit genährt, aus Angst, die Stimmen könnten beim Spiel zurückkommen. Ich konnte es nicht fassen! Mit tränenerfüllten Augen versteckte ich mich in einem Busch, der dicht bewachsen war, im Garten. Jetzt konnte ich meinen Emotionen freien Lauf lassen. Plötzlich vernahm ich die Stimme wieder. Sie verriet mir, wo ich meine Plastikfreunde finden könne. „Am hinteren Ende der Garage liegen Autos und Soldaten in einem Karton.“ Natürlich war ich neugierig und sah nach. Die Freude, die ich erlebte, war wie Weihnachten und Ostern zusammen. Meine Mutter hatte das Spielzeug versteckt, sicher wegen der Stimmen! Ich holte alles heraus und nahm es mit in mein Versteck. Ich beschloss, alles gut wegzusperren, aus Angst, es könnte mir wieder weggenommen werden. Abends in meinem Zimmer, als ich zur Ruhe kam, spielte sich die Szene abermals in meinem Kopf ab. Wie konnte es sein, dass die Stimme alles wusste?! Ich lauschte angestrengt, aber ich vernahm an diesem Tag nichts mehr. So musste ich mich allein mit der Frage auseinandersetzen. Ich bemerkte, dass ich gar keine Angst mehr hatte. Das machte mich glücklich. Drei Tage danach spielte ich wieder hinter dem Busch. Ich musste unbedingt vermeiden, entdeckt zu werden. Da hörte ich die mittlerweile vertraute Stimme. Eindringlich sagte sie: „Geh` raus aus dem Versteck, schnell!“ Ich befolgte ihren Rat und hätte auch keinen weiteren Moment verlieren dürfen, denn circa 20 Sekunden später sah ich meine Mutter auf mich zukommen, um nachzuschauen, wohin ich mich verkrochen hatte. Natürlich wollte sie wissen, was ich tat. „Ich suche immer noch meine Soldaten“, antwortete ich. Damit schien sie zufrieden zu sein. Unglaublich! Wie konnte die Stimme wissen, dass Mutter im Anmarsch war?! Ich glaube, dieser Moment war für mich ausschlaggebend, der Stimme zu vertrauen. „Sie hilft mir immer“, dachte ich. Manchmal antwortete ich ihr sogar und wir führten oft eine lustige Unterhaltung. Für mich war zu diesem Zeitpunkt auch nicht wichtig, woher die Stimme kam. Sie gab mir oft Hilfestellungen, die ich dankbar annahm. Man kann sagen, wir wurden zu einem eingespielten Team. Hier sei gleich noch erwähnt, dass ich wichtige Entscheidungen immer selbst treffen musste, um aus meinen Fehlern zu lernen. Das ist auch heute noch so. Die Stimme wurde zu meinem ständigen Begleiter. Ich kam allerdings nicht mehr auf die Idee, jemandem davon zu erzählen. Die Folge dessen war mir ja ausreichend bekannt. Es war Sommer und sehr heiß. Ich ging zusammen mit meinem Bruder ins Freibad. Wir freuten uns schon auf das kühle Nass. Plötzlich bekam ich wieder eine Botschaft: „Roland, da kommt ein silberfarbiges Auto sehr schnell um die Kurve. Erschrecke dich nicht.“ Ich warnte noch meinen Bruder, gerade noch rechtzeitig, bevor der silberne Audi anraste. Mein Bruder fragte total verdutzt, woher ich das wusste. Jetzt war Vorsicht geboten! Ich zog das Ganze ins Lächerliche und sagte ihm, dass es doch ein Kinderspiel sei. „Schau“, sagte ich, „gleich kommt ein Mädchen auf einem weißen Fahrrad aus der Seitenstraße.“ Er war mehr als verblüfft, als er sie wenig später auf dem Rad strampeln sah. „Wie machst du das?“, fragte er mich. Ich zuckte nur mit den Schultern und lachte. Er stimmte mit ein und so war das Ganze für ihn erledigt. Ich dachte, dass ich in die Zukunft schauen konnte. Ich beschäftigte mich jedoch nicht weiter damit, denn wir waren am Freibad angekommen. Einige Jahre vergingen und ich hatte ab und zu Gespräche mit meinem geistigen Führer. Sie haben mein Leben sehr bereichert. Es war wie ein Geplänkel zwischen Freunden. Ab der neunten Klasse beschäftigte ich mich mit der Berufswahl. Ich wollte mich zwischen Tierpfleger und Straßenbauer entscheiden. Schließlich siegte der Wunsch, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Im September 1986 begann ich also in derselben Firma, als Auszubildender im Straßenbau. Die erste Zeit des Berufseinstiegs verging problemlos. Bereits nach zwei Tagen teilte mich unser Meister für eine bestimmte Baustelle ein. Ich sollte mit einem Polier zusammenarbeiten, der bei keinem sehr beliebt war. Sein Ruf, Lehrlinge Buckelarbeit verrichten zu lassen, war auch bis zu mir vorgedrungen. Mein Tagesablauf bestand aus Müll aufräumen und Holz schichten bis hin zu Baubuden wischen. Das war nicht sehr erfreulich! Nach etwa einem Monat ging mir das Ganze ziemlich auf die Nerven, so dass ich ein Stoßgebet zu unserem Herrn sandte: „Bitte lieber Gott, hilf mir! So kann es nicht weitergehen!“ Meine Bitte sollte erhört werden. Schon am nächsten Tag kam der Bauleiter, um mich für eine angenehmere Arbeit einzuteilen. Ich sollte den Rasen unserer Chefin mähen. Das war ein lockerer und angenehmer Job. Zwei Tage durfte ich mit dem Minitraktor fahren, um das Gras auf die optimale Länge zu bringen. Ich vergaß natürlich nicht, meinem Patron für die Abwechslung zu danken. Auf meinem Nachhauseweg bot sich dafür täglich die beste Gelegenheit. Immer mehr wurde mir bewusst, dass...