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Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik in der DDR im Spannungsfeld zwischen Bildungsfähigkeit und Ausgrenzung

AutorTobias Niemann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl76 Seiten
ISBN9783638269254
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2004 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,3, Universität zu Köln (Heilpädagogische Fakultät Köln), Sprache: Deutsch, Abstract: Das Thema dieser wissenschaftlichen Arbeit ist die Darstellung der Entwicklung einer Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der ehemaligen DDR, wobei die Aspekte der Bildungsfähigkeit und der Ausgrenzung vor dem Hintergrund sozialistischer Pädagogik besondere Beachtung finden sollen. Nach 1989 war die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung in der DDR einer harschen Kritik ausgesetzt, die sich auf die angebliche Ausgrenzung von geistig behinderten Menschen aus dem Erziehungs- und Bildungssystem der DDR bezog. Diese Arbeit will anhand von verschiedenen Publikationen untersuchen, wie in der DDR sowohl in der Theorie als auch in der Praxis mit geistig behinderten Menschen umgegangen wurde, welches Menschenbild der Geistigbehindertenpädagogik zu Grunde lag und welche Zielsetzungen Bildung und Erziehung in der DDR zu erfüllen hatten. Galten Menschen mit einer geistigen Behinderung in der DDR als uneingeschränkt bildungs- und schulfähig, so dass ihnen Möglichkeiten zur schulischen und außerschulischen Bildung und Erziehung gegeben wurden, war anerkannt, dass Bildung und Erziehung Konstitutiva des Menschseins sind und somit jeder Mensch bildungsfähig ist oder gab es tatsächlich Tendenzen der Ausgrenzung und praktizierte Exklusion? Um diese Fragen zu klären, befasst sich diese Arbeit in Kapitel 2 zunächst einmal mit den marxistischen Leitlinien der sozialistischen Pädagogik, die die Grundlagen für alle Konzeptionen der Bildung und Erziehung von Menschen in der DDR bildeten. Es folgt in Kapitel 3 ein zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des Regel- und Sonderschulsystems der DDR, der aufzeigen soll, ob es Unterschiede in der Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung gab. In Kapitel 4 folgen ausführliche Darlegungen zur Rehabilitationspädagogik, die die Konzeption der Bildung und Erziehung für Menschen mit Behinderung in der DDR war. In den Kapiteln 5-7 geht es speziell um die Lebenssituation von geistig behinderten Menschen, ihrer Schul- bzw. Schulbildungsunfähigkeit und der Frage, welche pädagogischen Fördermöglichkeiten für diese Menschen in der DDR existierten. Abgeschlossen wird diese Arbeit mit Kapitel 8 und der sich schon aus dem Titel ergebenen Fragestellung, ob es in der DDR ein Unerziehbarkeitsdogma gab, welches Menschen mit geistiger Behinderung den Zugang zu Erziehung und Bildung verwehrte.

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Leseprobe

3. Entwicklung des Regel- und Sonderschulwesens der DDR


 

Nachdem die grundlegenden Prinzipien einer sozialistischen Pädagogik vorgestellt worden sind, möchte ich im Folgenden einen Überblick über die Entwicklung des Regel- und Sonderschulwesens der ehemaligen DDR geben und zudem Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Entwicklung herausarbeiten, die mir im Hinblick auf das Thema meiner Arbeit bedeutsam erscheinen. Die Übersicht soll folgende These bekräftigen: Bei der Pädagogik der DDR handelte es sich nicht nur um eine monolithische Wissenschaft, sondern auch um eine einheitliche, politische Staatspädagogik, die gezielt Einfluss auf Bildung und Erziehung nahm.

 

Die Zusammenfassung orientiert sich an verschiedenen Entwicklungsabschnitten, die folgendermaßen periodisiert sind (vgl. Anweiler 1988, 20):

 

1. die Schulreform von 1946,

2. die ideologische Okkupation der Schule und Pädagogik nach 1948,

3. die Polytechnisierung der Schule seit 1958,

4. das Gesetz über ein einheitliches sozialistisches Bildungssystem von 1965.

 

3.1 Die Schulreform von 1946


 

Nach dem Zusammenbruch des sogenannten „3. Reiches“ und dem Ende des 2. Weltkrieges übernahmen die vier Besatzungsmächte die Regierungsgewalt in Deutschland und somit auch die Verantwortung für den Wiederaufbau des Schulwesens. Es bestand in sofern Übereinstimmung zwischen den Alliierten, dass sämtliche nazistischen Lehren und politisch belastete Lehrer völlig aus dem Schul- und Bildungswesen zu entfernen seien. Die Realisierung dieses Grundsatzes oblag allerdings den Militärregierungen in ihren jeweiligen Besatzungszonen und war dementsprechend unterschiedlich. In der sowjetischen Besatzungszone besaß die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Hoheitsgewalt und ihre Befehle stellten die Rechtsgrundlage für alle Entscheidungen dar. Innerhalb der SMAD gab es die Abteilung Volksbildung, in der verschiedene russische Bildungsoffiziere saßen, deren Aufgabe es war, den Wiederaufbau der Schulen und Universitäten zu leiten und zu überwachen. „Die schulpolitische Ausgangslage im Jahre 1945 in der sowjetischen Besatzungszone war [...] dadurch gekennzeichnet, dass die Überwindung des nationalsozialistischen Gedankengutes in der Erziehung durch alle antifaschistischen – demokratischen Kräfte im Vordergrund stand und gleichzeitig die KPD nach der Zulassung der politischen Parteien am 10. Juni 1945 durch ihre enge ideologische und personelle Verbindung mit der Besatzungsmacht von vornherein ein Übergewicht besaß“ (Anweiler 1988, 22).

 

Ein wesentlicher Faktor, der die schulpolitische Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone prägte, war die weitgehende Zentralisierung aller schulpolitischen Entscheidungen. Denn während sich in den westlichen Besatzungszonen das föderalistische Prinzip mit dem Kernstück der bis heute geltenden Kulturhoheit der Länder durchsetzte, blieb in der sowjetischen Zone das schon aus der Nazizeit bekannte Einheitsstaatsprinzip bestehen.

 

Die ersten Vorbereitungen für eine geplante Schulreform begannen im Oktober 1945 und endeten im Mai 1946 mit dem „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“. Demokratisierung bedeutete nach diesem Gesetz zweierlei (vgl. Anweiler 1988, 26):

 

 Die neue demokratische Schule solle frei sein von militärischen, imperialistischen, rassistischen und volksverhetzenden Elementen.

 

 Die neue demokratische Schule solle eine demokratische Einheitsschule darstellen – die allen Kindern das gleiche Recht auf Bildung und seine Verwirklichung entsprechend ihren Anlagen und Fähigkeiten garantiert.

 

Die neue Einheitsschule in der sowjetischen Besatzungszone beruhte auf einer Stufenkonzeption des gesamten Bildungswesens und unterschied vier unterschiedliche Schulstufen: 1. Vorstufe (Kindergarten); 2. Grundstufe (Grundschule); 3. Oberstufe; 4. Hochschule. Insbesondere konzentrierte sich das Gesetz auf die achtklassige Grundschule und auf die Oberstufe mit ihren verschiedenen Schultypen (Berufsschulen, Fachschulen und anderen zur Hochschule führenden Bildungseinrichtungen).

 

3.2. Die Sonderschulentwicklung 1946-1948


 

Auch für die Sonderschulen bildete das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule die erste gesetzliche Grundlage zur Förderung behinderter Kinder. Zwar wurde die Notwendigkeit von Sonderschulen im Gesetz nicht explizit erwähnt, dennoch leitete sich die Legitimation von Sonderschulen unmittelbar aus der Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes ab, nämlich dass alle Kinder, auch mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, zur Bildungs- und Erziehungsfähigkeit berücksichtigt werden sollten. Die Verantwortung für die Erziehungs- und Bildungsfragen der Sonderschule wurde unter die Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung gestellt, soziale und medizinische Einrichtungen hatten lediglich nur noch eine soziale Betreuungs- und Fürsorgekompetenz.

 

Im Dezember 1947 verabschiedete das Ministerium für Volksbildung die entsprechenden Ausführungsbestimmungen zum Schulgesetz. Es wurden hier vorrangig die gesetzlichen Grundlagen der Schulpflicht in der Grundschule konkretisiert. Kinder, deren körperliche und geistige Gebrechen so enorm waren, dass sie sich für eine Ausbildung in einer Grundschule nicht eigneten, wurden einer für sie passenden Sonderschule zugeführt. Konnten Kinder allerdings auch in Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden, wurden sie vom Besuch der Grundschule befreit (vgl. Werner 1999, 56). Bedeutsam, gerade auch im Hinblick auf das Thema meiner Arbeit, ist das begrenzte Verständnis von Bildung und Erziehung auf sogenannte „bildungs- und erziehungsfähige“ Kinder. So sind mit den Ausführungsbestimmungen zum Schulgesetz von 1946 erneut zwei wesentliche und traditionelle Momente der Beschulung behinderter Kinder festgeschrieben worden:

 

1. „Orientiert an der Leistungsnorm der Regelschule sonderte man diejenigen Schüler aus, deren Schulleistungsversagen sich auf geistige und /oder körperliche Ausfälle bzw. Beeinträchtigungen zurückführen ließ.

2. Sämtliche Beschulungsmaßnahmen kamen nur für sogenannte „bildungs- und erziehungsfähige“ Kinder in Frage, d.h. die Schulpolitiker hielten sich die Möglichkeit offen, die allgemeine Schulpflicht einzugrenzen und bei einzelnen Schülern auszusetzen“ (Werner 1999, 56).

 

Trotz gravierender und vor allem ideologischer Umwälzungen in der sowjetischen Besatzungszone, ist diese Kontinuität traditioneller pädagogischer Haltungen und Überzeugungen im Hinblick auf die Bildungsfähigkeit von Kindern mit Behinderung auffällig.

 

3.3 Die ideologische Okkupation der Schule und Pädagogik nach 1948


 

In den Jahren 1948 bis 1958 wurde das Schulwesen der ehemaligen DDR radikal umgestaltet, mit dem Ergebnis einer ideologischen Okkupation der Schule, die bis 1989 bestimmend bleiben sollte. Das galt gleichermaßen für das Verhältnis von Politik und Pädagogik, von Ideologie und Wissenschaft und von Lehrern und Schülern. Die ideologische Besetzung der Schule ging eng einher mit der innerparteilichen Entwicklung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und ihrer Umformung „zu einer Partei neuen Typus, die unerschütterlich und kompromisslos auf dem Boden des Marxismus – Leninismus steht“ (Anweiler 1988, 40). Zu Beginn dieser Umwälzungen stand ein langwieriger, zehnjähriger Prozess, der sich „ideologischer Klärungsprozess unter Lehrern und Schulfunktionären“ nannte und in dem es im Wesentlichen um Folgendes ging (vgl. Anweiler 1988, 42):

 

 Die Pädagogen der DDR verpflichteten sich dem Marxismus – Leninismus und der sowjetischen Pädagogik.

 

 Die Pädagogen sollten von nun an verstärkt einer Didaktik und Methodik folgen, die sozialistisch durchdrungen war.

 

 Erziehung und Bildung sollte verstärkt ideologisch besetzt werden.

 

Insbesondere die Rezeption der sowjetischen Pädagogik und die Verpflichtung dem Marxismus- Leninismus gegenüber, bildete den Ausgangspunkt für eine neue „direktivistische Erziehungswissenschaft“ (eine von politischen Direktiven abhängige Wissenschaft). Ab 1948 hielten vermehrt und in dichter Folge russische Professoren und Dozenten an Universitäten Vorträge, wurden Hauptwerke sowjetischer Pädagogen (z.B. Makarenko) übersetzt, deren Lektüre obligatorisch war und Studien- sowie Prüfungsordnungen neu erarbeitet. Auch die SED bekräftigte im Jahre 1951 die Maxime, den Marxismus –Leninismus und die Sowjetpädagogik als Grundlage der Bildung und Erziehung in der DDR konsequent anzuwenden und sprach von einer Kompassfunktion der sowjetischen Pädagogik (vgl. Anweiler 1988, 45).

 

3.4 Die Sonderschulentwicklung 1948-1958


 

Während folglich die allgemeine Schulpädagogik mehr und mehr einer „direktivistischen Erziehungswissenschaft“...

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