Vorwort zur Pantheon-Ausgabe
Gerade als einer, der als Sozialdemokrat wahrlich nicht zu seinen Parteigängern gehörte, begrüße ich es, dass die »Erinnerungen« von Franz Josef Strauß in dem Jahr, in dem er hundert Jahre alt geworden wäre, ein weiteres Mal erscheinen. Denn das Wissen über das, was in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik geschah, ist jedenfalls in der jüngeren Generation eher blass geworden. Wer weiß denn noch Genaueres über die Entstehung unseres Grundgesetzes, das vier Jahre nach der deutschen Katastrophe des Jahres 1945 eine klare Antwort auf die verbrecherische Ideologie des NS-Gewaltregimes gab, über die von Konrad Adenauer betriebene West-Integration, über die Ostpolitik Willy Brandts oder über die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft? Wem ist der mit einer wechselseitigen atomaren Bedrohung verbundene Kalte Krieg zwischen Ost und West, der bis in die frühen achtziger Jahre andauerte, noch bewusst? Und wer erinnert sich noch an die hitzigen parlamentarischen Auseinandersetzungen, bei denen Franz Josef Strauß und Herbert Wehner oder Helmut Schmidt aufeinander trafen?
Das alles wird bei der Lektüre der Strauß’schen Aufzeichnungen wieder lebendig. Noch etwas kann die Lektüre bewirken. Nämlich die Einsicht, dass vieles, was wir heute für selbstverständlich halten – so etwa unsere Rückkehr in die Völkerfamilie, unser Grundgesetz, der Rechtsstaat, unser wirtschaftlicher Wiederaufstieg, die fortschreitende Einigung Europas und die deutsche Einheit –, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern mühsam erkämpft wurde. Und dass es von den heute Lebenden verteidigt und fortgeführt werden muss. Dass ein demokratisches Gemeinwesen von dem Engagement seiner Bürger und einer kontinuierlichen ernsthaften Auseinandersetzung über den richtigen Weg, aber auch darüber lebt, wie frühere Fehler vermieden werden können.
Franz Josef Strauß äußert sich zu den seinerzeitigen Entwicklungen aus seiner subjektiven Sicht. Er wollte keine neutrale oder gar selbstkritische Analyse liefern. Es ging ihm verständlicherweise an manchen Stellen wohl auch darum, sein Tun und Unterlassen zu rechtfertigen und darzutun, warum er Recht behalten hat, seine Gegner geirrt oder gar schlimme Absichten verfolgt haben. Das unterscheidet seine Memoiren nicht von den meisten Selbstbiographien. Eben deshalb spricht manches dafür, der Neuauflage der Strauß’schen »Erinnerungen« Gedanken eines Mannes voranzustellen, der ihn persönlich kannte, mit ihm sogar eine Zeitlang zusammenarbeitete, aber als Sozialdemokrat die meiste Zeit doch auf der anderen Seite stand und daher vieles anders sah und noch heute sieht als er. Dazu hat mich der Verlag eingeladen und ich versuche im Folgenden dieser Aufgabe gerecht zu werden. Das mag es dem Leser erleichtern, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Zunächst einige Bemerkungen über unser persönliches Verhältnis. Ein Begriff war mir Franz Josef Strauß natürlich schon in den fünfziger Jahren. Da war er unter anderem als Bundesverteidigungsminister bereits ein herausgehobener Politiker, der regelmäßig in den Medien präsent war. Zum ersten Mal begegnete ich ihm, als ich ihm als neugewählter Münchner Oberbürgermeister im Mai 1960 in Bonn einen Antrittsbesuch machte. Bei dieser Gelegenheit zeigte er für die Münchner Situation viel Verständnis und war von großer Liebenswürdigkeit. Nach seinem Sturz als Verteidigungsminister – es gab damals ernsthafte Koalitionssondierungen zwischen der Union und der SPD – autorisierte er seinen Parteifreund Georg Brauchle, der als Zweiter Bürgermeister in München mein Stellvertreter war, bei mir vorzufühlen, ob die SPD etwa auf Bundesebene an politischen Gesprächen mit der CSU interessiert sei. Notfalls sei er selbst auch mit dem Postministerium zufrieden, das ja bekanntlich die Bayerische Volkspartei während der Weimarer Republik lange Zeit inne gehabt habe. Meine entsprechende Anfrage in Bonn blieb jedoch ohne Echo.
Erst im Dezember 1966 kam die erste Große Koalition zustande, in der Strauß als Bundesfinanzminister amtierte. Als solcher gewann ich ihn nach dem Erfolg der Münchner Olympia-Bewerbung im Sommer 1967 für die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden der Olympia-Baugesellschaft. Die hatte er bis zum Ende der großen Koalition im Herbst 1969 inne. In dieser Zeit ergab sich zwischen uns – ich war neben dem damaligen bayerischen Finanzminister Konrad Pöhner einer der beiden stellvertretenden Vorsitzenden – eine durchaus kooperative Zusammenarbeit. Wichtige Entscheidungen, die unter anderem den Bau des Olympia-Stadions erleichterten, kamen dabei auf finanziellem und personellem Gebiet dank seines Engagements zustande.
In der Folgezeit standen wir uns in unseren verschiedenen aufeinanderfolgenden Funktionen als Gegner gegenüber und blieben uns auch in der Polemik nichts schuldig. So warf er mir unter anderem vor, ich sei mittelmäßig, bestenfalls ein weisungsgebundener Funktionär einer nachgeordneten Parteigliederung und in Wahrheit doch ein linker Sozialdemokrat. Ich meinerseits sagte in einer Bundestagsdebatte im Jahre 1973, in der ich auf eine Rede von ihm antwortete, er verhalte sich wie ein Feuerwehrmann, der zündelt, um dann zu zeigen, was für ein famoser Feuerwehrmann er ist. Das hinderte mich aber nicht, ihm am Tage seines Todes als SPD-Vorsitzender in einer Presseerklärung den Respekt zu bekunden, »der seinem Engagement in unserem und für unser Gemeinwesen gebührt«.
Und in der Tat hat er Substantielles geleistet. Auf der Bundesebene nenne ich insoweit seinen Beitrag zum Aufbau der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee von Bürgern in Uniform. Dabei ergab sich eine engere Kooperation mit Fritz Erler und anderen Sozialdemokraten, die die entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg brachten. Dann die Finanz- und Wirtschaftsreform, die er in der Großen Koalition zusammen mit Karl Schiller bewirkte. Und auch die Förderung moderner Technik, insbesondere durch seinen Einsatz für das Airbus-Projekt. In Bayern hat sich die CSU nicht zuletzt dank seiner Bemühungen gegen den Widerstand Alois Hundhammers und anderer in den fünfziger Jahren zu einer überkonfessionellen Volkspartei entwickelt und als solche bis heute ihren besonderen Einfluss auf der Bundesebene behauptet. Auch hat er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre den Übergang zur akademischen Lehrerbildung und von der Bekenntnis- zur Gemeinschaftsschule in seiner Partei durchgesetzt und damit ermöglicht. Wie in anderen Fällen machte er sich damit allerdings Positionen zu eigen, die SPD und FDP schon geraume Zeit vorher verfolgten. Ebenso hat er die Modernisierung der bayerischen Wirtschaft spürbar vorangebracht.
Positiv beurteile ich auch die Vermittlung des Milliardenkredits für die DDR im Jahre 1983, für den er als Gegenleistung gewisse Milderungen des Grenzregimes erreichte, und seinen Besuch bei Gorbatschow im Jahre 1987. Allerdings tat er damit jeweils etwas, was der Ost- und der Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition entsprach und was er zuvor erbittert bekämpft hatte. Dass er dazu fähig war und sich dabei über Positionen seiner eigenen Partei hinwegsetzte, ehrt ihn in meinen Augen. Es hätte ihn aber noch mehr geehrt, wenn er diesen Wechsel offen angesprochen hätte.
Die Vorbereitung des Kredits war übrigens damit verbunden, dass er mit dem DDR-Unterhändler Schalck-Golodkowski mehr als ein Dutzend Mal – und zwar auch in seiner Privatwohnung – zusammentraf und sich mit ihm auch über Bonner Interna und politisch sensible Themen austauschte. Der auch von ihm erhobene Vorwurf, nicht wenige Sozialdemokraten hätten damals einen »kumpelhaften Umgang« mit DDR-Funktionären gepflogen, erscheint auf diesem Hintergrund etwas sonderbar.
Eine besondere Erwähnung verdient die von Strauß 1973 veranlasste Verfassungsklage Bayerns gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR. Sie wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen. Das Urteil verpflichtete aber in seiner Begründung alle Verfassungsorgane auf das im Grundgesetz normierte Ziel der Wiedervereinigung. Das hat im Ergebnis Tendenzen zur Verwässerung oder gar Aufhebung dieses Ziels einen Riegel vorgeschoben. Man muss aber wissen, dass Strauß lange Positionen vertreten hat, die eher als Absage an die deutsche Einheit zu verstehen sind. So schrieb er beispielsweise noch 1966, dass er sich die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats unter den vorausschaubaren Umständen nicht vorstellen könne. Das Motiv für die Klage war daher wohl weniger das Festhalten an dem Einheitsziel, sondern die Absicht, der damaligen Koalition Schwierigkeiten zu bereiten.
Den positiven Leistungen und Erfolgen stehen jedoch auch schwerwiegende Fehlentscheidungen und Irrtümer gegenüber. Auch Strauß war eben nicht unfehlbar. Gravierend sind für mich vor allem sein Nein zum sogenannten Nichtverbreitungs-Vertrag für Atomwaffen und sein Nein zur Ratifizierung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975. Das erste Nein begründete er mit der Behauptung, dass der Vertrag »ein Versailles in kosmischen Ausmaßen« darstellte. Das lässt die Erinnerung daran wach werden, dass er als Bundesverteidigungsminister eine Zeitlang mit Konrad Adenauer für die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen unter NATO-Kontrolle eintrat.
In beiden Fällen bewirkte sein Nein, dass die Union, so lange sie den Bundeskanzler stellte, die Unterzeichnung des Nichtverbreitungs-Vertrages verweigerte und in der Opposition gegen die Ratifizierung der Schlussakte stimmte. Heute ist unstreitig, dass die in der Schlussakte festgehaltenen Ergebnisse des Prozesses von Helsinki, die Strauß dahin bewertete, dass sie ein Instrument »zur Durchsetzung langfristiger sowjetischer Interessen, insbesondere in Deutschland zu...