Philosophie
1 Natürlich ist eine Soziale Arbeit ohne Philosophie möglich, nur: wozu?
Mit der Thematisierung von Philosophie in der Sozialen Arbeit verbinden wir mehrere Absichten, die sich einander ergänzen: Zunächst wollen wir mit dem Philosophieren nicht nur die Welt und die in ihr beobachtbaren Widersprüche erkennen, sondern uns vor allem darüber Rechenschaft ablegen, wie Erkennen, etwa das berühmte Sich-selbst-Erkennen, überhaupt möglich ist.
So können wir z. B. während des Sehens nicht sehen, wie wir sehen – systemtheoretisch formuliert: Die Beobachter/innen können beim Beobachten nicht gleichzeitig beobachten, wie sie beobachten. Damit sie die Art und Weise ihres Beobachtens im Nachgang einblenden, damit sie reflektieren können, brauchen sie Strukturen, etwa Fall- und Teambesprechungen sowie Supervisionen. Als Beobachter/innen brauchen wir außerdem bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten – ganz ähnlich denen, die zum Philosophieren benötigt werden. So geht es etwa darum, Widersprüche zu erkennen, konstruktiv nachzufragen, dialogisch zu argumentieren und auszuhandeln, das eigene Handeln zu reflektieren und nicht zuletzt: kritisch zu überdenken.
Beim Philosophieren stoßen wir absichtsvoll auf Phänomene, an denen das unter Handlungsdruck stehende Erkennen scheitert. Das Philosophieren bezieht sich grundsätzlich, so können wir sagen, auf das Beobachten – die empirische Wissenschaft hingegen auf das Beobachtbare.
| Wenn das eindeutige Erkennen unmöglich ist, sind wir auf das Nachdenken und Bedenken angewiesen. |
Üblicherweise wird Theorie als Entwerfen, Konstruieren und Planen gedacht – hingegen Praxis als Handeln, Arbeiten und Herstellen. Das ist eine theoretisch zwar nachvollziehbare, aber praktisch nicht weiterführende Beobachtung. Im Lichte des Gesagten begreifen wir nämlich das Philosophieren als das reflexiv-kritische Element sozialer Tätigkeiten, ohne das weder das Handeln noch das Entwerfen eine umfassende Bedeutung für die Praxis bekämen.
Insofern meint Philosophieren für uns, zu lernen, zu beobachten, wie wir eigentlich beobachten, um daraufhin passend handeln zu können. Es heißt zugleich auch zu lernen, mit dem Nichtwissen umzugehen, das daraus folgt, dass das Selbsterkennen (Selbstbeobachten) weder in Gänze gelingt noch zu einem Ende findet. Wie sich dieses Philosophieren in praktischer Absicht zur Wirksamkeit entfaltet, bleibt für die Soziale Arbeit als angewandte Wissenschaft ein überaus wichtiges Thema.
Weiterhin bietet uns die Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen, etwa als Tugend- und Diskursethik, äußerst wertvolle Ideen dafür, über das Ziel der Sozialen Arbeit nachzudenken und zu reden, nämlich wie ihre Nutzer/innen dabei unterstützt werden können, jeweils ein gelingenderes Leben zu erreichen. Philosophie sagt uns jedoch nicht, wie das Leben Einzelner beschaffen sein sollte oder welche Ziele oder Entwürfe wir verfolgen sollten. Als Diskursethik gibt uns die Ethik jedoch nachvollziehbare Anhaltspunkte, plausible Orientierungen, anerkennenswerte Richtschnüre und Verfahren dafür, zu sehen, dass das »gute Leben« nicht ein für alle Mal fixiert und entworfen werden kann, sondern dass es in einer gemeinschaftlichen Lebenspraxis sowohl reflexiv besprochen als auch praktisch hergestellt werden muss. Die Maßstäbe dafür haben wir stetig zu prüfen, gemeinsam zu diskutieren und womöglich auch zu beherzigen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ohne die Möglichkeit der Teilnahme an diesen philosophischen Kommunikationen könnten wir weder erkennen, wie Erkennen möglich ist, noch kämen wir zu einer wenigstens vorläufigen gemeinsamen Auffassung darüber, was lohnenswerte Ziele der Lebensführung für uns sein könnten. Das hieße womöglich, wir müssten uns als Sozialarbeitende in jedem Morgengrauen aufs Neue mit der gleichen Frage beschäftigen: Wozu?
Praxiseinsatz
Was bedeutet uns das Nachdenken im Team? Woran erkennen andere, dass wir ein zum Nachdenken fähiges Team sind? Von welchen Werten gehen wir in unserem Leben aus? Was kennzeichnet für uns ein »gutes« Leben? Welche Merkmale hat wohl eine »gelingende« Lebensführung?
Praxisempfehlung
Menschen geben ihrem Leben in unterschiedlicher Weise Bedeutung. Sie bewerten es – sehr eigenständig. Unsere Aufgabe ist es, die Vielfalt der Werte zu achten, aber dennoch für unsere auf die Menschen- und Sozialrechte bezogenen Grundprämissen einzustehen. Dafür haben wir diese Rechte zu bedenken. Nehmen Sie sich Zeit.
2 Postmoderne bedeutet nicht, dass alle Perspektiven gleich brauchbar sind, sondern bedeutet die konstruktive Nutzung der Ambivalenz, die beim Gewahrwerden unterschiedlicher Perspektiven entsteht.
Der Diskurs der Postmoderne steht regelmäßig kurz vor seinem Ende. Sein Pluralismus und sein Relativismus böten offene Türen für verschiedene Kritiken. Wir wollen hier die Pro- und Kontraargumente nicht aufwärmen, sondern erläutern, warum die postmoderne Theorie und Haltung nach wie vor sehr brauchbare Anregungen für die Soziale Arbeit bieten.
Insbesondere Jean-François Lyotard hat die These aufgestellt, dass in der heutigen Gesellschaft das Wissen sein festes Statut verliert und postmodern wird. Die drei »großen Erzählungen« der Moderne, nämlich die Hermeneutik (das Sinnverstehen), die Dialektik (verstanden als zielgerichtete Entwicklung des menschlichen Geistes und der Gesellschaft) und die Emanzipation (die Befreiung des Menschen von natürlichen und sozialen Zwängen), haben sich als nicht realisierbar erwiesen: Hinsichtlich der Hermeneutik zeigen sich die Unabschließbarkeit und Kontingenz des Verstehen; bezüglich der Dialektik offenbart sich eher eine Ambivalenz der Geistes- und Gesellschaftsentwicklung, dass nämlich Fortschritte auch mit Rückschritten bzw. Lösungen mit neuen Problemen einhergehen; und die Idee der Emanzipation wird damit konfrontiert, dass der Gewinn von Unabhängigkeit neue Abhängigkeiten herausfordert.
Im Rahmen unseres systemischen Verständnisses wollen wir »Postmoderne« als Prozessbegriff mit Entwicklungsfähigkeit nutzen. Wir agieren postmodern, wenn wir uns von einer autoritär agierenden Wissenschaft abkehren und die Geltungsansprüche einer Rationalität im Singular bzw. der Vernunft oder des gesunden Menschenverstandes grundsätzlich infrage stellen.
| Wir nutzen deshalb, wann immer möglich, Verfahren, die transparent, dialogisch, mehrperspektivisch, beteiligungs- und vernetzungsfördernd ablaufen. |
Das Infragestellen der einen Vernunft hat praktisch die Konsequenz, verschiedene Formen der Rationalität anzuerkennen und ergebnisoffen miteinander fruchtbar zu machen.
Die von uns bevorzugte postmoderne Ermöglichungsprofession versucht nicht, widerspruchsfreie Sozialtheorien aufzustellen bzw. mit eindeutigen Selbstbeschreibungen von Gesellschaft und Individuen zu arbeiten, sondern verweist auf einen wissenschaftspraktischen Rahmen für dialogische Arbeitshaltungen und beteiligungsfördernde Verfahren sowie auf wissenschaftliche Thesen unter Beachtung ihrer sozialen Bedingtheit und Konstruktion. Sie anerkennt die Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen und Denkweisen nicht nur zum Schein, um sie etwa unter den Deckmänteln aufrichtiger Fürsorge oder realistischer Wissenschaft zu homogenisieren oder auf eine einheitliche Linie zu bringen. Die postmoderne Ermöglichungsprofession hat keine Universallösungen parat, denn ein solches Ideal wäre ja wieder Ausdruck und Vehikel für nicht postmoderne Zielsetzungen.
Unser Ansatz liegt demgegenüber im konstruktiven Umgang mit der hier angedeuteten Vielfalt in einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich zahlreiche Formen der individuellen und sozialen Gestaltung von Lebenswelten und Lebensverläufen entwickeln und etablieren. Zudem geht es um die Anerkennung von Ambivalenz als unumgängliche Erscheinungen in nahezu allen Bereichen des sozialen und individuellen Lebens sowie in den Theorien, Haltungen und Methoden der Sozialen Arbeit.
Die Leuchtfeuer dieses Buches sind durchzogen und eng verflochten mit der Bestimmung von Ambivalenz als Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Möglichkeit im Medium von Sinn. Diese Ambivalenz kann jedoch nie aufgelöst, sondern nur weiter verschoben werden. Denn wie jede Beobachtung einen blinden Fleck zur Voraussetzung hat, produziert jede Sinnverwendung Ambivalenzen, ohne die sie keine wäre. Ambivalenzen sollen demnach nicht allein als Problem, sondern vielmehr als Lösungen bewertet werden. Wenn Nutzer/innen keinen Zugang zur Ambivalenz ihres Handelns haben,...