Pyramiden, Kreise und Sanduhren
Wahrscheinlich kennen Sie beide: die Ernährungspyramide und den Ernährungskreis. Sie sagen uns, was wir essen sollen. In Deutschland und den USA hat sich lange die Ernährungspyramide beziehungsweise das Ernährungsdreieck gehalten, allerdings wurde sie vor kurzem in Deutschland durch eine Scheibe, den DGE-Ernährungskreis, ersetzt; in den Niederlanden und Großbritannien hat sich ebenfalls der Ernährungskreis durchgesetzt.
Die Ernährungspyramide sieht meist folgendermaßen aus:
© Sabine Hüttenkofer
Die Basis dieser Ernährungspyramide besteht aus Stärkemehlprodukten (Brot, Nudeln, Reis und Kartoffeln). Eine Stufe weiter finden wir Gemüse und Früchte in ungefähr gleichen Mengenanteilen. Darüber befinden sich unter anderem die Fleisch- und Milchprodukte. Noch weiter oben stehen die Schmier- und Kochfette, während die Spitze mit Zucker und anderen Süßigkeiten gefüllt ist.
Der Ernährungskreis ähnelt inhaltlich stark der Ernährungspyramide:
Gemüse und Obst nehmen auf dem Kreis einen ebenso großen Raum ein wie Getreideprodukte (Brot, Kartoffeln und Nudeln); des Weiteren gibt es Fleisch, Fisch, Milchprodukte und Tofu, allesamt in einen Topf geworfen. Fette sollen in Maßen verzehrt werden und bekommen daher nur einen kleinen Ausschnitt zugewiesen.
Was die Form betrifft, bin ich weder ein Befürworter der Ernährungspyramide beziehungsweise des Dreiecks und noch weniger des Kreises. Ein Dreieck ist zumindest übersichtlich. Wenn ich dagegen den Ernährungskreis betrachte, sehe ich eine Menge Nahrungsmittel, die einfach durcheinandergeworfen wurden. Eine Pyramide ist hierarchisch aufgebaut, in Stufen, sodass die Wichtigkeit bestimmter Nahrungsmittel unterstrichen wird, indem sie über- oder untereinander angeordnet sind. Aber bedeutender noch ist der Inhalt der Pyramide beziehungsweise des Kreises. Und dieser Inhalt ist laut wissenschaftlichen Untersuchungen völlig überholt. Trotzdem finden wir beides noch immer in Kantinen, Gesundheitsmagazinen oder im Internet.
Die Forscher der Harvard Universität haben eine neue Art der Ernährungspyramide beziehungsweise des Ernährungsdreiecks entworfen. Ziel ist, eine bessere und gesündere Alternative zu Standardpyramide und -kreis anzubieten.
© Sabine Hüttenkofer
Was fällt Ihnen auf? Richtig, die Basis ist eine andere: Wurde sie in der konventionellen Ernährungspyramide noch aus Getreideerzeugnissen gebildet, besteht sie hier, zusätzlich zu den Vollkornprodukten, aus Gemüse, Obst und Fetten. Letztere können also auch gesund sein. Bemerkenswert ist, dass Kartoffeln, weißer Reis, Weißbrot und Nudeln, die nicht aus dem vollen Korn gemacht werden, nach oben gewandert sind: Sie befinden sich in der »verbotenen« Spitze der Pyramide und werden damit in dieselbe Ecke gestellt wie Chips, Erfrischungsgetränke und Süßes. Rotes Fleisch ist ebenfalls in die Spitze gewandert. Die ungesunden Fette bleiben an ihrem Platz, oben an der Spitze; die gesunden Fette sind dagegen Teil der Basis. Neu ist auch die Empfehlung, Nahrungsergänzungsmittel zu konsumieren. Seltsam, nimmt man denn nicht genug Vitamine zu sich, wenn man sich abwechslungsreich ernährt? Darauf kommen wir später zurück. Was ebenfalls ins Auge fällt: Die Forscher aus Harvard erachten Milchprodukte als nicht besonders gesund.
Obwohl Ernährungspyramide und Ernährungskreis veraltet sind, werden sie immer noch überall empfohlen und verbreitet. Für mich, der ich in der Welt der Wissenschaft zuhause bin, ist das nicht weiter verwunderlich. Bis sich neue Konzepte durchsetzen, können viele Jahre (oder auch Jahrzehnte) vergehen. Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse erreichen meist erbärmlich spät die Gesellschaft. Zudem gibt es zahlreiche kommerzielle Spieler, die ein großes Interesse an dem haben, was wir täglich auf unseren Teller laden. Einer der Gründe, warum die Ernährungspyramide beziehungsweise das Dreieck und der Ernährungskreis noch immer zu finden sind, liegt darin, dass die Landwirtschaft sowie die Fleisch- und Milchindustrie verstärkt Lobbyarbeit bei der Regierung betreiben, um beides in der derzeitigen Form zu bewahren: einer Form, die die Betonung auf Getreide-, Fleisch- und Milchprodukte legt – Produkte dieser Industrien. Die Getreide-, Fleisch- und Milchindustrie halten nicht nur ihre schützende Hand über die Pyramide und den Kreis, sie haben auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf deren Konzeption ausgeübt.
Ernährungspyramide und Ernährungsdreieck | Harvard Healthy Eating Pyramid |
Kartoffeln sind Grundnahrungsmittel. Es wird nicht deutlich auf die gesundheitliche Gefahr, die von weißem Reis, Weißbrot und Nicht-Vollkorn-Nudeln ausgeht, hingewiesen. | Kartoffeln sind nicht mehr Teil der Basis, sondern befinden sich in der »verbotenen« Spitze, zusammen mit weißem Reis, Weißbrot und Nicht-Vollkorn-Nudeln, inmitten offensichtlich ungesunder Nahrungsmittel wie Butter, Salz, Süßigkeiten und Erfrischungsgetränken. |
Stärkemehlprodukte (wie Brot, Nudeln, Reis) bilden die Basis des Ernährungsdreiecks und des Kreises. | Vollkornprodukte bilden gemeinsam mit Gemüse, Früchten und gesunden Ölen die Basis. |
Milchprodukte (wie Käse, Joghurt, Milch) werden empfohlen. | Milchprodukte dürfen vollständig durch Nahrungsergänzungsmittel mit Vitamin D und Kalzium ersetzt werden. |
Nahrungsergänzungsmittel werden nicht erwähnt. | Nahrungsergänzungsmittel werden empfohlen. |
Rotes Fleisch wird empfohlen. | Von rotem Fleisch wird abgeraten, es wird in der »verbotenen« Spitze untergebracht. Fisch und weißes Fleisch wie Hühnchen werden empfohlen. |
Fette und Öle sind ungesund. | Gesunde Fette und Öle gehören zur Basis. |
Nüssen, Bohnen und Tofu wird kaum Beachtung geschenkt. | Nüsse, Bohnen und Tofu dienen als wichtiger Fleischersatz. |
Alkoholischen Getränken wird keinerlei Beachtung geschenkt. | Lediglich mäßiger Alkoholgenuss wird empfohlen. |
Der deutsche Ernährungskreis basiert auf dem klassischen amerikanischen Ernährungsdreieck. Die Bauern sowie die Fleisch- und Milchindustrie in den USA haben bereits seit einigen Jahrzehnten beträchtlichen Einfluss auf die Behörden. So konnten sie in umfangreicher Weise mitbestimmen, wie das amerikanische Ernährungsdreieck aussieht; nicht umsonst wurde dieses vom Department of Agriculture, also vom Landwirtschaftsministerium, und nicht vom Department of Health, vom Gesundheitsministerium, kreiert – sonst wäre es wahrscheinlich etwas gesünder ausgefallen, und Getreide, Fleisch und Milch würden wohl nicht an solch prominenter Position stehen. Man kann davon ausgehen, dass das derzeitige Dreieck und der Kreis vor allem dem Agrarsektor dienen und nicht der allgemeinen Gesundheit.
Dieser Lobbyismus ist übrigens ein nicht zu unterschätzendes Phänomen im Gesundheitssektor wie überhaupt in der gesamten wissenschaftlichen Welt. Nehmen Sie beispielsweise Professor Meir Stampfer von der Universität in Harvard, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ernährungswissenschaften. Er hat mehrere bekannte Studien über die fatalen Auswirkungen von Zucker auf Herz und Blutgefäße publiziert (dazu später mehr). In einem Interview im Scientific American machte er deutlich, wie sehr »die Erfrischungsgetränkeindustrie durch Lobbyismus darum bemüht ist, seine Studien in Zweifel zu ziehen«.[18] Wie kommen die Produzenten von Erfrischungsgetränken dazu, sich in wissenschaftliche Forschungen einzumischen und – schlimmer noch – Professoren und medizinische Studien in Zweifel zu ziehen, die die Gesundheit von Millionen von Menschen (positiv) beeinflussen können?
Es gibt noch weitere Gründe, weswegen das alte Ernährungsdreieck beziehungsweise die Ernährungspyramide und der -kreis erhalten bleiben. So wird die Bevölkerung von den Behörden, die die Ernährungsempfehlungen ausgeben, häufig unterschätzt (etwas, worüber ich mich als Arzt sehr ärgere). Nach deren Ansicht sollten Ernährungspyramide und -kreis nicht verändert werden, da sie ansonsten womöglich zu kompliziert ausfallen, was wiederum zu Problemen bei der Umsetzung innerhalb der Bevölkerung führen würde. Robert Post, der eine wichtige Funktion in der amerikanischen Regierung innehat und stellvertretender Direktor des Center for Nutrition Policy and Promotion (Zentrum für Ernährungsrichtlinien und Vermarktung) ist, wurde einmal gefragt, ob er die Öffentlichkeit über ein paar wichtige neue Erkenntnisse hinsichtlich Fetten und Zucker informieren wolle. Er verneinte mit dem Hinweis, dass Meldungen stets »kurz und simpel« und »auf den Punkt gebracht« sein müssten.[18] Aber: Unser Körper ist nicht...