Über geglückte Flugzeugstarts, den Konstruktivismus und die Kritische Theorie
MATTHIAS ECKOLDTWas mich immer wieder umgetrieben hat, als ich mich mit Ihrer Philosophie beschäftigt habe, ist Folgendes: Es gibt eine Lesart Ihrer Sinnfeldontologie, die eigentlich relativ nah am Konstruktivismus ist. Das wäre meine Hypothese. Ihre Sinnfelder würden auch im philosophischen Rahmen des Konstruktivismus keinen Widerspruch erzeugen. Ihr Schreibtisch ist ein eigenes Sinnfeld, unser Gespräch ist ein eigenes Sinnfeld. Das hat seine eigenen Qualitäten und bringt diese eigene Qualitäten hervor. Das ist vollauf vereinbar mit konstruktivistischen Ansichten. Dieses Gespräch zwischen uns erzeugt etwas Neues. Jemand, der nicht wüsste, was hier der Kontext ist, würde vielleicht fragen: »Was haben die denn für ein Problem, was machen die beiden da?«
MARKUS GABRIELGenau, das wäre unlesbar. Als wenn Außerirdische kämen. Die hätten keine Ahnung, was das soll. Die brauchten lange Einweisungen, um zu verstehen, was wir hier machen.
MATTHIAS ECKOLDTDas würde der Konstruktivismus – jetzt Konstruktivismus als Markenname, da gibt es ja auch ganz viele verschiedene Ansätze – ganz genauso sehen.
MARKUS GABRIELAuf jeden Fall. Der Konstruktivismus ist ein inkonsequenter Realismus. Das heißt, der Konstruktivismus ist in dem Maße vereinbar mit der Sinnfeldontologie, wie es nicht um die Natur geht. Das heißt, der Geist, den er verströmt, ist fast richtig. Es wird aber vom Konstruktivismus übersehen, dass man für die Natur auch mit Sinnfeldern rechnen muss, die nichts mit irgendeinem diskursiven Geschehen zu tun haben. Kristallbildung oder der Übergang vom rein Physikalischen ins Chemische – spätestens ins Lebendige – sind Sinnfeldsprünge, man spricht hier heute gerne von Emergenz. Auch innerhalb der Physik gibt es die wohl. Der Konstruktivismus beschreibt im besten Fall die Operationsweise von Kommunikation. Im luhmannschen Modell zum Beispiel sagt er, dass Kommunikation ein solches autopoetisches Anschlussverfahren ist, das aus seinen eigenen Ressourcen heraus den nächsten Zug determiniert und in seinen Operationen nicht von außen bestimmt werden kann, weil alles, was von außen kommt, von innen registriert werden muss. Das ist die Grundidee, mit der man in der Kommunikationstheorie sehr weit kommen kann. Da würde ich auch überhaupt nicht bestreiten, dass man damit sinnvoll sehr vieles beschreiben kann. Aber für eine Ontologie taugt das nicht, weil es nicht die Frage beantwortet, was es heißt, dass diese Bereiche existieren. Es ist eine Beschreibung von Bereichen unter Ausklammerung der ontologischen Fragestellung.
MATTHIAS ECKOLDTBei Luhmann ist das ja erklärtermaßen der Fall. Bei manchen Begriffen sagt er: Da ist mir noch zu viel Ontologie drin, die muss ich jetzt noch abbauen. Wichtig ist die gleichsam freischwebende autopoetische Operation als Beschreibungsmodell. Luhmann hat nicht den Anspruch, eine ontologische Aussage zu machen.
MARKUS GABRIELGenau, allerdings fängt er manche Vorlesungen und Bücher gerne damit an, dass es soziale Systeme gibt. Das ist eine ontologische Aussage. Außerdem gibt es immer dieses Weltphantasma bei Luhmann, d. h. die Idee eines Systems ohne Umwelt. Ich würde sagen, dass Luhmann die Welt nicht losgeworden ist. Welt ist dasjenige System, das keine Umwelt mehr hat. Dieses System der Umweltspaltung bricht bei Luhmann am Begriff der Welt zusammen, und dann wird er mystisch, dann kommt Derrida, Nikolaus von Kues, dann kommen plötzlich ganz abseitige Autoren, ohne dass er dies philosophisch erklärt. Die »différance« und das »Absolute« von Nikolaus von Kues sind für ihn plötzlich dasselbe, nämlich die Welt. Der Weltbegriff bei Luhmann ist ganz interessant, weil man daran sieht, dass er das Problem, das ich benenne, kennt, aber trotzdem insgeheim Metaphysiker bleibt. Es gibt die Welt für Luhmann, aber sie ist unerkennbar, weil die System-Umwelt-Differenz nicht mehr gezogen werden kann.
MATTHIAS ECKOLDTOhne Differenz aber kann man nach Luhmann nicht beobachten. Also kann man die Welt nicht beobachten. Also gibt es sie nicht.
MARKUS GABRIELMan kann sie nicht beobachten, das ist richtig. Aber Luhmann sagt nicht, dass es sie nicht gibt. Insofern ist Luhmann an dieser Stelle mehr Metaphysiker als ich. Die Sinnfeldontologie ist autobiografisch durchaus hervorgegangen aus meiner Auseinandersetzung mit Luhmann. Und diesen Punkt habe ich immer als wunden Punkt gesehen, dass da bei Luhmann die Welt die ganze Zeit noch herumgeistert. Warum lässt er sie nicht los? Mein Verdacht ist, dass er sie deshalb nicht loslässt, weil er als Soziologe natürlich mit seiner System-Umwelt-Differenz einen Unterschied macht zwischen den Sozial- und den Naturwissenschaften. Über die Naturwissenschaften sagt er eigentlich nichts. Über das System »Wissenschaft« als solches schon, aber beispielsweise über das System »Fermionen« äußert sich Luhmann nicht. Er ist ja nicht der Typ Wissenschaftssoziologe, der dann auch die Gegenstände der Naturwissenschaften nicht in Ruhe lassen kann. Daran sieht man, dass diese ontologischen Fragen ungeklärt sind, genau wie bei Habermas. Habermas sagt auch: Ich will das jetzt einfach mal nicht wissen. Naturalist kann ich nicht sein, dafür bin ich zu sehr Soziologe, religiös will ich auch nicht sein, deswegen schreibt er ein Buch wie Zwischen Naturalismus und Religion. Das beschreibt seine Stellung ganz gut. Damit sind die natürlichen Gegenstände im blinden Fleck von Habermas und Luhmann angesiedelt. Der Neue Realismus hat das beseitigt, weil er sich der Ontologie stellt.
MATTHIAS ECKOLDTIst dann die Sinnfeldontologie in Ihren Augen eine Ontologie für Konstruktivsten?
MARKUS GABRIEL[Lacht.] Wenn man so will! Wenn die Konstruktivisten allerdings dieses Trojanische Pferd annehmen, ist auch ihre Innenstadt kaputt, weil dann klar wird, dass die sozialen Systeme gerade nicht freischwebend sind. In dieser Frage habe ich eine eher neomarxistische – also ironisch marxistische – Tendenz auch in der Sozialontologie. Ich nehme an, dass auch das Soziale nicht konstruiert ist, so wie das die Konstruktivisten denken. Das kann man sehr gut rekonstruiert nachlesen in David Elder-Vass’ Buch The reality of social construction.
MATTHIAS ECKOLDTBei Luhmann ist es ja auch so, dass er die einzelnen sozialen Systeme über ihre Leitdifferenzen beschreibt. Da sind sehr viele präzise Beschreibungen entstanden. Wenn man das jetzt mit dem Weltbegriff zusammenbringt, gibt es bei ihm auch die Konstruktion eines Weltbegriffs. Nehmen wir beispielsweise die Massenmedien. Da kann man mit der luhmannschen Systemtheorie wunderbar beschreiben, wie die Massenmedien beobachten, nämlich über die Leitdifferenz aktuell/nichtaktuell. Nur das Aktuelle zählt für die Massenmedien, und aus dem Aktuellen entsteht dann ein Bild der Welt, das nicht verbindlich ist, aber mit dem man andauernd zu tun hat. Man kommt nicht vorbei an dieser Weltfiktion, selbst wenn man nicht fernsieht. Nun ist es aber so, dass die Massenmedien intern über die Differenz aktuell/nichtaktuell regelwidrige Ereignisse zum Anlass der Berichterstattung nehmen, weil nur regelwidrige Ereignisse sendewürdig sind. Niemals werden in den Massenmedien die geglückten Starts und Landungen auf allen Flughäfen dieser Welt vorkommen, sondern es werden nur die Flugzeugabstürze und die Katastrophen gesendet. Daraus entsteht ein Bild der Welt in Massenmedien …
MARKUS GABRIEL… als Gefährdungsraum, das Aktuelle ist immer gefährdet.
MATTHIAS ECKOLDTWobei die Tatsache oder das Ding an sich, das Fliegen nämlich, das sicherste Transportmittel überhaupt ist, das je erfunden wurden. Doch trotzdem entsteht durch die massenmediale Zuspitzung von Welt der Eindruck, dass Fliegen gefährlich sei.
MARKUS GABRIELDiese Konstruktion ist etwas, was der Neue Realismus medienkritisch als eine Illusionsmaschine bewerten würde. Das heißt, der häufig benannte, aber nicht richtig identifizierte Zusammenhang zwischen massenmedialer »Demobürokratie«, um noch mal ein Wort von Luhmann zu verwenden, und dem Aufsteigen des sogenannten Populismus steht hier im Raum.
MATTHIAS ECKOLDTIn welcher Weise?
MARKUS GABRIELDer Zusammenhang ist schlichtweg der, dass der sogenannte Populismus in der Tat durch seine Kommunikationsform als Störverhalten funktioniert. Dieses Störverhalten ist besonders sendewürdig. Es ist sehr interessant, wenn in Chemnitz die Horden über die Straßen ziehen. Das ist interessanter als der zum x-ten Mal geglückte Karnevalszug in Köln. Man meldet höchstens, dass alles gut gegangen ist beim Rosenmontagszug, also dass es keinen Terroranschlag gab. Aber nicht jedes Marschieren und Spazieren wird gemeldet. Die Massenmedien, das Internet und der sogenannte Aufstieg des Populismus sind erst mal dasselbe Phänomen, sie haben dieselbe Textur. Aber diese Textur würde der...