DA WAR EIN MANN
Am Mittwoch, dem 25. Februar 2009, stehe ich kurz nach Mittag zum zweiten Mal in Úbeda vor der Tür zur Sacra Capilla del Salvador. Drei Monate sind vergangen, seitdem ich hier zuletzt war. Die Tür ist von 1536, also an die fünfhundert Jahre alt, und sie besteht aus massiver Eiche. Der Türgriff ist aus Gusseisen. Es ist die Tür aus meinen vielen, immer gleichen Träumen. Aber jetzt ist es wohl ein paar Wochen früher im Jahr, denn im Traum hatte die Platane kleine Blätter. An diesem Tag ist es winterlich kalt und die Äste des Baums sind noch nackt.
Die hektische Aktivität, hinter die ich mich seit dem letzten Besuch hier zurückgezogen hatte, ist schon dabei, wieder die Oberhand zu gewinnen. Am liebsten würde ich weiterhasten. Schließlich sollen wir in fünf Tagen neue Reiseziele in Zusammenhang mit den beiden neu eröffneten Flugrouten erkunden, auf denen die Leser meiner Artikel zukünftig von Aalborg direkt nach Málaga in Südspanien fliegen können. Aber ich bin nicht allein. Auch der Reiseleiter Andrea Pezzini ist wieder mit von der Partie. Er hatte damals gesehen, was geschehen war, und als jetzt die Träume zunahmen, hatte ich ihm davon berichtet. Gleich nachdem ich nach Hause gekommen war, hatte ich ihm geschrieben und mich für mein Verhalten entschuldigt. Daraufhin entschuldigte er sich, dass er mir wohl zu nahe gekommen wäre.
Er ist etwas jünger als ich, etwas rundlicher, hat eine Halbglatze und einen Dreitagebart. Er ist in dem winzig kleinen Castell Goffredo in Norditalien aufgewachsen und hat in London, Paris und Sevilla gelebt. Seit 1994 wohnt er zusammen mit Carmen und ihren vier Kindern hier in Úbeda. Er betreibt eine Reiseagentur für Journalisten und Touristen, außerdem etliche Kirchen und Kulturgedenkstätten als Museen, unter anderen die Sacra Capilla del Salvador. Ihm sei bewusst, schrieb er, dass er nicht gläubig ist.
»Aber an diesem Tag im November hast du geleuchtet«, verteidigte er sich, und in einer der vielen und zunehmend vertrauter werdenden Mails zu Anfang des neuen Jahres fuhr er fort:
»Ich bin katholisch erzogen worden, meine Mutter geht jeden Tag zur Messe, aber ich habe mich vor vielen Jahren gegen die Religion entschieden. Als ich dich jedoch dann mit diesem Licht sah, da ... Ich kann es nicht erklären. Seit vierzehn Jahre bin ich täglich in dieser Sakristei gewesen und habe dort nie etwas Religiöses erlebt. Bis du da gestanden hast, umgeben von diesem Licht.« Als ich fragte, ob er mir beistünde, wenn ich die Tür aus meinen Träumen öffnen würde, antwortete er spontan mit Ja.
»Ich habe Angst. Angst davor, dass ich danach nicht wieder dieselbe sein kann. Ich bin es nicht gewohnt, von Männern zu träumen, die aus einem Kirchenraum nach mir rufen.« Ich hatte bewusst einen humorvollen Ton angeschlagen, um Abstand zu schaffen – auch für mich selbst.
Er war nicht darauf eingegangen.
Das tut er auch heute nicht.
»Setz dich hierhin«, sagt er und lässt mich auf der schweren Holzbank mitten in der geräumigen Sakristei zurück. Ich bin allein. Ganz allein in der Sakristei.
Hier ist es genauso wie bei meinem letzten Besuch.
Selbst das zittrige Geräusch der kleinen Leuchtstoffröhren an den drei Wölbungen der hohen Decke ist das gleiche, genau wie der aufdringliche Duft nach Parfüm und Aftershave von den vielen tausend Besuchern. Die Sandsteinwände sind weiß getüncht, die wuchtigen Kommoden aus dunklem Holz mit den Dokumenten aller Priester füllen die Nischen an beiden Seiten fast völlig aus. Hier liegt wohlgeordnet die Arbeit von fünf Jahrhunderten. Zwischen den drei Nischen an jeder Seite und in allen Ecken hängen Büsten und stehen Statuen. Es sind acht, vier Männer und vier Frauen. Sie blicken auf mich herab. Der Bauherr, Francisco de los Cobos y Molina, akzeptierte als Teil der Geschichte auch andere Religionen, so dass hier sogar Platz ist für heidnische Symbole wie Herkules und Hebe – er mit Löwenmähne als Bild des Mannesmuts und sie die fruchtbare Frau als Darstellung der Liebe. Der Bauherr und seine Zeitgenossen verehrten besonders alles Griechische, auch die griechischen Philosophen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigten sie Offenheit, Neugier und Toleranz gegenüber anderen.
Hier, in dieser katholischen Kirche, werden die Ideen der Renaissance auf nahezu provokante Weise zum Ausdruck gebracht. An diesem Bauwerk werden gleichermaßen retrospektive wie auf Zukunft ausgerichtete Zusammenhänge hergestellt. Von der Decke blicken Engel auf das Geschehen. Zentral ist die Christusfigur an einem schlichten Kreuz vor der holzgetäfelten Stirnwand. Diese ist mit kleinen Fächern und Schubladen gegliedert, eine Ablage dient als Altar. Ganz oben weist ein einzelnes kleines Fenster nach Osten. Das Holz der Bank ist beinahe weich vor Alter. Die Jahre haben helle Streifen hineingegraben, die Armlehne unter meinem Handgelenk ist glattpoliert. Die Sitzbank ist so hoch, dass ich nur mit den Zehenspitzen auf den Boden reiche und die diagonal verlegten, quadratischen Fliesen streife. Sie erinnern an ein gedrehtes Schachbrett, der helle, weiche Sandstein ist ausgetreten, an manchen Stellen tiefer als der dunkelgraue, harte Granit.
Ich schließe die Augen. Und begegne einem Mann.
Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Aber ich erkenne ihn wieder, als er anderthalb Meter etwas links von mir in natürlicher Größe wie ein Hologramm hervortritt. Das Hologramm ist ja wie aus einem Science Fiction-Film, denke ich, und versuche, mit dieser Assoziation den Anblick als reine Fantasie abzuschütteln.
Aber er bleibt direkt vor mir stehen.
Hier in der Sakristei hinter meinen geschlossenen Augen steht er unter der Kuppel, komplett mit Landschaft und Himmel. Die Szene ist dreidimensional und von natürlicher Größe. Er steht auf einem Kiesweg, und gleichzeitig sehe ich die als Schachbrett angeordneten Fliesen unter seinen Füßen. Er ist auch nicht durchsichtig, sondern real. Genauso real wie die Touristen, die hereingekommen sind und hinter mir stehen und reden. Dort bei ihm muss es sehr warm sein, es ist mitten am Tag, sein Schatten fällt kurz, die Sonne ist weiß, der Himmel verhangen, hellblau. Er geht an einem kahlen Berghang entlang, auf dem Gipfel liegt ein Dorf, zu seiner Rechten erstreckt sich ein Tal mit Reihen von Bäumen.
Ich wage nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Will warten. Halte den Kopf gesenkt und sehe den hellgelben Staub unter den verschlissenen Ledersandalen mit um die Knöchel geknüpften, dünnen Riemen.
Sogenannte Jesussandalen, so wie ich sie besitze. Das Absurde daran erleichtert mich. Die Zwischenräume zwischen seinen Zehen sind von rötlicher Erde verschmutzt, nicht vom hellgelben Staub des Wegs. Sonderbar, denke ich, und empfinde es als vertraut und schön, dass die Haare auf dem Spann seiner Füße und an seinen sonnengebräunten Beinen gebleicht sind – genau wie an den Beinen meiner Söhne im Sommer. Das Gewand reicht bis über die Knie. Es ist mittelblau, ein sehr weiches Blau, und ist über seine linke Schulter geschlungen, wo es die Sonne ausgebleicht hat, wie die hellen Streifen zeigen.
Die rötlichen Haare sind schulterlang, leicht gewellt, sein nicht besonders dichter Bart hat fast die gleiche Farbe, nur etwas heller, er reicht bis zum Kehlkopf. Der Mann sieht gut aus, er ist schlank, hält sich sehr gerade, er hat Fältchen am Hals und muskulöse Arme. Die Hände sind sehnig, sauber, schlank und trocken, die Adern auf dem Handrücken treten deutlich hervor. Mit der rechten Hand richtet er sein Gewand, korrigiert den Sitz auf der Schulter, während er mit der Linken den Stoff an seine Hüfte hält. Er ist um die dreißig Jahre alt, vielleicht etwas älter, und er wirkt groß, wie er da auf der staubigen Straße steht. Der Weg führt den nicht sonderlich steilen Berghang hinunter. In den hellen, niedrigen Häusern des Dorfs oben auf dem Gipfel mit ihren fast flachen Ziegeldächern kann ich schwach Fensteröffnungen mit Leinentüchern davor erkennen.
Fünf Männer in ähnlichen Gewändern gehen den Weg hinunter und sprechen zu ihm. Hinter ihnen kommen noch zwei, und weiter oben beim Dorf sehe ich weitere Menschen. Zwei von ihnen scheinen Frauen mit Wasserkrügen zu sein. Oben beim Dorf sind auch Kinder und Schafe. Oder sind es Ziegen? Die fünf, die ihm am nächsten sind, wirken freudig erregt. Sie gestikulieren beim Gehen, als wollten sie ihm unbedingt etwas mitteilen. Sie haben kein Gepäck bei sich, sie scheinen von Ort zu Ort unterwegs zu sein.
Zur Linken blicke ich über das Tal. Bäume säumen in gleichmäßigen Reihen den Weg am Fuß des Hangs. Es scheinen Zitronenbäume zu sein, vielleicht auch Olivenbäume. Aber sie gleichen nicht ganz denen hier in der Umgebung von Úbeda. Unter den Bäumen ist der Boden fast nackt, bis auf gelb blühendes, spärliches Unkraut; am Wegrand wehen Büschel von vertrocknetem Gras im Wind, der auch sein Haar ganz leicht in Bewegung bringt. Ist das in Israel? Ich bin nie dort gewesen, habe die Landschaft niemals zuvor gesehen.
Er ist stehengeblieben und wartet auf mich. Ich spüre seinen Blick, warte aber noch ein wenig, bevor ich ihn ansehe. Langsam hebe ich die Augen und betrachte sein Gesicht. Es ist im klassischen Sinn schön, wie das eines griechischen Gottes, und das rötliche Haar bildet eine harmonische Ergänzung zu seiner sonnengebräunten Haut. Als ich seinem Blick zu begegnen wage, sehe ich in Augen, die grün und grau sind mit einem Stich ins Blaue, ihr Ausdruck ist entgegenkommend und voller Freundlichkeit. Sein Blick vermittelt mir ein Gefühl wie an dem Morgen am Wald,...