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E-Book

Mensch 4.0

Frei bleiben in einer digitalen Welt

AutorAlexandra Borchardt
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641217280
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
»Ob die digitale Welt uns freier macht, bestimmen wir.« (Alexandra Borchardt)
Die digitale Welt verändert nicht nur Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, sie schafft auch einen neuen Menschen. Ständig vernetzt scheint er der Mittelpunkt eines selbst gestalteten Universums zu sein. Tatsächlich aber werden wir manipulierbar, abgelenkt und getrieben. Wie verändern die neuen Technologien unsere Sicht auf die Welt? Können wir mehr mitbestimmen, oder werden wir zu nützlichen Idioten ökonomischer und politischer Interessen? Diesen Fragen geht Alexandra Borchardt in ihrem Buch nach und zeigt: Es ist nötig und auch möglich, die digitale Welt selbstbestimmt zu gestalten.
  • Was Digitalisierung aus uns macht
  • Die aktuellen Trends der digitalen Welt verstehen
  • Amazon, Google & Co. - die Macht der Algorithmen erkennen
  • Wege zu mehr Freiheit finden


Alexandra Borchardt, Dr., geb. 1966, arbeitet am Reuters Institute for the Study of Journalism an der University of Oxford als Director of Strategic Development. Außerdem ist sie Autorin und Keynote-Speakerin und war mehr als zwei Jahrzehnte lang im tagesaktuellen Journalismus tätig, zuletzt als Chefin vom Dienst bei der Süddeutschen Zeitung.

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Leseprobe

EINLEITUNG: ALARM AUS DER TASCHE

Was von jenem Abend bleiben wird, vielleicht für immer, sind diese Augen. Vor Schrecken geweitet, einen anflehend aus dem Gesicht eines vielleicht sieben, acht Jahre alten Jungen, der sich an der Hand seiner Mutter in den Hinterhof des kleinen Hotels geflüchtet hat: »Da draußen wird geschossen«, sagt er und meint damit die Münchner Innenstadt. Gerade waren die Straßen rund um den Marienplatz noch Ort fröhlicher Freitagabendstimmung. Der warme Julitag verheißt ein sommerliches Wochenende, die letzten Eifrigen verlassen ihre Büros, die anderen sind schon angekommen zwischen all den Touristen in den Straßencafes, den Wirtshäusern, auf Last-Minute-Streifzügen durch die großen Kaufhäuser. Und plötzlich: überall Panik. Sollte die gefühlt sicherste Millionenstadt der Welt Schauplatz eines nach Pariser Vorbild orchestrierten Terrorangriffs geworden sein?

Es wird noch fast sechs Stunden dauern, bis klar ist: Es war kein Großanschlag in der City, sondern – dramatisch genug – ein einzelner Amokschütze, gut zehn Kilometer entfernt vom Ort des Geschehens, der Flaneure zum Rennen, Kneipengäste zum Sprung aus dem Fenster veranlasst, Berufspendler, Einheimische und Ortsfremde in Panik versetzt hatte. Und noch viel später wird man sich die Augen reiben ob der Bilanz: Anstelle eines einzigen hatte die Polizei 67 vermeintliche Anschlagsorte gemeldet bekommen.1 Wie konnte das geschehen?

Angst, die sich schneller verbreitet als das gefährlichste Grippevirus, gewachsen auf falschen Informationen – selten zuvor konnte man diesen Prozess so hautnah erleben wie in der Amoknacht von München am 22. Juli 2016. Viele Menschen hatten die Terrorbilder von Nizza noch im Kopf, wo wenige Tage zuvor ein Attentäter seine Opfer mit einem Lastwagen auf der Strandpromenade niedergemäht hatte. Und sie hielten die Möglichkeit buchstäblich in der Hand, ihre schlimmsten Befürchtungen anderen mitzuteilen. Die Suggestionskraft von Twitter und Facebook, ausgespielt auf Hunderttausenden Computern im Hosentaschenformat, hatte auch jene ergriffen, die normalerweise eher einen kühlen Kopf bewahren, routinierte Polizisten, erfahrene Journalisten.

Das Smartphone, sonst Retter aus jeder vermeintlichen Not, war plötzlich gar nicht mehr so smart. Und hätte das Social-Media-Team der Münchner Polizei nicht so beherzt mitgespielt in der Kakophonie der Stimmen und es geschafft, letztlich eine Art beruhigende Melodie in das Ganze zu bringen, die Situation wäre womöglich weiter eskaliert. Selten zuvor wurde offensichtlicher als an diesem Abend, dass die in der digitalen Welt so gewichtige Weisheit der Vielen auch das potenzierte Unvermögen der Vielen sein kann, die Lage um sie herum richtig einzuschätzen.

Neue Technologien verändern den Menschen, das haben sie schon immer getan. »Das Medium ist die Botschaft«, schrieb Marshall McLuhan 1964 in einem heute noch beachteten Werk.2 So wie über die Jahrhunderte hinweg der Buchdruck, das Radio und schließlich das Fernsehen die Sinne anders forderten und damit die Welt umformten, so prägen auch die digitalen Technologien das Leben neu – allein tun sie das drastischer und schneller als viele Erfindungen zuvor. Denn während Innovationen früherer Jahrhunderte stets zunächst lange nur einem kleinen Kreis von Nutzern vorbehalten waren, den Wohlhabenden, dem Militär, den gebildeten Eliten, hat das Smartphone binnen eines Jahrzehnts quer durch alle Gesellschaftsschichten selbst entlegene Winkel der Erde erobert.

Wo das stationäre Telefon nie eine Chance hatte, massentauglich zu werden, ersetzt das Smartphone nun Bankfilialen, Kaufhäuser, hält den Kontakt zum Rest der Welt. Weniger begüterte Eltern gönnen ihren Kindern zuweilen eher den Kleincomputer als eine warme Winterjacke. Flüchtlinge mögen ihre Schuhe durchgelaufen, ihre Habseligkeiten auf dem Weg über das Meer verloren haben, am Smartphone hängen sie, denn es ist ihre Nabelschnur.

Seitdem Apple die Welt im Januar 2007 mit dem ersten iPhone überraschte, ist nicht alles anders geworden, aber vieles. Denn es war eben nicht nur ein um eine Tastatur und einen hochklassigen Fotoapparat erweitertes Mobiltelefon wie andere Taschen-Kommunikationsgeräte zuvor. Binnen zehn Jahren hat sich das Smartphone zu einer Art erweitertem Gehirn entwickelt. Es verbindet den Menschen jederzeit mit der Welt, ja er wird ein Teil von ihr. Für so gut wie alles, was er braucht, sich wünscht, erledigt haben will, gibt es nun eine App, und auch diese Applikationen könnten schon wieder überflüssig werden, wenn uns erst einmal elektronische, sprachgesteuerte Assistenten jeden Wunsch zu erfüllen versuchen.

Rund um die Uhr und von überall aus kann man nun über das Telefon einkaufen, sich die Zeit vertreiben, ein Auto oder ein Zimmer mieten, mit Freunden und Feinden kommunizieren, sich informieren, eine Sprache lernen, einen Partner finden. Bald wird es normal sein, über die App seinen Gesundheitszustand zu kontrollieren, von Ferne elektronische Geräte in seiner Wohnung zu steuern oder sich – mit Hilfe von virtueller Realität – in Fernen zu begeben, von denen man bislang nur geträumt hatte.

All das klingt nach Freiheit, es schmeckt nach einer herrlichen Welt voller Autonomie. Wir sind die Chefinnen und Chefs unseres kleinen Universums, wir können uns mit allem und allen verbinden und von unserer kleinen Kontrollzentrale aus die Läufe der Welt ein winziges bisschen beeinflussen. Noch nie standen den Menschen in so großer Zahl so viele Möglichkeiten offen, Wissen über die Welt zu sammeln und damit das Abenteuer Leben in den Griff zu bekommen, das lange in weiten Teilen als unberechenbar galt. In den verschiedensten Religionen billigte man allein den Göttern die Fähigkeit zu, Schicksale zu bestimmen. Möchte man das Bild strapazieren, könnte man sagen, Steve Jobs hat ordentlich dazu beigetragen, Gott arbeitslos zu machen.

Doch die große Frage ist: Gehen wir nun in eine Zukunft voller kleiner Götter? Wird Macht auf Milliarden Individuen verteilt, so wie es die Internet-Idealisten der ersten Stunde als Vision eines perfekt demokratischen Lebens skizziert hatten? Oder sind in Wahrheit gar nicht wir die Steuernden, sondern sitzen in der Schaltzentrale andere, und wenn ja, wer? Und werden das am Ende noch Menschen sein oder von Algorithmen gelenkte virtuelle Instanzen der Macht? Denn je stärker wir das Smartphone oder seine Nachfolger füttern mit allem, was uns ausmacht: unseren Wünschen, Vorlieben, Bewegungen, Handlungen, desto stärker wird es uns steuern.

»Es« ist natürlich nicht die Maschine als solche, sondern es sind die Datenpakete und Algorithmen, die uns Vorschläge machen, uns sanft motivieren, dieses zu tun und anderes lieber zu lassen – nudging heißt das in der Fachsprache. Das Smartphone wird deshalb nicht zur elektronischen Fußfessel werden. Es gleicht eher der Mutter oder dem Vater, die immer alles besser wissen, nur das Beste wollen, immer einen Tipp parat haben und das Kind auf diese Weise in Abhängigkeit halten. Es könnte ein Elternhaus werden, aus dem man nie ausziehen kann.

Philosophen und Neurowissenschaftler führen eine spannende Debatte darüber, ob der Mensch einen freien Willen hat oder eher von Impulsen seines Gehirns getrieben wird, dem Produkt seiner Erfahrungen und Erlebnisse; die Gehirnforschung hat gerade erst damit begonnen, das zu erkunden. In der digitalen Welt stellt sich diese Frage noch einmal ganz neu, wer eigentlich der Herr im geistigen Haus ist. Denn weil das Smartphone praktisch als erweitertes Gehirn funktioniert, das uns füttert, unseren Standort funkt, unsere Vorlieben speichert, uns überwacht, lockt, treibt, stimuliert und enttäuscht, bekommt das handelnde Ich eine neue Konkurrenz: Künftig werden Taten lauter sprechen als Worte. Wir müssen nicht reden und damit unseren Willen kundtun, wir müssen nur etwas tun, um durchschaut zu werden.

Vernetzt durch winzige Rechner, die in jedem Haus, jedem Auto, in jeder Tasche, jedem T-Shirt und womöglich sogar in unter der Haut eingepflanzten Chips stecken, werden wir kommunizieren, auch wenn wir schweigen. Sensoren und Ortungssysteme werden erfassen, wann wir schlafen und wachen, wohin wir gehen, was wir begehren und was uns langweilt. Wir werden Wissen schaffen, ohne es zu wollen. Und gleichzeitig wird uns das Unwissen überschwemmen. Schon sät die Ausbreitung von »Fake News« in allen Schattierungen Misstrauen. Was ist wahr, was ist falsch, wem kann man noch vertrauen? Dennoch gilt: Noch nie zuvor war der Mensch so vernetzt, so sehr Teil eines Rädchens in der Weltmaschine, und noch nie hat er sich dabei so autonom gefühlt. Während er noch denkt, er sei in seinem Cockpit der Kapitän, hat schon längst der Autopilot übernommen.

Sich dem zu entziehen, wird immer schwieriger, denn wir sind längst gefangen: Auf jedes Blinken und Summen, das eine neue Nachricht anzeigt, reagieren wir, ebenso auf unsere Impulse, man könnte doch jetzt noch mal schnell das Postfach checken, die sportliche Leistungskurve abrufen, nach dem Wetter schauen. Der moderne Mensch greift mindestens 150 mal am Tag nach seinem Smartphone, haben verschiedene Studien ergeben, Amerikaner verbringen täglich mehr als vier Stunden netto mit ihrem Gerät. Wir sind der Neugier erlegen und unseren Impulsen, denn Smartphones machen süchtig.

Würde jemand nach Jahren aus dem Koma erwachen, er verstünde die Welt nicht mehr: Menschen halten den Kopf geneigt, den Blick gesenkt und ihr Mobiltelefon in der Hand. Auf diese Weise entrückt prägen sie selbst dort das Bild, wo früher munteres Plaudern Standard war, auf...

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