China Girl
Glück und Unglück liegen nah beieinander, wenn Liebende aus verschiedenen Welten stammen. Ob Leila und Madschnun, Marlon Brando und Tarita Teriipaia, die Fee Perî Banû und der Prinz Ahmed oder die kirchenkritische russische Pussy-Riot-Aktivistin Maria Aljochina und der ultraorthodoxe Dimitri Zorionow — ob Fiktion oder Wirklichkeit: »Gemischte Paare« sind wie Trigger-Punkte im Körper einer Gesellschaft. Hier sind Unterschiede, manchmal auch Gegensätze im Zusammenleben zweier Menschen vereint, die gemeinhin als kaum miteinander vereinbar gelten — und niemand weiß, was aus diesem Miteinander entsteht. Alles wie bei jedem anderen Paar auch, nur eben sichtbar oder unsichtbar, hörbar oder unhörbar mit einer fremden Note versehen.
Warum lösen diese Paare bis heute Emotionen aus, die von Furcht bis Faszination reichen, und warum entzünden sich an ihnen bis heute die unterschiedlichsten Konflikte? Man nennt sie »interkulturell«, »gemischt« oder »transkulturell« — aber das hat zu verschiedenen Zeiten ganz Unterschiedliches gemeint, und so waren Furcht oder Hoffnung, Anziehung oder Abweisung auch jeweils unterschiedlich begründet, fielen die Reaktionen der Gesellschaft anders aus — mit weit reichenden Folgen. Was trennte und was verband, wurde also im Verlauf der Geschichte sehr unterschiedlich aufgefasst. Wie sonst hätte man, um ein berühmtes Beispiel zu nennen, einst dem Indianerkind Pocahontas königlichen Rang am englischen Hof zugestanden? Wie war das möglich? Tatsächlich übersetzte der englische Hof Pocahontas’ sozialen Rang als Tochter des Stammesoberhaupts in die eigenen Verhältnisse — und schuf damit formell Gleichheit. Die ethnische Differenz fiel politisch gegen den sozialen Rang nicht ins Gewicht, ja, sie war überhaupt kein Politikum.
Nicht immer also bestimmte die Hautfarbe, wer als fremd galt. Oder die religiöse, soziale, sprachliche oder nationale Herkunft und Zughörigkeit. Dass aber im Innersten einer Gesellschaft das Fremde — wie immer man es bestimmte — intim wurde, verstörte und wurde häufig bekämpft. Bei aller Restriktion war indessen nie ganz zu verhindern, dass sich solche Paare doch bildeten.
Ihre Geschichten zeigen Blockaden an, deuten auf tief liegende Ängste und markieren historische Umwälzungen und Machtfragen. So hatte ein Beamter des israelischen Erziehungsministeriums zu untersuchen, wie viel jugendgefährdendes Potenzial der preisgekrönte Roman einer bekannten israelischen Schriftstellerin in sich berge. Das Buch handelt von einer israelischen Übersetzerin und einem palästinensischen Künstler, die sich in New York ineinander verlieben und eine Affäre beginnen. Nur eine Affäre. Der Beamte aber ließ sich nicht täuschen. Das war nichts für junge Leser, befand er, denn: »Die Erzählung greift das Motiv unmögliche, verbotene Liebe auf. Jugendliche aber neigen zur Romantisierung und sind meistens nicht imstande, die Dinge von allen Seiten so zu betrachten, dass sie auch Aspekte wie die Bewahrung der Volksidentität und die Folgen einer Assimilation bedenken.« So wurde der preisgekrönte Roman Borderlife der israelischen Schriftstellerin Dorit Rabinyan zur Jahreswende 2016 von der Liste der für die Schulen Israels empfohlenen Bücher gestrichen. Die Begründung ist exemplarisch und universell, unbeschadet der besonderen politischen Bedingungen, in denen sie formuliert wurde. Sie zeigt, wie ernst Staat, Gesellschaft und andere Autoritäten schon die bloße literarische Beschwörung einer interreligiösen und interethnischen Affäre nehmen.
Der Gutachter hat in seiner Bewertung viel von dem versammelt, was solchen »gemischten Paaren« aus der Gesellschaft entgegenschlägt: kollektive Ängste und Phantasmen, Verbote und Verlustgefühle. Selten wurden Aversion und Bedenken so präzise formuliert. Das »gemischte Paar« unterscheidet sich von anderen Paaren also einmal durch die Ängste und Fragen, die es auf sich zieht. Wie loyal sind diese Eingeheirateten, wie passen sie sich in die Familie, die Gesellschaft ein? Zum anderen können auch innerhalb der Paarbeziehung selbst Misstrauen und Entfremdung entstehen, sobald gesellschaftliche Konvention und Rollenverteilung die Liebenden in Konflikte mit ihrer Umwelt bringen.
Das zweite Beispiel für Misstrauen und Angst gegenüber »gemischten Paaren« stammt aus Deutschland: Den Vorsitzenden des Philologenverbandes von Sachsen-Anhalt trieben dunkle Ahnungen um, als er für die Zeitschrift seines Verbandes einen Artikel zur Flüchtlingsproblematik verfasste, der im November 2015 erschien. Er warnt: »Es ist nicht zu übersehen, dass viele junge, kräftige, meist muslimische Männer als Asylbewerber die Bundesrepublik Deutschland auserkoren haben … Viele der Männer kommen ohne ihre Familie oder Frauen und sicher nicht immer mit den ehrlichsten Absichten … Es ist nur ganz natürlich, dass diese jungen, oft auch ungebildeten Männer auch ein Bedürfnis nach Sexualität haben. Vor dem Hintergrund ihrer Vorstellungen von der Rolle der Frau in ihren muslimischen Kulturen bleibt die Frage, wie sie, ohne mit den Normen unserer Gesellschaft in Konflikt zu geraten, ihre Sexualität ausleben oder Partnerschaften in Deutschland anstreben können.« Er habe sich als verantwortungsbewusster Pädagoge die Frage zu stellen: »Wie können wir unsere jungen Mädchen im Alter ab 12 Jahren so aufklären, dass sie sich nicht auf ein oberflächliches sexuelles Abenteuer mit sicher oft attraktiven muslimischen Männern einlassen?«
Die Einlassungen des Lehrers erschienen als reichlich überzogen — wären nicht kurze Zeit später Frauen auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln zu Silvester 2015/16 auf übelste Weise von überwiegend ausländischen Männern, unter ihnen vor allem Asylsuchende ohne »Bleibeperspektive« aus Nordafrika, beraubt und sexuell belästigt worden — womit alle Vorbehalte bestätigt schienen. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich auch in anderen deutschen Städten in dieser Silvesternacht. Waren die Warnungen vor den Fremden und ihrer anderen Kultur also doch berechtigt?
Die politischen Folgen einer globalisierten Liebeswelt zeichneten sich gerade ab, als die Arbeit an diesem Buch begonnen wurde. Das Liebesthema blieb zunächst aber randständig, weil es als sentimentale Mode oder als Frage eines erweiterten Heiratsmarktes verstanden wurde — etwa im Zuge der Grenzöffnungen nach 1989 und der darauf folgenden Erweiterung der Europäischen Union.
Dass sich die Wahrnehmung bei vielen Menschen änderte, als aus Syrien und Afrika immer mehr Menschen nach Europa kamen, wurde bald klar. Plötzlich ging es darum, ob und wie viel Einwanderung und »Vermischung« eigentlich erwünscht seien. Damit wurde das Register radikal gewechselt. Die Asylsuchenden stellten Europa nun nicht mehr allein vor eine humanitäre Aufgabe, sondern sie wurden nun als vornehmlich politische Frage und Herausforderung wahrgenommen. Die Demonstrationen und die Gewalttaten gegen Flüchtlinge, aber auch die Überfälle, die von Asylsuchenden verübt wurden, machten schlagartig klar, wie viel sozialer Sprengstoff in der neuen Völkermischung steckt.
Die Barbaren sind zurück, so suggerierten die Ereignisse in Köln und anderswo. Und mit ihnen kehrten auch archaische Ängste zurück — vor Vergewaltigung und Überwältigung, vor erzwungener Vermischung, körperlicher Inbesitznahme und kultureller Eroberung.
Europa ringt angesichts der neuen Verschiedenheiten mit sich um Offenheit und um Sicherheit, um Integration und das Profil seiner inneren und äußeren Freiheit. Europa hat sich selbst zu behaupten und ist gezwungen, sich zu verändern: Die Welt, in die es vor Jahrhunderten ausgegriffen hat, die fremd und fern war und die man unterwarf, ist nun der Nachbar in derselben Stadt, derselben Straße. Wie viel Gleichheit gesteht man nun zu, wie viel »Vermischung«?
Gleichheit oder Unterschied?
Man kann mit dem Finger den Globus entlangwandern und wird nur wenige Regionen finden, in denen das Zusammenleben »ungleicher Paare« ohne Sonderbestimmungen auskommt.
Warum ist es so mühsam, Unterschiede der Herkunft und der Lebensform im Miteinander praktisch aufzuheben? Warum wurde im Verlauf der Geschichte wieder und wieder eine Politik betrieben, die Vermischung als »Unreinheit« verhindern wollte? Eine Antwort lautet: Vermischung bedeutete auch Gleichheit — und genau die wollte man nicht zugestehen. Von der einen und manchmal auch von der anderen Seite, von den Einheimischen, aber auch von denen, die kamen.
Gleichheit aber ist nun gerade das große Versprechen der...