Einleitung
Moderne Makroökonomie ist bestenfalls spektakulär nutzlos und schlimmstenfalls klar schädlich.
PAUL KRUGMAN (2009)1
Als ich die Gemeinwohl-Ökonomie, angespornt von einer Gruppe Unternehmer*innen und in Zusammenarbeit mit ihnen, entwickelte, wollte ich nicht primär eine wissenschaftliche Theorie vorlegen, sondern eine konkrete Alternative, die Menschen ohne abgeschlossenes Studium verstehen und Unternehmer*innen, Bürgermeister*innen und Schulen praktisch anwenden und weiterentwickeln können. Wir hatten selbstverständlich nicht nur mit Zustimmung gerechnet. Jede gesellschaftliche Veränderung löst Kritik, Befürchtungen und Widerstand aus. Nicht alle Menschen sind gleich offen für Innovation und Weiterentwicklung. Vor allem war uns klar, dass einige der Eckpunkte wie die Infragestellung grenzenloser Ungleichheit bei einem Teil der Besitzenden Abwehrreflexe hervorrufen würden – einschließlich eher unbeholfener Versuche, die GWÖ in verschiedene Ecken zu stellen: Sozialismus, Kommunismus, Nationalsozialismus, Populismus, Greenwashing, Esoterik … Fast alles war dabei. Einen konstruktiven Diskurs kann das verzögern, aber nicht verhindern. Umso erstaunter waren wir, dass ein vergleichsweise schroffer Gegenwind aus akademischen Kreisen pfiff. Mainstream-Ökonomen fühlten sich offenbar in ihrer Domäne gestört und in ihrer Deutungshoheit infrage gestellt, was Wirtschaft ist oder wie sie anders verstanden, praktiziert und politisch gestaltet werden könnte.
Sonderbare Argumente
Stutzig wurde ich durch die Argumente: Ich hätte »grundlegende Prinzipien der VWL« und »die Märkte nicht verstanden«, die GWÖ sei »keine Theorie«, »nicht wissenschaftlich«, ich sei ein »politischer Aktivist«, und schließlich, der Hauptvorwurf, dass die GWÖ ein »normativer« Ansatz sei – ja was denn sonst? Die GWÖ sagt ja prominent und transparent von sich, dass sie auf Beziehungs- und Verfassungswerten aufbaut, dass sie primär ein Wertesystem ist. Das gilt aber für jede Theorie über die Wirtschaft, egal ob Kapitalismus, Kommunismus, soziale Marktwirtschaft, Postwachstums- oder Care-Ökonomie. Und hier tat sich der Kernwiderspruch auf: Der Mainstream der Wissenschaft glaubt tatsächlich, dass die neoklassische Ökonomik eine wertfreie Wissenschaft sei. Das ist nicht nur eine mächtige Selbst- und Publikumstäuschung; wenn das eigene Wertesystem nicht transparent gemacht wird, handelt es sich um Ideologie. Umso mehr, wenn damit die bestehende Ordnung legitimiert wird, anstatt dringend benötigte Alternativen zu entwickeln.
Ideologie
Bei der neugierigen Nachschau, was sich unter der Oberfläche der merkwürdigen Abwehr von Alternativen verbirgt, stieß ich auf ein unübersehbares Ausmaß an vernichtender Kritik an der Mainstream-Ökonomik – von Ökonom*innen selbst! Die Kritik betrifft alle Ebenen der Wirtschaftswissenschaft – ihr wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis, ihre Geschichtsvergessenheit und Undefiniertheit, die Theorie- und Methoden-Einfalt, die haarsträubenden Annahmen und die Realitätsferne, die Mathematisierung und Modellversponnenheit, die Resistenz gegen Kritik und Interdisziplinarität, die Arroganz und die Machthierarchien, die Dominanz der Männer. Die Breitband-Kritik existiert seit vielen Jahren und in vielen Punkten sogar seit Jahrzehnten – doch sie prallt am orthodoxen Theoriegebäude und am Wissenschaftsbetrieb wie an der Chinesischen Mauer ab. »Neoklassische Ökonomen bewältigen Kritik, indem sie sie ignorieren«, schreibt der Renegat-Ökonom Steve Keen.2 Eine weitere Schwierigkeit: Durch das Undefiniertlassen mancher Kernkonzepte – allen voran des »freien Marktes« – entwindet sie sich der Möglichkeit einer konkreten Dekonstruktion.3 Kritikresistenz und -immunisierung sind weitere Erkennungsmerkmale von Ideologien.
Vertrauen im Abgrund
Kritikoffenheit, Selbstreflexion und Demut stünden der Wirtschaftswissenschaft jetzt gut zu Gesicht. Der neoklassische Mainstream war nicht nur unfähig, die Finanzkrise vorherzusehen, er hat sich grundlegend verrannt: Der Fokus auf Finanzkennzahlen, der Wachstumsfetischismus, die Mathematisierung und das absurde Menschenbild tragen zum sinkenden Ansehen der Zunft in der Bevölkerung bei. Eine FORSA-Umfrage in Deutschland ergab 2015, dass Wirtschaftsexperten nur bei einem Viertel der unter 34-Jährigen »alles in allem einen vertrauenswürdigen Eindruck machen«.4 Eine YouGov-Umfrage 2017 unter zweitausend Brit*innen ergab, dass die Menschen den Wissenschaftler*innen im Schnitt zu sechzig Prozent vertrauen, hingegen liegt der Wert für Ökonom*innen bei minus zwanzig Prozent!5 Ein Schelm, wer darin eine Mitursache für den Brexit sieht. Die Bevölkerung erwartet von den Wissenschaftler*innen Antworten auf die brennenden Probleme der Gegenwart: Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Machtkonzentration, Klimawandel, Artensterben, Demokratieerosion, Sinnverlust … Ich zähle die neoklassische Mainstream-Wirtschaftswissenschaft nicht nur zu ihren Hauptverursachern, ich gehe mit Steve Keen konform, dass die »neoklassische Wirtschaftswissenschaft (…) gegenwärtig das größte Hindernis beim Verständnis dafür ist, wie die Wirtschaft tatsächlich funktioniert«.6
Von daher prognostiziere ich, dass die Mainstream-Ökonomie genauso wenig, wie sie in der Lage war, die Finanzkrise – auf ihrem Kerngebiet – vorherzusagen, in der Lage sein wird, kommende Krisen – Klima, Verteilung, Konzernmacht, Demokratie – vorherzusehen. Inklusive soziale Unruhen und Verteilungskrisen. Sie sah auch weder Pegida noch Trump, noch die Gelbwesten kommen. Und auch nicht den Terror. Dieser ist ja die radikalste Kontraindikation zur Erzählung mancher Ökonomen, dass der Gesamtzustand der Welt so gut wie nie zuvor sei, weil Kapitalismus und Freihandel weltweit Wohlstand schafften. Wie ist es zu erklären, dass der Terror ausgerechnet dann beginnt, wenn die Armutszahlen rückläufig und Demokratien weltweit auf dem Vormarsch sind?
Studierendenproteste
Ein zweiter Verstörungsmoment war, dass ich bei Vorträgen allerorts tief frustrierte und existenziell verstörte Studierende antraf, weil sie mit ihren brennenden Fragen zum Zustand der Welt kein Gehör und sich stattdessen in einem sterilen Modell-Labor ohne Realitätsbezug wiederfanden. Ihre Fragen werden nicht nur gar nicht behandelt, sie werden häufig auf andere Studien verwiesen – Ökologie, Philosophie – oder sogar persönlich brüskiert, dass sie mit solchen »Gutmenschen«-Fragen daherkämen. Ständig werde ich und wird die Gemeinwohl-Ökonomie nach alternativen Wirtschaftsstudien gefragt.
Aktuell studieren Millionen junger Menschen an Tausenden von Business Schools und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten Ökonomik oder haben einführende Vorlesungen in ihren Curricula. Dabei werden sie nicht umfassend, universell, plural und selbstreflexiv geschult, sondern monistisch, mathematisch, unkritisch, unpolitisch und verdeckt ideologisch. Die führenden Lehrbücher – Samuelson, Mankiw, Varian, Blanchard, Pindyck/Rubinfeld … – haben eine anti-aufklärerische Wirkung, sie richten laufend weiteren und großen Schaden an.
Der Protest entzündete sich deshalb auch innerhalb der Disziplin. In Frankreich gründete sich 2000 ein Netzwerk für »postautistische Ökonomik«, in Großbritannien ging »Rethinking Economics« an den Start, in Deutschland und Österreich entstanden die Netzwerke für Plurale Ökonomik, die sich 2014 international mit anderen Initiativen zur International Student Initiative for Plural Economics (ISIPE) zusammenschlossen. In einem öffentlichen Brief schreiben die Nachwuchs-Ökonom*innen: »Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird (…) Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat.« Das Netzwerk fordert, »die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen«.7
Diesem Ziel ist auch das vorliegende Buch gewidmet. Zunächst geht es darum, die Kritik am neoklassischen Mainstream, dem Unterricht und den Lehrbüchern, die auch zu den studentischen Protesten und Alternativbewegungen geführt hat, in eine verständliche Übersicht zu bringen – für alle Interessierten, nicht nur für Ökonom*innen. Ich verstehe mich bei dieser Übung als Wissenschaftsjournalist. Die panoptische Zusammenschau der Kritik ermöglicht ein Gesamtbild, das wiederum der Ausgangspunkt für einen Neuanfang sein kann, für eine ganzheitliche Ökonomik.
Insbesondere richtet sich das Buch an Studierende der Wirtschaftswissenschaft sowie Studierende der Politologie, Soziologie oder Jus, die durch einführende Lehrveranstaltungen in Mikro-/Makroökonomie durchmüssen und dabei den schlechtesten Teil des Lehrangebots abbekommen. Es möchte ihnen alternative Vorstellungen von Wirtschaft und Wissenschaft anbieten und Werkzeuge in die Hand geben, das, was sie im Studium kennengelernt haben, zu hinterfragen, zu reflektieren und zu dekonstruieren. Es gibt nicht eine ökonomische »Denkweise« (Mankiw), es gibt viele. Es gibt eine Pluralität von Theorien, Methoden und Erkenntnisweisen und Wirtschaftspraktiken. Der Markt ist nur eine davon, und er muss sich genauso den demokratischen Spielregeln unterordnen wie alle anderen. Wir brauchen weder eine »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel) noch eine...