Kapitel 1
»Musik versteht man überall«
Die Musik und das Interesse für das Weltgeschehen füllen sein Leben seit der Kindheit aus. Die Erste bereitet ihm Freude, das Zweite meist nur Ärger. Tatsächlich verursachte ihm die Politik schon in frühen Jahren eine große Enttäuschung.
Adam Fischer, 1949 in Budapest geboren, begann Anfang September 1956 kurz vor seinem siebten Geburtstag die Elementarschule. Die Politik — eher: die Weltgeschichte — mischte sich indes ein. Bereits Ende Oktober verhinderte sie für eine gute Weile die weitere musikalische Ausbildung des Erstklässlers. Die ungarische Revolution brach aus, und an Schulunterricht war lange nicht mehr zu denken. Als dann der kleine Adam im Herbst 1957 die zweite Klasse besuchte, erkundigte er sich indigniert, warum es diesmal von Oktober bis Februar nicht die gleichen langen Schulferien gebe wie im Jahr zuvor. Dem achtjährigen Kind eine einleuchtende Erklärung zu geben mochte nicht einfach sein.
Die Fischers hatten ihre Wohnung in Budapest gleich gegenüber der Staatsoper — ein gutes Zeichen für die spätere Dirigentenlaufbahn der beiden Brüder Adam und Ivan. Die Rede ist von der breiten, 2,3 Kilometer langen Prachtstraße, die vom innerstädtischen Kleinen Ring pfeilgerade zum Heldenplatz führt. Man hatte sie in der Gründerzeit, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in ihrer heutigen Form angelegt. Erst trug sie den prosaischen Namen Radialstraße, 1885 benannte man sie nach Graf Gyula Andrássy, dem früheren Außenminister Österreich-Ungarns. Freilich, in den düsteren Jahren vor 1956 hieß sie, auch äußerlich herabgekommen, Stalin-Straße.
Adam hatte einen langen Schulweg, er dauerte wohl eine Dreiviertelstunde. An der Andrássy-Straße (die Budapester nannten sie weiterhin so, und den Namen bekam sie nach 1989 wieder zurück) nahm er den Autobus Nummer 1 und stieg dann an der Astoria-Ecke in den Bus der Linie Nummer 5. Dieser brachte ihn aus der Pester Innenstadt über die Kettenbrücke ans rechte Donauufer, nach Buda, und dort in das immer noch vornehme Villenviertel Pasarét. In diesem schon grünen Außenbezirk bestand die einzige, damals als Versuchsbetrieb bezeichnete Musik-Volksschule der Hauptstadt.
Erziehung im Zeichen der Musik hatte in der Familie Fischer das Leben der Kinder bestimmt. Dass sie alle Musiker werden sollten, wurde ihnen sehr wohl an der Wiege schon gesungen. Und so setzte nun Adams eigentliche, fachgerechte musikalische Ausbildung auf Wunsch des Vaters gleich in der ersten Klasse ein. Mit sechs Jahren bestand er seine erste Prüfung im Leben; um aufgenommen zu werden, musste er ein bisschen singen und damit von einem guten Gehör Zeugnis ablegen, ferner als Beweis der Intelligenz einige harmlose Fragen meistern. Bei Letzteren ging etwas beinahe schief. »Du wirst von Zeit zu Zeit gebadet und gepflegt, wie viele Nägel schneidet da deine Mama im Badezimmer?« So wurde er gefragt, und seine Antwort lautete zur Verblüffung aller: »Sechzig.« Auf das »Ja, aber« der Prüferin ergänzte er: »Wir sind eben drei Geschwister.«
Adam am Klavier und Ivan an der Geige, Budapest 1955
Daran, dass er ein gescheiter Kopf sei, zweifelte hernach niemand mehr, und so wurde er Schüler der Musikschule, wo der Unterricht der Methode des Komponisten Zoltán Kodály folgte. Tägliches Singen, Chorgesang, Solfeggio, Training des Gehörs und des rhythmischen Gefühls sollten im frühesten Alter die Grundlagen nicht nur für künftige Musiker, sondern auch für Laien schaffen. Denn Kodály war der Überzeugung, Musikverständnis sei das beste Mittel, um das Humane im Menschen zu wecken und zu bewahren.
An den 23. Oktober 1956, den Tag, an dem die Ungarische Revolution begann, erinnert sich Fischer vorab im Sinn eines ihm erspart gebliebenen traumatischen Erlebnisses. In den ersten Schulwochen pflegte Adam noch nicht die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen; zusammen mit Ivan, dem jüngeren Bruder, und anderen Kindern, deren Eltern, so wie Adams Vater, im Radiostudio arbeiteten, durfte er den Schulbus des Radios nehmen, der — wegen seiner herzhaft schlechten Federung »Grashüpfer« genannt — jeden Tag nach Buda zum radioeigenen Kindergarten fuhr; zur Musikschule war es von dort nicht mehr weit.
Auf der Rückfahrt am Nachmittag des fraglichen Tags kam der »Grashüpfer« wegen der Massendemonstrationen in der Stadt nicht durch, er verspätete sich erheblich. Auch schafften es nicht alle Väter und Mütter, sich den Weg zum Radiostudio zu bahnen, um dort ihre Kinder rechtzeitig abzuholen. Adams Vater allerdings war zur Stelle und brachte die zwei Jungen eilig nach Hause. Einige andere aber, deren Eltern ausgeblieben waren, wurden in der Folge im Studiogebäude verängstigte Zeugen der ersten bewaffneten Kämpfe, welche die Aufständischen und die Staatssicherheit um den Besitz des Radios führten.
Geblieben sind ihm einige weitere Erinnerungen an die Zeit des Volksaufstands, allerdings sind es scharfe Bilder: Kolonnen sowjetischer Panzer rasseln unter dem Fenster dahin; Schüsse hallen; die Einwohner des großen Mietshauses, Alte, Junge, Familien mit Kindern, ducken sich im Keller, während oben in der Stadt Kämpfe toben.
Nach der Erdrosselung des Aufstands durch die Sowjetarmee »normalisierte sich« das Leben, wie es im amtlichen kommunistischen Jargon hieß, nur langsam. Das Haus, in dem die Fischers wohnten, war immer noch das gleiche, doch die Straße, in der es stand, hatte ihren Namen mehrmals geändert; war sie in den Revolutionstagen nach der »ungarischen Jugend« benannt worden, so hieß sie nun — deutliches Zeichen der wiederhergestellten Machtverhältnisse — Straße der Volksrepublik.
Musik hatte die drei Kinder der Familie Fischer von klein auf umgeben, und zwei von ihnen sind in der Tat erfolgreiche Dirigenten geworden: der 1949 geborene Adam und sein knapp ein Jahr jüngerer Bruder Ivan. Die kleine Schwester Eszter, 1953 auf die Welt gekommen und für eine ähnliche Laufbahn bestimmt, gewann dagegen als Halbwüchsige die Überzeugung, dass ihr die Begeisterung für den Musikerberuf, die an Fanatismus grenzende Ausdauer fehlten und dass ihr Talent auf anderem Gebiet lag. Zum großen Schmerz des Vaters, der seinen Traum vom häuslichen Nachwuchs-Trio — Adam am Klavier, Ivan als Cellist und Eszter als Violinistin — schwinden sah, beschloss sie, den beiden Brüdern auf deren Weg nicht zu folgen.
Ivan (links), Eszter und Adam mit ihrem Vater, Budapest 1958
Was es mit dieser Familie und ihrer musikalischen Welt auf sich hatte, kann der Außenstehende nicht ganz leicht nachvollziehen. »Außer Musik gab es bei uns nichts«, erinnert sich Eszter heute, und dies war das eine, die »holde Kunst«, wie sie im Schubert-Lied gepriesen wird. Das andere aber: die so gar nicht holde europäische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert und darin das besondere Unglück Ostmitteleuropas, das in rascher Folge gleich zwei totalitäre Regime erleiden musste. Miteinander zu tun hatten Musik und Politik in der Auffassung der Fischers insofern, als die Zeitläufte — Krieg, Verfolgung und Diktaturen — den Eltern jenseits der großen Liebe zur Musik auch eine Überzeugung eingepflanzt hatten: Die Kinder sollten das von Schicksalsschlägen wiederholt betroffene und immer wieder von extremen Kräften beherrschte Ungarn verlassen und, wenn immer möglich, ihr Glück als Musiker im Ausland suchen.
So geradlinig freilich gestalteten sich dann die Dinge im Leben nicht. Um es vorwegzunehmen: Adam wie Ivan erhielten ihre höhere Ausbildung tatsächlich in Wien und machten danach zuerst im Ausland Karriere. Doch auf ihre ungleiche Art — Ivan beständiger, Adam sporadischer präsent — blieben sie beide mit Ungarn und seiner Kultur eng verbunden; hoffnungsvoll und dann wieder enttäuscht, nicht selten auch empört, doch stets wach verfolgten sie ebenso die politischen Wandlungen im Alltag ihres Geburtslandes.
Musik und Politik als Schicksal — die Eltern hätten sich gern einzig um ihre Kunst gekümmert und auf die Politik verzichtet, doch die Politik leistete keinen Verzicht und kümmerte sich aufs Grausamste um sie. Der Vater, Sándor Fischer, der an der Budapester Musikakademie studiert hatte, war Komponist und Übersetzer von Operntexten, und als Dirigent spielte er mehrere Instrumente: Klavier, Violine und Klarinette. Seine Frau Eveline, der man in der Familie der Kürze wegen den Namen Eva gab, hatte ihre Laufbahn als Sängerin krankheitshalber abbrechen müssen. Beide gehörten zu jenen zahlreichen assimilierten und ganz verweltlichten ungarischen...