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Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus (Leben Lernen, Bd. 303)

Seelische Verletzlichkeit in der Psychotherapie

AutorWolfgang Schmidbauer
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783608110852
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
In zahlreichen Fallgeschichten aus der Praxis und mit Therapie-übergreifenden Reflexionen nähert sich der Autor dem Phänomen der individuellen Kränkbarkeit - ohne Diagnosemacht und vorschnelle Verallgemeinerung. Die häufigste Ursache von zwischenmenschlichen Problemen liegt in unserer Kränkbarkeit. Heute sprechen wir so gerne wie undifferenziert von narzisstischer Kränkung, wenn wir uns in unserem Ehrgefühl, Stolz oder einfach in unserem Innersten getroffen fühlen. Wolfgang Schmidbauer lotet in diesem Buch die Tiefe und Weite seelischer Verletzbarkeit aus, ohne vorschnell Diagnosen zu verteilen. Er berichtet von seinen Patienten, die als Einzelne oder Paare seine Praxis aufsuchen, weil sie - nicht selten - an einer Kränkungsgeschichte leiden. Das Buch löst eher Suchbewegungen aus, als handfeste Thesen in den Raum zu stellen: Ist erhöhte Verletzlichbarkeit vererblich? Wo verläuft die Grenze zwischen Egoismus und Narzissmus? Was hat der Selbstwert mit Kränkbarkeit zu tun? Wer den Suchbewegungen des Autors folgt, wird sowohl Patienten als auch sich selbst in seiner individuellen Kränkbarkeit besser verstehen.

Wolfgang Schmidbauer,Dr. phil., Psychoanalytiker, Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie, lebt in München und Dießen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Fach- und Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, ist er auch Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Er ist Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Leseprobe

Kapitel 1

Das Geheimnis des verschleierten Bildes


In der Tat überschreitet der Wert, den wir auf die Meinung anderer legen, und unsere beständige Sorge in betreff derselben, in der Regel, fast jede vernünftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein verbreiteter, oder vielmehr angeborener Manie angesehen werden kann. Bei allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die fremde Meinung berücksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei genauer Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Ängste, die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt allem unseren, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen, Selbstgefühl, allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen, wie auch unseren Prunken und Großtun, zugrunde.

Schopenhauer, Aphorismen (ed. Gutenberg) Kap. 5

»Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.«

Friedrich Schiller, Vom Erhabenen (1793)

Wer Freuds Arbeit von 1914 »Zur Einführung des Narzissmus« mit dem Wissen um die erbitterten Auseinandersetzungen und verworrenen Begriffsbildungen der späteren Theoretiker liest, den überrascht, wie oft die Modelle seiner Nachfolger diesem Entwurf unterlegen sind. Allerdings hat Freuds Modell sperrige Qualitäten, die sich einerseits aus seiner historischen Situation ableiten lassen, anderseits mit seinen Bedürfnissen als Praktiker der Analyse und als Gründer der analytischen Bewegung zusammenhängen.

Freud hat den Begriff aus einer wissenschaftlichen Strömung gefischt, die um die Wende zum 20. Jahrhundert sehr in Mode war und von deren Kraft auch er profitierte: der Beschreibung und Klassifikation sexueller Perversionen, mit denen die aufstrebende Psychiatrie nach gesellschaftlicher Geltung suchte.

Narzissmus wird nach den Vorarbeiten des deutschen Psychiaters Paul Näcke und des amerikanischen Psychologen Havelock Ellis in den Lehrbüchern zuerst als eine sexuelle Besetzung des eigenen Körpers definiert, die eher Frauen als Männer trifft. Sie äußert sich darin, dass der Anblick eigener Körperteile oder eines Spiegelbildes sexuell erregend wirkt und Selbstbefriedigung induziert.

Die Störung sei extrem selten, bemerkt Näcke. Er gibt an, sie unter 1500 untersuchten Psychiatrie-Patienten nur einige Male gefunden zu haben. Das liegt daran, dass Näcke ausdrücklich fordert, Narzissmus und Eitelkeit zu unterscheiden; Narzissmus in seinem Sinn liege nur vor, wenn jemand ausschließlich durch den Anblick des eigenen Körpers zum Orgasmus gelange.

Der Begriff orientierte sich also eng am griechischen Mythos, der von Kennern als »moralische Fabel« eingestuft wird.12 Narziss ist dort ein Liebes-Verweigerer, der mit unerfüllbarer Selbstliebe gestraft wird und verschmachten muss, bis er durch die Verwandlung in eine Blume erlöst wird, die sich – wie er – am Rand von Gewässern in diesen spiegelt.

Freud dreht die Frage der konventionellen Psychiater nach den Ursachen der Ausnahmeerscheinungen Perversion oder Psychose um. Weshalb sind wir denn nicht alle pervers? Was geschieht, um ein von entsprechenden Impulsen geprägtes Frühstadium zu überwinden? Irgendwann einmal »wollte« jeder von uns nicht nur den Vater erschlagen und die Mutter heiraten, sondern war auch in sich selbst und gleichzeitig, da die Grenze fehlte, in seine Mutter unsterblich verliebt.

Wir alle sind in dem psychoanalytischen Modell zu Beginn unserer Entwicklung »Narzissten«. Die Annahme eines primären Narzissmus lässt uns seelische Merkmale von Kindern verstehen, deren Muster sich auch bei Zwangskranken und im Größenwahn finden – der Glaube an die »Allmacht der Gedanken«, an die Zauberkraft der Worte, an die Magie schlechthin, die Freud als »Anwendung dieser größensüchtigen Voraussetzungen« charakterisiert.13

Jeder körperlich Kranke zieht seine Libido auf sein Ich zurück und besetzt die Umwelt erst wieder, wenn er geheilt ist; Freud zitiert hier Wilhelm Buschs Beschreibung des Zahnschmerzkranken aus Balduin Bählamm:

Das Zahnweh, subjektiv genommen,

Ist ohne Zweifel unwillkommen;

Doch hat’s die gute Eigenschaft,

Daß sich dabei die Lebenskraft,

Die man nach außen oft verschwendet,

Auf einen Punkt nach innen wendet

Und hier energisch konzentriert . . .

Denn einzig in der engen Höhle

Des Backenzahnes weilt die Seele!

Die Hypochondrie wurde im 18. Jahrhundert vielfach als »männliche Hysterie« beschrieben.14 Freud konstruiert eine Systematik, wonach die Hypochondrie narzisstische Ängste, Hysterie und Zwangsneurose hingegen neurotische Ängste spiegeln. Er vermutet, dass die libidinöse Besetzung des Ichs sozusagen eine natürliche Grenze habe – »ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muss man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muss erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann«.15

In dieser frühen Formulierung sind »Egoismus« und »Narzissmus«, die heute durchweg unterschieden werden, für Freud noch so bedeutungsähnlich, dass er unbefangen den alltagsnahen Begriff verwendet.

Am wichtigsten ist die dritte Beobachtung Freuds: Er geht davon aus, dass der Säugling sein Liebesobjekt den Erlebnissen von Bedürfnisbefriedigung entnimmt. Die Mutter, welche das Kind versorgt, ist das erste Liebesobjekt; eine Beziehung aufgrund von Bedürfnisbefriedigung nennt Freud die Liebeswahl vom Typus der Anlehnung, gegen die er nun die speziell narzisstische Liebeswahl abgrenzend setzt.

Nach dem narzisstischen Typus der Objektwahl liebt man

  1. was man selbst ist (sich selbst) – das würde Freud auch Egoismus nennen,

  2. was man selbst war – hierher gehört Oscar Wildes Erzählung vom Bildnis des Dorian Gray ebenso wie die klinischen Beobachtungen an Patienten, die ständig über einen verlorenen Zustand des eigenen Seins klagen – etwa über die verlorene Jugend,

  3. was man selbst sein möchte – hier spielen elterliche Aufträge mit, ein Held, eine Prinzessin zu werden, um Vater oder Mutter zu trösten, aber auch eigene Entwürfe, die Freud wenig später das »Ich-Ideal« nennt,

  4. die Person, die ein Teil des eigenen Selbst war, später Selbstobjekt genannt.

Freud rekonstruiert den Narzissmus des Kindes vor allem aus der überschätzenden Liebe der Eltern, in der sich der eigene, längst aufgegebene Narzissmus dieser Eltern reproduziert. »Das Kind soll es besser haben als die Eltern, es soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht unterworfen sein . . . His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte.«16

Freud fasst zusammen: »Ein Anteil des Selbstgefühls ist primär, der Rest des kindlichen Narzissmus, ein anderer Teil stammt aus der durch Erfahrung bestätigten Allmacht (der Erfüllung des Ich-Ideals), ein dritter aus der Befriedigung der Objektlibido.«17

Freud hat auch die heute unter dem Sammelbegriff der »Selbstobjektbeziehung« beschriebenen Erscheinungen bereits beobachtet und eingeordnet. Um den Abstand zwischen Ich und Ich-Ideal auszugleichen, wählt sich der Neurotiker ein Sexualideal nach dem narzisstischen Typus, »welches die von ihm nicht zu erreichenden Vorzüge besitzt. Dies ist die Heilung durch Liebe, welche er in der Regel der analytischen vorzieht. Ja, er kann an einen anderen Mechanismus der Heilung nicht glauben, bringt meist die Erwartung desselben in die Kur mit und richtet sie auf die Person des ihn behandelnden Arztes. Diesem Heilungsplan steht natürlich die Liebesunfähigkeit des Kranken infolge seiner ausgedehnten Verdrängungen im Weg. Hat man dieser durch die Behandlung bis zu einem gewissen Grade abgeholfen, so erlebt man häufig den unbeabsichtigten Erfolg, dass der Kranke sich nun der weiteren Behandlung entzieht, um eine Liebeswahl zu treffen und die weitere Herstellung dem Zusammenleben mit der geliebten Person zu überlassen. Man könnte mit diesem Ausgang zufrieden sein, wenn er nicht alle Gefahren der drückenden Abhängigkeit...

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