Heidi Simoni
Frühe Kinderwelten: Bereits Säuglinge und Kleinkinder spielen und lernen zusammen
Was brauchen sie dafür von uns?
Einleitung
Entwicklungspsychologische Erkenntnisse korrespondieren mit einem Bildungsverständnis und frühpädagogischen Konzepten, die den Blick auf Kleinstkinder als Subjekte ihrer Entwicklung und auf die Bedeutung früher Kinderwelten richten. Bereits Säuglinge zeigen in Gruppen mit Gleichaltrigen bemerkenswerte Verhaltensweisen. Kinder ab dem zweiten Lebensjahr erweitern und üben ihr Repertoire sozialer Kompetenzen mit anderen Kindern unermüdlich. Dies gilt für die als prosozial bezeichneten Fähigkeiten wie Mitgefühl zeigen, helfen, trösten, Rücksicht nehmen und kooperieren ebenso wie für Fähigkeiten, die eigenen Interessen gegenüber anderen zu vertreten, sich durchzusetzen, Kompromisse auszuhandeln und sich in konflikthaften Situationen emotional zu regulieren. Der Austausch mit vertrauten Kindern ermöglicht offensichtlich Erfahrungen, die das Lernen in Kind-Erwachsenen-Settings essentiell ergänzen.
Koregulation – Regulation – Lernen
Dass das Kleinkind bei der Regulation seines Befindens ausreichend unterstützt wird, ist für die frühe Entwicklung und über die gesamte Lebensspanne hoch bedeutsam. Es handelt sich dabei allerdings von Anfang an um einen gegenseitigen Regulationsprozess (vgl. dazu Gianino & Tronick 1988). Die Abstimmung zwischen Bezugsperson und Baby sorgt für die Erfahrungen, welche die Basis für die sich rasch erweiternden Fähigkeiten zur Selbstregulation und Selbststeuerung des Säuglings sind. Diese Kompetenzen wiederum sind für das weitere Lernen und die Bildungsbiografie eines Menschen außerordentlich wichtig. Sogar mit einem kurzen Laborexperiment ließ sich zeigen, dass Kinder in entspanntem Zustand flexibel auf eine Herausforderung reagieren können, sich dagegen rigide verhalten, wenn sie gestresst sind (bzw. wurden). Sie zeigen dann ein eingeschränktes Repertoire an Strategien, was das Lösen einer Aufgabe behindert (Seehagen et al. 2015).
Die überaus große Bedeutsamkeit liebevoller, aufmerksamer und verlässlicher Zuwendung kann den Blick leicht zu eng auf Fürsorge- bzw. Bindungsverhalten lenken. In einem Forschungsprojekt renommierter Bindungsforscher zeigte sich jedoch, dass neben der Qualität der Bindung weitere elterliche Merkmale, beispielsweise ihres Verhaltens im Spiel mit den Kindern, für die Entwicklung bis ins Jugendalter relevant sind (Grossmann & Grossmann 2005).
Das Bindungskonzept liefert einen sehr guten Bezugsrahmen, wenn es nicht verkürzt verwendet wird, sondern – wie darin angelegt – Motive und Verhaltensweisen der kindlichen Suche nach Beruhigung und Sicherheit wie nach Erregung und Anregung berücksichtigt werden. So befasst sich etwa das sogenannte Zürcher Modell zum Bindungskonzept ausdrücklich mit der Rolle und Entwicklung verschiedener motivationaler Systeme in der frühen Kindheit (vgl. dazu Bischof-Köhler 2011). Es bietet damit eine gedankliche Ausgangsbasis, um sich aus zwei Perspektiven mit Überforderung und Unterforderung von Kindern zu beschäftigen. Erfährt ein Kind nicht ausreichend Geborgenheit und Beruhigung durch seine Bezugspersonen oder – selbst für eine sichere Bindung – zu viel Aufregendes und Neues, raubt ihm dies Lust und Energie, sich neugierig der Welt zuzuwenden und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Werden jedoch sein Sicherheitsbedürfnis über- und seine Bedürfnisse nach Anregung unterschätzt, langweilt es sich und wird dadurch in seinem Entdeckungsdrang und Lernen eingeschränkt.
Wo die Balance zwischen den beiden basalen motivationalen Systemen der Sicherheits- und Anregungssuche liegt und für Wohlbefinden, Lernen und Entwicklung sorgt und wo sie aus dem Lot gerät, hängt von Verschiedenem ab. Persönliche Merkmale (Temperament), der Entwicklungsstand und anstehende Entwicklungsschritte sowie bisherige Beziehungs- und Lernerfahrungen spielen eine Rolle und interagieren. Die beiden letzteren sind das Ergebnis der bisherigen und der Ausgangspunkt der künftigen Entwicklung. Sie bestimmen mit, wie neugierig und zuversichtlich sich ein Kind auf die Umgebung einlassen kann. Verlässliche und liebevolle Bezugspersonen helfen ihm, sich bei Bedarf zu beruhigen und Erfahrungen fruchtbar zu verarbeiten. Sie trauen und muten ihm passend zu seinen Fähigkeiten und Interessen etwas zu und freuen sich über sein Erkunden und Lernen.
Aus den Reaktionen der Bezugspersonen und aus ihren eigenen Erfahrungen lernen Kinder, die Umwelt und sich selbst nach und nach einzuschätzen. Vielfältige Lernerfahrungen ermöglichen es dem Kleinkind, ein positives Konzept von sich als lernendem und lernfähigem Wesen zu erwerben. Entgegen früheren Annahmen hat die neuere Forschung gezeigt, dass Säuglinge bereits von Geburt an neugierig und »bildungshungrig« sind und versuchen, mit all ihrer Energie die Welt um sie herum zu verstehen (Gopnik et al. 2000).
»Kinderwelten« ermöglichen
Der Blick über das notwendige, aber für Entwicklung nicht ausreichende Fürsorge- und Bindungsverhalten hinaus führt zur Beschäftigung mit frühen Kinderwelten und ihrer Bedeutung. Das Thema ist seit Jahrzehnten und auch aktuell Gegenstand psychologischer, pädagogischer und soziologischer Forschung (Rauh 1984; Vandell 1980; Vandell & Wilson 1987; Youniss 1994; Howes 1996; Viernickel 2000, 2013) und wird immer wieder auch als Schwerpunktthema diskutiert (Deutsche Liga für das Kind, 2017).
Trotzdem werden Erkenntnisse über frühe Beziehungen zwischen Kindern in weiten Teilen der Fachwelt, die sich mit gelingender und misslingender kindlicher Entwicklung beschäftigt, erstaunlich wenig rezipiert; dies gilt insbesondere für die »Bindungscommunity«. Umgekehrt setzen sich Fachpersonen, die zu frühpädagogischen Fragen forschen, in Kitas und Spielgruppen arbeiten oder für die entsprechenden Angebote Verantwortung tragen, intensiv mit dem Bindungskonzept und der Bindungsforschung auseinander.1
Die Auseinandersetzung mit frühen Kinderwelten scheint nicht zuletzt deshalb dringend, weil viele junge Kinder auch diesbezüglich unter wesentlich anderen Umständen aufwachsen als ihre Eltern und Großeltern. Natürlich gibt es sie noch, diese Kinder aus meist mittelständischen Familien, die, eingebettet in Verwandtschaft und Nachbarschaft, selbstverständlich umgeben von anderen Kindern groß werden. Viele Kinder verbringen ihre Kindheit jedoch räumlich und sozial in zunehmender Verinselung (vgl. dazu Meyer 2012). Sie sind auf den Goodwill sowie buchstäblich auf die Hand (resp. das Auto) meist hauptsächlich der Mutter angewiesen, um überhaupt Zeit mit anderen Kindern verbringen zu können. Untersuchungen zeigen, dass dieses Phänomen keineswegs auf den Gegensatz zwischen verarmten Stadtwelten und heilen Landwelten reduziert werden kann (MMI 2015).
Was das Fehlen früher Kinderwelten bedeutet und welche Auswirkungen damit einhergehen, ist wissenschaftlich, alltagspraktisch und politisch noch kaum auf dem Radar. Die Veränderung von Familienkonstellationen und Sozialräumen legt jedoch die Frage nahe, wie Kinder bereits früh und selbstverständlich mit anderen Kindern zusammenkommen können. Die Herausforderung, Kontakte unter Kindern zu ermöglichen und entsprechende Kinderwelten bereitzustellen und zu gestalten, stellt sich für jede Gemeinde, unabhängig von ihrer Größe und geografischen Lage. Die Aufgabe betrifft die Raum- und Stadtplanung ebenso wie die Bereitstellung bedarfsgerechter familienergänzender Angebote. Aus kinderpsychologischer und familiensoziologischer Sicht haben Kitas und Tagesfamilien auch diesbezüglich viel Potential, können sie doch wertvolle Kinderwelten schaffen.
Bei der Überlegung, wie Kitas im Interesse von Kindern konzipiert und geführt werden können, schließt sich der Kreis zwischen Erkenntnissen der Bindungsforschung, der Entwicklungspsychologie und der Frühpädagogik: Damit ein junges Kind neugierig und aktiv sein kann, muss es sich wohl und sicher fühlen (Wustmann Seiler & Simoni 2016, S. 37 f.; Mögel et al. 2009).
Um eine verantwortungsvolle Betreuung für Kinder unter drei Jahren sicherzustellen, sind gute Betreuungsangebote und eine zeitgemäße Familienpolitik erforderlich. Beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wie die große, längsschnittlich angelegte Studie der NICHD...