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Die Globalisierung und ihre Kritik(er)

Zum Stand der aktuellen Globalisierungsdebatte

VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl249 Seiten
ISBN9783531906249
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Der Band gibt einen Überblick zur aktuellen Debatte über Globalisierung.

Dipl.- Päd. Ivonne Bemerburg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Dortmund.
Dr. Arne Niederbacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Universität Dortmund.

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Leseprobe
II. Weltkultur, Ökonomie, Sozial- und Bildungspolitik (S. 74-75)

Globalisierungskritik und Weltkultur

Boris Holzer und Barbara Kuchler

Dass Teilnehmer am sozialen Leben sich über sich selbst täuschen können, ist eine geläufige Erkenntnis der Sozialwissenschaften. Ein Spezialfall hiervon liegt dann vor, wenn ein Akteur sich täuscht über das Ausmaß, in dem er selbst von dominanten sozialen Strukturen abweicht. Typischerweise überschätzen Akteure dabei das Ausmaß ihrer Devianz vom gesellschaftlichen Mainstream und unterschätzen das Ausmaß ihrer Konformität.

So hat sich etwa herausgestellt, dass eine große Zahl von Amerikanern, die ihre eigenen Sexualpraktiken für deviant und pervers hielten, in Wirklichkeit Vertreter des gesellschaftlichen Durchschnitts, also ganz normal waren (Kinsey 1948, 1953). Ebenso wurde gezeigt, dass Kriminelle, die – sich selbst oder anderen – auf den ersten Blick als deutlich abweichend erscheinen, unter Umständen denselben Werten anhängen wie der Rest der Gesellschaft und nur andere, unkonventionelle Mittel zu ihrer Erreichung einsetzen (Merton 1949). In den beiden genannten Fällen handelt es sich um eher unbeabsichtigte, ‚zufällig’ anfallende Devianz (bzw. vermeintliche Devianz).

Dasselbe gilt jedoch auch für stärker beabsichtigte und identitätsrelevante Fälle von (vermeintlicher) Devianz. So ist etwa der Kommunismus bzw. real existierende Sozialismus, der sich selbst als Gegenentwurf zum Kapitalismus und zur bürgerlichen Gesellschaft als solcher verstand, soziologisch gesehen nur eine Variante derselben modernen Gesellschaft mit denselben grundlegenden Zielen wie Industrialisierung, Produktionssteigerung, Steigerung des Lebensstandards, Technologieentwicklung, Säkularisierung, aktive Gestaltung der Zukunft u.ä., die nur leicht abgewandelte institutionelle Strukturen zur Erreichung dieser Ziele vorsieht (Staatseigentum statt Privateigentum, Einparteiensystem statt Mehrparteiensystem) (Aron 1958: 36, 46, Parsons 1962, 1964).

Ebenso übernehmen auch islamische Fundamentalisten und andere neuere Vertreter der „Gegen-Moderne" (Beck 1993: 99ff.) in weiten Teilen die Zielvorstellungen der modernen Gesellschaft, etwa in Bezug auf Bildung und Ausbau des Staates, Verwaltungskapazität, nation- building, zivile und militärische Technologie, Bildungs- und Gesundheitssystem usw. und setzen sich nur in bestimmten, ausgewählten Punkten davon ab (etwa Stellung der Religion, Stellung der Frau) (Meyer 2005: 110f.). Aus all dem kann man lernen, dass Abweichung und Dagegensein immer nur stark selektiv und auf Grundlage einer weitgehenden Überstimmung mit dem gesellschaftlichen Mainstream möglich ist.

Dies gilt auch dann, wenn in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der relevanten Akteure das Element der Abweichung heraussticht und das Element der Überstimmung demgegenüber stark in den Hintergrund tritt.2 Diese allgemeine Wahrheit gilt auch für die seit einiger Zeit mit abweichenden Meinungen und Aktionen Aufmerksamkeit erregende Bewegung der Globalisierungskritik. Die Globalisierungskritiker gehen davon aus, dass sie das ganz Andere wollen: eine ‚andere Welt’, die Umstürzung der herrschenden Weltordnung usw. – die Berufung auf solche Totalismen der Andersartigkeit ist das täglich Brot der Globalisierungskritik.

Bei etwas näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Globalisierungskritiker in weiten Teilen die Zielvorstellungen und Realitätsdefinitionen der modernen Welt teilen und davon nur in bestimmten, ausgewählten Punkten abweichen. Die Totalablehnung der Welt, wie sie ist, könnte gar nicht verständlich kommuniziert (und vermutlich nicht einmal gedacht) werden, geschweige denn eine nennenswerte Menge von Anhängern und Aufmerksamkeit rund um den Globus mobilisieren. Die Betonung der abweichenden Elemente ist eine nützliche und vermutlich alternativlose Strategie zur Positionierung im politischen Diskurs und in der massenmedialen Berichterstattung, sie sollte jedoch nicht den Blick des soziologischen Beobachters trüben und ihn an der Erkenntnis der mindestens ebenso substantiellen übereinstimmenden Elemente hindern.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Globalisierung und Langsicht7
I. Weltgesellschaft, Nationalstaat und Herrschaft17
Globalismus und Weltgesellschaft18
Globaler Wandel: Nationalstaaten und nationale Gesellschaften unter Druck39
Der Nationalstaat und das internationale Flüchtlingsregime: Perspektiven der Herrschaft im Flüchtlingslager56
II. Weltkultur, Ökonomie, Sozial- und Bildungspolitik71
Globalisierungskritik und Weltkultur72
Kritiker, Gegner, Nutznießer: Die Rahmenbedingungen des ökonomischen Globalisierungsprozesses in Indien91
Wohlfahrtsglobalisierung: Wie Sozialpolitik die Globalisierungskritik unterläuft111
Bildungsmonitoring in der Globalisierung der Bildungspolitik132
III. Attac, Weltsozialforum und Amerikanisierungskritik146
Globalisierung und kein Ende? Zur Problemkonstruktion der neuesten sozialen Bewegung147
Strategien und Dilemmata globalisierungskritischer Bewegungen am Beispiel des Weltsozialforums – oder: was hat Nicos Poulantzas in Caracas zu tun?161
Amerikanisierungskritik und Globalisierung: Das Fallbeispiel Südkoreas178
IV. Wirtschaftseliten, extreme Rechte und Globalisierungskritiker193
Globalisierung, Wirtschaftseliten und soziale Verantwortung194
Die extreme Rechte als globalisierungskritische Bewegung?210
Globalisierungskritiker in Deutschland: Zwischen moralisch ambitionierter Kritik und professionalisierter politischer Arbeit228
Angaben zu den Autoren242

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