Kapitel 1
Griechenland-Krise und Migrationskrise
Oder: Von der Hetzjagd auf ein neues, altes Gespenst
Ihr unterzeichnet jetzt hier in Frankfurt den Frieden, aber was geschieht in Paris, Mann? Holen Sie endlich diese rote Fahne vom Pariser Stadthaus! Die Schweinerei hat mich schon einige Nächte gekostet, verdammt schlechtes Beispiel für Europa! Muß man ausrotten wie Sodom und Gomorrha, mit Pech und Schwefel. […] Ihr seid mir komische Käuze. Waffenhilfe schlagt ihr schamhaft ab, aber eure Gefangenen [die gefangenen französischen Soldaten, die dann zur Niederschlagung der Commune eingesetzt wurden; d. Verf.] sollen wir freigeben, hintenherum. Weiß ja, weiß ja, es soll nicht mit Hilfe einer fremden Regierung geschehen sein. Nach der Melodie: ›Ach Theodor, du alter Bock, greif mir nicht vor den Leuten unter’n Rock, wie?‹ […] Naja, unsere Kanaille im Reichstag verlangt ja auch, dass wir den Bonaparte [Napoleon Bonaparte III, der zuvor in preußische Kriegsgefangenschaft geriet; d. Verf.] ausliefern, wird nischt draus, den halt ich mir im Ärmel, damit ich euch an der Leine halte, haha. Ausliefen tu ich den gemeinen Mann, daß ihr die Genossen in Paris zur Ader lassen könnt, das wird ’ne Überraschung sein. Krieg hin, Krieg her. Ordnung muss sein. Da greif ich auch dem Erbfeind untern, schön, untern Arm, Favre. Aber jetzt haben sie bald 200.000 Mann freigekriegt von uns. […]
Aber wie gesagt, ich will Taten sehn, Mann. Ich hab Ihnen zugestanden, dass sie mit der Kriegsentschädigung erst nach der Pazifizierung von Paris anfangen, also bringt gefälligst etwas Dampf dahinter.
Auszug aus dem Theaterstück von Bertolt Brecht, Die Tage der Commune1
Frankreich könnte froh sein, wenn jemand das Parlament zwingen würde, aber das ist schwierig, so ist die Demokratie […] Wenn Sie mit meinen französischen Freunden, ob mit [dem französischen Finanzminister] Michel Sapin oder mit [dem Wirtschaftsminister Frankreichs] Emmanuel Macron sprechen, dann haben sie lange Geschichten zu erzählen über ihre Schwierigkeiten, die öffentliche Meinung und das Parlament von der Notwendigkeit der Arbeitsmarktreform zu überzeugen.
Wolfgang Schäuble im April 20152
Am Anfang war es nur ein Spuk. Doch er versetzte Europa in Angst und Schrecken. »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei. »Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.«3
Die Jagd war nicht leicht. Die Hetze ging oft ins Leere. Ein Gespenst ist schwer zu fassen. Allerdings ermöglichte das vage gehaltene Gründungsdokument, in dem die Heilige Allianz erklärte, »den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen« zu wollen, den Rundumschlag gegen jede Art fortschrittliche Position. »Wo ist die Opposition, die nicht von ihren regierenden Gegnern als kommunistisch verschrieen worden wäre?«, fragten die Verfasser des Manifestes.
Gleichwohl war es der Anfang einer neuen Ära der Hoffnung. Einer Ära der Rebellion von Proletariern, die »nichts zu verlieren (haben) als ihre Ketten.« Von Menschen, die »eine Welt zu gewinnen« hatten.4
Nach der Gründung der sozialdemokratischen Parteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekam das Gespenst Fleisch und Blut. Entsprechend handgreiflich wurde die Repression. Die Abschlachtung der Pariser Kommunarden 1871 ist ein beredtes Beispiel dafür. Sie wurde exekutiert durch ein Bündnis, wie es aktuell auch in der Eurokrise und in der griechischen Tragödie zur Anwendung kommt: einer Achse Berlin-Paris.
Das Muster, die demokratische Linke so früh, so oft und so gründlich wie nur möglich niederzuschlagen und damit die Hoffnung auf eine Gesellschaft der Solidarität und eine Welt ohne Ausbeutung auszulöschen, wurde seither noch unzählige Male angewandt. So mit der Ermordung hunderttausender Menschen in Indonesien 1965, mit dem Putsch der Obristen in Griechenland 1967 oder mit dem Militärputsch in Chile 1973.5
2015 war es wieder so weit. Erneut wurde das Gespenst identifiziert. Im hochverschuldeten Griechenland hatte eine linke Partei mit Namen Syriza die Regierung übernommen. Dies sollte nicht ohne Folgen bleiben. Die ersten, wenn auch zaghaften Reformen zugunsten der breiten Bevölkerung im Land sowie die Kampagne von Alexis Tsipras und Jannis Varoufakis gegen die Politik der Austerität, verharmlosend als »Sparpolitik« bezeichnet, deuteten auf ein großartiges linkes Experiment. Erneut keimten Hoffnungen in der Linken in Europa auf. Zum ersten Mal nach dem Zusammenbruch der Länder, die man als »real sozialistisch« bezeichnet hatte, wagte eine linke Kraft, den übermächtigen ökonomischen und politischen Interessen des neoliberalen Europas die Stirn zu bieten.
Die Allianz der Gläubiger blies ins Kriegshorn. Es kam zu einer neuen »heiligen Hetzjagd«. Das Kommando führte das deutsche Pendant zu Fürst Metternich – Wolfgang Schäuble. Wobei ein modernes, höchst effektives Waffenarsenal zum Einsatz kam: Anstelle der militärischen setzte die Heilige Allianz der Gläubiger ihre Finanz-Waffen ein. Die Finanztranchen aus dem zweiten Hilfsprogramm für Griechenland wurden eingestellt. Die finanzielle Unterstützung der griechischen Banken seitens der Europäischen Zentralbank wurde gekappt. Die Rebellen wurden in einem ermüdenden Marathon mit einem Dutzend Treffen der Eurogroup und mehreren EU-Gipfeln verschlissen. Das Oxi, das Nein von 61,2 Prozent der griechischen Bevölkerung zum Diktat der Heiligen Allianz, wurde zynisch ignoriert.
Nach zwei Wochen mit geschlossenen Banken kapitulierten die griechische Regierung und das Parlament in Athen. Im Finanzkrieg – einer Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – obsiegten Schäuble, Dijsselbloem, Draghi und Juncker.
***
»Europa zerfällt«. So lautete Ende Januar 2016 der erste Satz eines Leitartikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Weiter im Text: »In rasender Geschwindigkeit verwittert das erträumte Europa, das nicht nur der Generation, die den Krieg er- und überlebte, Hoffnung und Leitstern war auf dem Weg in eine Zukunft der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands.« Die Ursachen sieht der Autor in der Eurokrise und in der Migrationskrise: »Schon das Ringen um die Erhaltung der Währungsunion führte den Europäern vor Augen, wie weit die politischen Vorstellungen in der EU immer auseinander liegen können. […] In der Migrationskrise sind die Europäer zu allem Möglichen fähig, nur nicht zu einer gemeinsamen Politik.« Schließlich wird in dem Beitrag die deutsche Kanzlerin als »einsame Europäerin« charakterisiert, umgeben von einer Riege nationalistischer Zwerge: »Zu den bitteren Ergebnissen der Krise zählt, dass die meisten EU-Staaten nicht mehr der deutschen Führung folgen, die in der Euro-Krise noch murrend und knurrend akzeptiert worden war.«6
Könnte es sein, dass beides miteinander in doppelter Weise zusammenhängt? Zum einen wurde in der Euro- und Griechenland-Krise die »deutsche Führung« durchaus als Erpressung und Diktat wahrgenommen. Warum sollten die Erpressten auf Dauer dieser Art »Führung« folgen? Zum anderen dürfte sich die Einsicht verbreiten, dass in beiden Krisen seitens der Berliner Regierung eine Politik betrieben wird, mit der nicht die Ursachen der Krise bekämpft werden, sondern Öl ins Feuer gegossen und damit die Krise vertieft wird.
In der Euro-Krise im Allgemeinen und in der Griechenland-Krise im Besonderen wurde behauptet, man werde die »Krisenursachen« dadurch bekämpfen, dass ein Medikament mit Aufschrift austeritas verabreicht wird. Nomen est omen; das lateinische Wort übersetzt sich als »Strenge«, aber auch als »das finstere Wesen« und als »das Düstere«. Das Beispiel der historischen Weltwirtschaftskrise und aktuell das Beispiel aller Eurozonen-Peripherieländer, denen dieses Medikament zwangsverabreicht wurde, belegen die düsteren Auswirkungen dieser Wirtschaftspolitik: Die Sparpolitik vertieft erstens die Krise, erhöht zweitens die Schulden und steigert drittens Arbeitslosigkeit und Armut.
Auch bei der Migrationskrise heißt es gebetsmühlenartig, man werde nunmehr »die Fluchtursachen bekämpfen«. Tatsächlich boomt der Rüstungsexport in die Krisen- und Kriegsregionen, insbesondere derjenige seitens deutscher und französischer Hersteller von Kriegsmaterial. Die Zahl der Militärmächte, die in den syrischen Bürgerkrieg involviert und dort vor allem mit ihren Luftwaffen engagiert sind, hat sich seit 2014 vervielfacht. Seit Ende 2015 ist dort auch die deutsche Bundeswehr aktiv. Gleichzeitig hofiert die EU die türkische Regierung und gewährt dieser finanzielle Unterstützung in Hinblick auf ein gewünschtes Migrantenmanagement in Milliarden Euro Höhe. Dies erfolgt just zu einem Zeitpunkt, zu dem Ankara in den kurdischen Gebieten einen neuen Bürgerkrieg zum Zaum bricht und das türkische Militär in dieser Region bereits hunderte Zivilisten getötet hat.
Die absehbare Folge von all dem wird sein: Die Zahl der Flüchtlinge, die in eine halbwegs sichere Europäische Union streben, wird zumindest nicht abnehmen. Möglicherweise wird sie nochmals größer werden. Für das Kapital hat das durchaus Vorteile; in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen gibt es zukünftig ein Heer von Billigarbeitskräften, dem eine neue Lohndumpingfunktion zukommt. Das dürfte auch der Grund dafür sein, warum Angela Merkels Geste von der Willkommenskultur und ihr...