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Guillotin
Abb. 1: Dr. Guillotin stellt seine Erfindung vor: »Das Gerät senkt sich blitzartig; der Kopf fliegt; der Mensch ist nicht mehr« (Quelle: picture-alliance/akg-images)
1.1 Sein und … 1738 in Saintes, unweit der Charante, etwa 70
Joseph-Ignace Guillotin wird am 28. Mai 1738 in Saintes, unweit der Charante, etwa 70 Kilometer südlich von La Rochelle gelegen, geboren. Seine Eltern, Cathérine-Agathe Martin und Joseph-Alexandre Guillotin, haben es in der kleinen Stadt zu Ansehen und einigem Wohlstand gebracht; Joseph-Alexandre Guillotin ist Jurist und als Procureur du roi, als öffentlicher Ankläger, in Saintes tätig. Von ihren 13 Kindern erreichen nur vier das Erwachsenenalter. Joseph kommt als neuntes Kind zur Welt, wächst gemeinsam mit zwei Brüdern und einer Schwester auf. Er erhält eine durchaus standesgemäße Erziehung und Ausbildung. Zunächst besucht er das Jesuitenkolleg in Saintes, anschließend widmet er sich, dem Wunsch seiner Eltern folgend, weiterführenden und vertiefenden Studien der Theologie. Zügig absolviert er ein Vorbereitungsstudium bei der renommierten Société de Jésus in Bordeaux, wird 1756 in den Jesuitenorden aufgenommen und schließt 1762 seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Theologie an der Universität in Bordeaux mit dem Titel eines Magisters ab.
Aufstieg
Weiteren Karriereschritten im Orden sowie an den führenden Universitäten öffnete sich damit ein leicht gangbarer Weg. Joseph Guillotin betritt ihn nicht, wendet sich 1763 vielmehr einem lebenspraktischeren Bereich zu, der medizinischen Heilkunst. Es zieht ihn in das Wissenschaftsmekka, das gesellschaftliche, kulturelle und politische Zentrum des Königreichs, nach Paris. Ein ehrgeiziges Vorhaben, sich ohne Beziehungen, ohne einflussreiche Gönner und mit den nicht allzu reichlich bemessenen Subsidien, die seine Eltern ihm zukommen lassen, gerade an diesem Ort etablieren zu wollen. Ein aussichtsloses Unterfangen, wie sich alsbald erweist. Joseph muss vorerst mit der zweiten Wahl vorliebnehmen, mit Reims, wo er wiederum schnell reüssiert. Nach vier Jahren, 1768, verleiht ihm die dortige Fakultät den Doktortitel, und unverzüglich verlässt er die wenig geschätzte Alma mater in der Provinz, um endlich nach Paris zu gelangen. Er hat seine Übersiedlung gut vorbereitet, kann eine von der Universität teilfinanzierte Unterkunft anmieten und ein Stiftungsstipendium ergattern, das ihn der Leistung sämtlicher Studiengebühren enthebt. Eine solide Grundlage für ein konzentriertes Studium an der Sorbonne, das er 1770 mit einer Doktorarbeit über die Tollwut1 abschließt.
In dieser Arbeit breitet er nicht nur seine im engeren Sinn medizinischen Kenntnisse aus, sondern erörtert auch die Frage, ob ethisch vertretbar sei, was wissenschaftlich Erkenntnisgewinne verspreche, nämlich an Tieren mit einigem Erfolg erprobte Therapien an lebenden Menschen vorzunehmen. Joseph Guillotin hält eine solche Versuchsreihe mit einer bestimmten Probandenpopulation nicht nur für zulässig sondern für moralisch geboten. Die Zielgruppe, die ihm vorschwebt, sind
»Schuldige, die das Gesetz aus dem Gemeinwesen, das sie angegriffen haben, auszumerzen sucht. Solche Menschen wählte ich aus, um sie all jenen Versuchen zu unterziehen, die ich an Tieren ausprobiert hätte. Kämen sie dabei um, so änderte dies für sie lediglich die Art ihrer Hinrichtung.«
Überlebten sie aber, so könne die ursprünglich über sie verhängte Todesstrafe in lebenslange Galeerenhaft umgewandelt werden, »um sie in gewisser Weise für die Qualen zu entschädigen, die sie während der [ihnen injizierten] Krankheit aushalten müssten.« Minder schwerer Verbrechen Schuldige könne man für den Fall, dass sie genesen, sogar straffrei stellen, da die »grauenhafte Prüfung«, der sie sich als Versuchsobjekte hätten unterziehen müssen, sie hinfort sicher auf den rechten Weg zurückführe. Guillotin räumt ein, sein Projekt möge vielleicht »ungerecht, furchtbar oder unmenschlich« erscheinen, »schrecklich aber ist es nicht«, beharrt er. »Ein kleiner Stich, die schmerzhaften Symptome der Krankheit«, was sei das schon im Vergleich zu dem, was einem Hinrichtungsopfer bevorstehe, die »entsetzlichen Qualen eines Menschen, dem man die Knochen bricht und den man sein Leben in hoffnungslosen Ängsten aushauchen lässt.«
Mögliche Beweggründe Guillotins
Ein sentiment humanitaire liest der Biograf Guillotins, Henri Pigaillem, in diesen Sätzen; und aus ihnen den Willen des vom Los der zum Tode Verurteilten erschütterten Bienfaiteur, »deren Leiden zu verringern, wenn nicht gar aus der Welt zu schaffen.«2 Zwingend ist diese Lesart nicht, wenn auch sehr naheliegend für einen Autor, der sein Buch über Guillotin mit Bienfaiteur de l’humanité untertitelt und bestrebt ist, dessen ganzes Sein und Tun als ungebrochen philanthropisch zu (re-)konstruieren. Andreas Schlieper, ebenfalls Verfasser einer neueren Biographie Guillotins, ordnet dessen Einlassungen zum heuristischen und ethischen Wert von Menschenversuchen, weit weniger emphatisch, mit spöttischem Unterton, als Beispiel für zeittypische »Äußerungen von feurigen Ärzten« ein, »die begeistert auf dem Weg der Wissenschaft voranschreiten wollen.«3 Auch diese Interpretation der Überlegungen Guillotins und die damit verbundene Charakterisierung seiner Person vermögen nicht vollständig zu überzeugen. Der weitere professionelle Werdegang des nunmehr promovierten Joseph Guillotin, im Folgenden kurz skizziert, nimmt sich weder aus wie der eines selbstlosen Wohltäters, noch weist er konturierte Spuren eines für die Wissenschaft entflammten Mediziners auf.
1770 promoviert, 1771 komfortabel etabliert – Dr. Guillotin wohnt und praktiziert nach seiner Ernennung zum docteur régent in einer geräumigen, elegant ausgestatteten Wohnung links der Seine, im Viertel Saint-Séverin, rue de la Bûcherie. Sein medizinischer Rat kostet durchschnittlich 30 Livres – viel Geld. Und nur gut Betuchte können es sich leisten, ihn zu konsultieren. Er gilt als einer der besten und teuersten Ärzte in Paris, seine Klientel, le Tout-Paris mondain suche ihn auf, als besonders exklusiv.4 Erfolg macht erfolgreich. Es bedürfte also keines weiteren Zutuns des, wie wir heute sagen würden, Modearztes, um die Schar seiner zahlungskräftigen Patientinnen und Patienten wie auch seine Einkünfte stetig zu vergrößern. Aber Dr. Guillotin gibt sich nicht mit dem Anfang der 1770er Jahre Erreichten zufrieden, sondern arbeitet während der folgenden Jahre verbissen und zielstrebig daran, seine Reputation als medizinisch Sachkundiger zu mehren, facettenreich auszubauen und öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren. Zweifellos öffnet ihm die 1778 ausgesprochene Berufung auf den Lehrstuhl für Anatomie, Physiologie und Pathologie an der Pariser Universität Türen zu namhaften Auftraggebern prestigeträchtiger Nebentätigkeiten, ohne dass Guillotin anklopfen müsste. So wird ihm 1785 die Schriftführung in einer hochrangig besetzten wissenschaftlichen Kommission übertragen, die, einem königlichen Auftrag folgend, das Pariser Gesundheitswesen inspizieren und Vorschläge zu einer zukunftsweisenden Reform des Krankenhaussystems erarbeiten soll. Aber Guillotin ergreift durchaus auch selbst die Initiative, lässt sich nicht bitten, sondern bietet sich an, sieht er eine Gelegenheit, sich zu profilieren.
Anton Mesmer
Als sich 1784, wiederum auf königliches Geheiß, ausgewählte Fachmänner mit der Lehre des »animalischen Magnetismus«, konkret mit der Frage auseinandersetzen, ob es sich bei dem Urheber dieser Form therapeutischer Hypnose, Franz Anton Mesmer, um einen Scharlatan handelt, spricht Dr. Guillotin in Versailles vor, um sich als sachkundig zu empfehlen. Dies gelingt. Er darf sich zu dem Kreis handverlesener Koryphäen zählen, die die Heilungsmethode Mesmers als zumindest fragwürdig beurteilen und den in Paris umschwärmten, ihnen allen den Rang ablaufenden, charismatischen Kollegen nachhaltig entzaubern. Mesmer muss Paris verlassen, und die Pariser Ärzteschaft ist einen außerordentlich lästigen Konkurrenten um die Gunst der höfischen Gesellschaft, um ihre fast schon Pfründen gleichkommenden Honorare los, kann ihr Alleinstellungsmerkmal unanfechtbarer fachlicher Kompetenz also behaupten. Der wissenschaftliche...