Vorwort
Mein entscheidendes Gespräch mit den Bäumen
Da saß ich also mitten unter der Woche in unserem Städtchen in einem Café und fühlte mich wie befreit. Ich hatte gekündigt. Jahrelang war ich im Vertrieb und Marketing tätig gewesen, mal im Innendienst, mal im Außendienst. Ich nahm an Konferenzen teil, gondelte mit meinem Geschäftswagen in Europa herum, besuchte Großkunden und Kleinkunden, schlief in teuren Hotels und nach der Grenzöffnung auch mal in Containerunterkünften. Ich traf die unterschiedlichsten Menschen – darunter die unterschiedlichsten Chefs. Meine Aufgaben bereiteten mir viel Freude, und ich hatte auch viele Erfolge zu verbuchen. Ich lernte aber auch an einer Arbeitsstelle Überlastung und schließlich Burn-out kennen. Irgendwann fühlte ich mich so krank, dass ich, ohne irgendeine Aussicht auf eine weitere berufliche Zukunft, ausstieg. Von heute auf morgen. Ich wusste nur, dass ich auf diese Weise nicht weiterarbeiten wollte.
Es war gerade die Zeit der Fußballweltmeisterschaft, und in meinem Heimatort Kaiserslautern als eine der Gastgeberstädte wimmelte es von fremden Menschen. Wer es auch miterlebt hat, erinnert sich gern: Es war ein fantastisches Erlebnis, so viele unterschiedliche Kulturen friedlich und in Freude an einem Ort zu sehen. Es zog mich dennoch bald hinaus in den Wald. Es zog mich hinaus, weil ich für mich sein wollte. Ich brauchte Ruhe und Besinnung.
Kindheit auf dem Land
Während meiner Waldspaziergänge bewegten mich tief greifende Gedanken. Worauf gründete sich mein Leben? Welche sind eigentlich meine Wurzeln? Was will ich noch bewegen in meinem Leben? Und so kam es, dass ich mich an meine Kindheit erinnerte und an das, was mir meine engere und entferntere Familie auf meinen Weg mitgegeben hatte.
Als Kind hatte ich viel Zeit auf dem Bauernhof meiner Verwandten verbracht. Im hügeligen Kuseler Land half ich beim Kartoffelauslegen und bei der Ernte, fütterte die Hühner, planschte mit den Nachbarskindern im Dorfbrunnen, nahm die jungen Kätzchen auf den Arm und liebkoste sie, half beim Zwetschgen- und Apfelpflücken. Ich durfte der Kuh an die Zitzen fassen und mich darin üben, die Milch herauszupressen, während sie mit dem Schwanz hin- und herwedelte, um die Stallmücken zu vertreiben – vielleicht auch mich, weil ich das Melken doch noch nicht beherrschte. Später durfte ich von der abgekühlten Milch die Sahne abschöpfen und sie natürlich kosten. Im Sommer saß ich ganz oben auf dem Heuwagen oder direkt mit vorne auf dem Trecker. Wie gut musste man sich festhalten, wenn es die ausgewaschenen, holprigen Feldwege nach Hause ging, den Wind in den Haaren, die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Einfach herrlich!
Abends standen meist Kartoffeln auf dem Esstisch, in der Pfalz »Grumbeere« genannt, auf unterschiedlichste Art und Weise zubereitet: mal gekocht (»Gequellde«) mit Quark, mal gebraten (»Gebrätelte«) mit Salat, mal als Suppe (»Grumbeersupp«), mal als »Verheiratete« mit Mehlklößen und Sahnesoße oder in Form von Waffeln (»Grumbeerwaffele«). Ja, die »Grumbeere« waren damals wesentlicher Bestandteil des Pfälzer Essens, da es billig war – und gut. Nur gelegentlich durfte ich beim Bäcker für das Frühstück ein paar Weißmehlbrötchen kaufen und ein paar Brausestäbchen für 10 Pfennig. Sonntags freute sich jeder auf den Braten mit Nudeln und Soße. Allergien oder ADHS kannten wir Kinder auf dem Dorf damals nicht. Der Hautausschlag am Bein rührte vielmehr von Brennnesseln, die am Bachufer wuchsen, und von Hühnerflöhen, die mich kurzzeitig heimgesucht hatten. Immer hatte ich schmutzige Fingernägel vom Spielen, außer samstags, wenn im Badezimmer das Feuer geschürt wurde und mich die Tante in die Badewanne steckte.
Glücklich und ausgepowert von der vielen Bewegung im Freien, schlief ich wunderbar in den dicken Federbetten aus Gänsefedern, deren Kiele mich manchmal piksten. Ab und zu wachte ich vom Schnarchen der Tante auf, mit der ich das (auch im Winter ungeheizte) Zimmer teilte. Nur wenn ich nachts auf die Toilette musste, wurde mir klar, dass das Stadtleben auch Vorteile hatte. Im Dunkeln die Treppe hinunter bis zum Plumpsklo neben dem Misthaufen zu schleichen war mir nicht geheuer. So nutzte ich dann eben den für diese Zwecke bereitgestellten Nachttopf unter dem Bett.
Es ist gerade die Einfachheit des Lebens, der Kontakt zum Boden, zu den Elementen wie Wasser, Erde, Feuer, Luft, was so beglückend sein kann.
Bei Großmutter im Wald
Auch meine Großmutter war sehr mit der Natur verbunden. Sie wohnte in einem kleinen Ort mitten im Pfälzerwald. Ihr Grundstück mitsamt einem kleinen Hexenhäuschen lag direkt am Waldrand. Ich liebte es, die Wochenenden und meine Ferien bei ihr zu verbringen. Sie hatte einen Schwarz-Weiß-Fernseher, aber den schalteten wir so gut wie nie an. Draußen war es viel aufregender. Wenn ich mit ihr und Dackel Poldi durch den Wald streifte, entdeckten wir die tollsten Sachen. Ganz spannend war es in der Herbstzeit, wenn wir auf Pilzsuche gingen. Der seltsamste Pilz, den wir jemals aßen, war die schwarzgraue, unscheinbare Totentrompete. Er schmeckte einfach köstlich.
Ich hatte sogar einen eigenen Kletterbaum. In der hintersten Ecke des Grundstückes hatte ich ihn entdeckt: eine hochgewachsene, kräftige Rotbuche mit weit ausladenden Ästen, die sie bereits am Boden ausgebildet hatte. Mit Leichtigkeit kletterte ich hinauf in den Baumwipfel. Von hier aus konnte man das ganze Tal überblicken, den Vögeln lauschen und seinen eigenen Gedanken nachhängen. Vielleicht hat mir damals diese Rotbuche ihre Kraft einverleibt, dieses Urvertrauen, den »Draht« zu Mutter Erde.
Ich lernte von meiner Großmutter Schwimmen, Skifahren und wie man eine Milchkanne mit ausgestrecktem Arm herumschleuderte, ohne dass Milch herausfloss. Sie zeigte mir wild wachsenden Thymian auf der Wiese, wir gingen dem Geruch der Stinkmorcheln nach, bis wir sie fanden. Wir hatten unseren Spaß, wenn der Dackel durch die großen Laubhaufen stöberte, entdeckten Wildwechsel im Wald, sammelten Heidelbeeren, Brombeeren und Bucheckern, bastelten am Abend Kastanienmännchen. Es war eine sehr abwechslungsreiche und glückliche Zeit, in der ich viel gelernt habe.
Auf der Jagd
Mein Vater war ausgebildeter Jäger und besaß ein eigenes Revier. Wer einmal die Jägerprüfung bestanden hat, verfügt über ein unglaubliches Wissen über Tiere und Pflanzen. Und Vater gab sein Wissen gern weiter, wenn ich nur danach fragte. Natürlich brachte er auch des Öfteren ein selbst erlegtes Tier mit nach Hause, das er dann waidmännisch zerlegte. Der Hasenpfeffer, der Wildschweinbraten und das Rehgulasch schmeckten köstlich. Wenn ich die toten Tiere allerdings noch im Fell daliegen sah, wurde ich auch traurig. Vater erklärte mir dann, dass Jäger die nicht mehr vorhandenen natürlichen Feinde der Wildtiere ersetzen, damit keine Überpopulationen einiger Arten entstehen. Wir hatten Glück, dass wir ab und zu Wildfleisch verspeisen durften. Wenn ich an die heutige Massentierhaltung und die mit Medikamenten vollgestopften Tiere denke, die zu Tausenden abgeschlachtet werden und deren Fleisch wir ohne Bewusstsein verzehren, so habe ich mittlerweile ein wirklich ungutes Gefühl. Ein leckeres Schnitzel, Rindfleischgulasch, Leberknödel, Saumagen: Längst habe ich meinen Fleischkonsum drastisch reduziert.
Jäger greifen auch ein, wenn Wildtiere an Krankheiten und Seuchen leiden. Ein gewissenhafter Jäger führt sein Waidhandwerk nicht aus Lust am Töten aus. Er ist auch nicht ausschließlich für den gesunden, ausgeglichenen Fortbestand der Wildtiere zuständig. Er kümmert sich um den Schutz der Natur, setzt sich dafür ein, dass Vogelschutzgehölze gepflanzt werden, Feldgehölzstreifen erhalten bleiben, Biotope verbessert werden, Freiflächen für Wildkräuter bewahrt oder geschaffen werden. Und wie kaum ein anderer beobachtet er die Geschehnisse im Wald.
Stundenlang auf dem Hochsitz zu verweilen und die Wiese und den Waldrand zu beobachten, mag sich langweilig anhören. Für mich war es schon als Kind alles!
»Zerstreutheit ist die Zivilisationskrankheit der modernen Welt.«
Wenn mein Vater verkündete, er würde mich abends einmal wieder zur Wildtierbeobachtung mitnehmen, war ich Feuer und Flamme. Auch unser Rauhaardackel Casimir wedelte freudig mit dem Schwanz, wenn Vater den großen grünen Rucksack mit belegten Broten und der Thermoskanne füllte, Fernglas und Taschenlampe aus der Schublade nahm, das Gewehr aus dem Schrank holte und die Wolldecke bereitlegte. Dann wusste Casimir genau wie ich, dass heute wieder ein Erlebnis auf dem Programm stand.
Möchtest du Wildtiere beobachten, solltest du wirklich leise sein und dich möglichst unauffällig verhalten. Beim Pirschen ist vollste Konzentration gefragt. Knackt ein Ästchen unter deinen Schuhsohlen oder trittst du versehentlich in trockenes Laub, so kann das Geräusch dem einen oder anderen Tier schon das Signal zur Flucht geben. Beim Pirschen fühlst du dich ein in die natürliche Umgebung. Nach und nach verschmilzt du mit ihr. Das ist etwas Wunderbares. Schon der Weg zu unserem Beobachtungsort war daher aufregend. Je tiefer wir in den Wald hineinkamen, desto leiser und achtsamer bewegten wir uns. Am Hochsitz angekommen, staunte ich jedes Mal über die beachtliche Höhe der Kanzel. Bestimmt waren es zwanzig Holzsprossen, die wir nun mitsamt Hund und Gepäck zu erklimmen hatten. Nachdem wir uns ein bisschen eingerichtet und die Wolldecke als Sitzauflage ausgelegt hatten, gab es erst einmal Abendbrot. An der frischen Luft schmeckte es mir immer besser als zu Hause. Nachdem auch der Hund seinen Zipfel Wurst genüsslich verspeist hatte,...