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Die hessischen Erziehungsstellen. Strukturbedingungen und Organisation aus pädagogischer Perspektive

eine Analyse ihrer Strukturbedingungen und Organisation aus pädagogischer Perspektive

AutorColette Sierk
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl93 Seiten
ISBN9783638826068
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,1, FernUniversität Hagen, 28 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Situation von in Erziehungsstellen betreuten Kindern. Ausgangsthese der vorliegenden Arbeit lautet dabei, dass die Qualität pädagogischer Maßnahmen in Hilfesystemen wie dem der Erziehungsstellen nicht nur von der Professionalität des pädagogischen Handelns abhängt, sondern auch von der Struktur des Hilfesystems. Diese Struktur wird aus einer konsequent pädagogischen Perspektive analysiert und anschließend beurteilt. Als theoretisches pädagogisches Fundament wird zum einen die Sichtweise der Psychoanalytischen Pädagogik, bezüglich der pädagogischen Professionalisierung zum anderen die Professionalisierungstheorie von Ulrich Oevermann zugrunde gelegt. Struktur und Organisation des Hilfesystems 'Erziehungsstellen' werden herausgearbeitet und mit den pädagogischen Erfordernissen in Beziehung gesetzt. Es wird gezeigt, dass die bestehenden Strukturen erheblichen Einfluss auf das pädagogische Geschehen nehmen und in einigen wesentlichen Punkten die professionalisierte pädagogische Arbeit, die in den Erziehungsstellen, den Fachdiensten und auch den Jugendämtern geleistet wird, degradieren und konterkarieren.

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Leseprobe

I. Einleitung – Problemstellung


 

In den alten Bundesländern wurden im Jahr 2000 38.617 Kinder in Pflegefamilien betreut[1]. Zwischen 5 und 10% dieser Pflegekinder sind in professionellen Pflegefamilien untergebracht – in Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg werden diese professionellen Pflegefamilien „Erziehungsstellen“ genannt. Diese Bezeichnung hat sich auch weitgehend durchgesetzt. Andere Bezeichnungen sind zum Beispiel sonder(pädagogische), sozialpädagogische oder heilpädagogische Pflegestellen/-familien, professionelle Pflegestelle, Vollzeitpflege für besonders erziehungsbedürftige junge Menschen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass in der Regel mindestens ein Elternteil der betreuenden Familie eine pädagogische Ausbildung vorweisen kann.

 

Im System der Jugendhilfe gehören die Erziehungsstellen, neben der Pflegefamilie und dem Heim, zu den „Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses“, sie sind aber im Vergleich zu den beiden anderen genannten eine recht neue Angebotsform, die rechtlich zwischen den beiden erstgenannten einzuordnen ist. Die ersten Erziehungsstellen wurden in den 70er Jahren in Hessen (dort vom Landeswohlfahrtsverband (LWV)) und in Westfalen für eine sich verändernde Klientel geschaffen: Die Kinder, für die eine Pflegefamilie gesucht wurde, waren zunehmend älter und die Zahl der „erziehungsschwierigen“ Kinder nahm zu.

 

Die Erziehungsstellen wurden also für Kinder konzipiert, die aufgrund ihrer besonders schwierigen Situation oder ihres Alters nicht in normale Pflegefamilien vermittelt werden können, für die aber auch – dies vor allem auch im Zuge der kritischen Diskussion um die Heimerziehung und der zu dieser Zeit zunehmenden Bevorzugung familiennaher Betreuungsformen – eine Unterbringung im Heim pädagogisch nicht sinnvoll erschien. Erziehungsstellen wurden geschaffen, um die Vorteile der Heimerziehung (pädagogisches Fachpersonal) mit den Vorteilen der Unterbringung in Pflegefamilien (familiärer Rahmen) zu verbinden und so den besonderen pädagogischen Erfordernissen erziehungsschwieriger und älterer Kinder zu entsprechen. Die Hoffnung auf die Leistungsfähigkeit der neuen Erziehungsstellen gründete sich also auf die pädagogische Professionalität einerseits und das nicht-institutionelle Arrangement in der Familie andererseits.

 

Doch die Erziehungsstelle und das betreute Kind bleiben – trotz der Ansiedlung außerhalb des klassischen Heims – eingebunden in ein Netz vielfältiger Beziehungen und Abhängigkeiten. Die Erziehungsstelle ist Teil von komplexen Strukturen, in denen verschiedene Institutionen ihre Funktionen ausüben. Die Verwendung des Strukturbegriffs im Plural verweist auf die verschiedenen Ebenen, auf denen Strukturen wirken. Erstens ist hier die Rechtsstruktur zu nennen, die die Rechte und Leistungsansprüche der Bürger gegenüber dem Staat und dessen Pflichten gegenüber den Bürgern in Gesetzen – in diesem Fall vor allem im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) – normiert. Zweitens ist die Organisationsstruktur zu nennen, in die die Erziehungsstelle eingebettet ist, also die Organisation der Jugendhilfe, insbesondere des Jugendamtes, im weiteren und der Erziehungsstellen im engeren Sinne. An dritter Stelle schließlich steht die – informelle – Handlungsstruktur, die sich innerhalb der Organisationsstruktur herausbildet. Sie wird im Wesentlichen durch die Professionalität des pädagogischen Handelns bestimmt.

 

Strukturen begrenzen das Handeln und ermöglichen es zugleich. Umgekehrt gilt, dass das Handeln die Organisation strukturiert und Strukturen immer wieder neu hervorbringt. Struktur und Handeln sind also zwei Seiten derselben Medaille, wenn man von „Handlungsstruktur“ spricht kommt dies deutlich zum Ausdruck. Wenn ich in dieser Arbeit hauptsächlich über Strukturen spreche und auch zu analytischen Zwecken versuche, Struktur von Handeln getrennt zu behandeln, so darf man dabei nie die andere Seite – das Handeln – ganz vergessen.

 

Meine Ausgangsthese lautet nun, dass die Qualität pädagogischer Maßnahmen in Hilfesystemen wie dem der Erziehungsstellen nicht nur von der Professionalität des pädagogischen Handelns abhängt, sondern auch von der Struktur des Hilfesystems. Der Zweck des Systems der Erziehungsstellen ist, den Kindern, die in Erziehungsstellen betreut werden sollen, die besondere Hilfe zu geben, die sie brauchen. Die meisten der Kinder mussten Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch durchleben, sind oft traumatisiert, jedenfalls aber in ihrer Entwicklung und Integration in die Gesellschaft gefährdet. Die besonders schwierigen Situationen, in denen sich die Kinder befinden, erfordern professionelle pädagogische Hilfe, weil hier das alltägliche erzieherische Handeln nach Intuition an seine Grenzen stößt, ganz zu schweigen davon, dass keine „normale“ Pflegefamilie bereit ist, die zu erwartenden Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, das Abbruchrisiko zudem sehr hoch wäre. Es ist also zum einen – so mein Ausgangspunkt – professionelles pädagogisches Handeln nötig. Zum anderen aber ist eine Struktur des Hilfesystems nötig, die das erforderliche professionelle Handeln ermöglicht und wenn möglich auch unterstützt.

 

Daraus leitet sich die Fragestellung meiner Arbeit ab: Sind die strukturellen Bedingungen, unter denen die hessischen Erziehungsstellen arbeiten, professioneller pädagogischer Arbeit dienlich, behindern sie aber zumindest nicht? Und vor allem: Dienen die Strukturen auch den Adressaten der pädagogischen Hilfe, also den betroffenen Kindern?

 

Der LWV Hessen war mit der Gründung seiner Erziehungsstellen zwar mit bundesweiter Vorreiter dieser neuen Hilfeform, ist aber mittlerweile in Hessen nicht mehr einziger, wenn auch nach wie vor größter Träger von Erziehungsstellen. Der Rahmen dieser Arbeit würde gesprengt, sollte die Organisationsstruktur sämtlicher Anbieter von Erziehungsstellen in Hessen mit einbezogen werden. Ich beziehe mich daher im Folgenden ausschließlich auf die Erziehungsstellen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Da sich die Analyse aber zu einem großen Teil mit den den Erziehungsstellen übergeordneten Strukturen beschäftigt, bleiben die Ergebnisse für diesen Teil übertragbar.

 

Die strukturellen Bedingungen der Arbeit in den Erziehungsstellen des LWV sollen also analysiert und so die Vor- und Nachteile der vorhandenen Struktur für die Qualität der Maßnahme herausgearbeitet werden. Dies geschieht aus pädagogischer Perspektive: Die pädagogischen Erfordernisse für das Kind sowie die notwendigen Bedingungen für professionelles pädagogisches Handeln, dienen mir als Analyseinstrument: An ihnen soll die Struktur in ihren verschiedenen Aspekten gemessen werden.

 

Ich spreche bewusst nicht nur von professionellem Handeln, sondern von „pädagogischen Erfordernissen“, weil ich nicht nur die Professionellen und die Bedingungen für professionelle Arbeit in den Mittelpunkt stellen will, sondern auch die, um die es in dem ganzen Arrangement der Erziehungsstelle eigentlich geht: Um die Kinder und Jugendlichen, die Hilfe brauchen. Ich gehe also davon aus, dass den pädagogischen Erfordernissen zwar zu einem wesentlichen Teil durch professionelles Handeln entsprochen wird, ich gehe aber auch davon aus – siehe dazu meine obige Ausgangsthese – dass es Strukturbedingungen gibt, die unabhängig von der Professionalität pädagogischen Handelns wirken, beabsichtigt oder unbeabsichtigt.

 

Es stellt sich die berechtigte Frage, ob es in meiner Arbeit um die Frage nach dem Kindeswohl in Erziehungsstellen geht. Tatsächlich liegt dieser Begriff nahe bei der von mir gewählten pädagogischen Perspektive. Beide stellen, so scheint es, das Kind in den Mittelpunkt. Oft wird kritisch vorgetragen, der Begriff des Kindeswohls lasse zu viel Spielraum in der Interpretation dessen, was das Wohl des Kindes eigentlich ist. Diesen Vorwurf kann man der Pädagogik allerdings auch machen, die ebenfalls über keine konsensfähige Theorie verfügt, was genau für welches Kind pädagogisch sinnvoll ist. Man kann davon ausgehen, dass die Offenheit des Begriffs des Kindeswohls auch eine Folge der Vielfalt von Sichtweisen innerhalb der Pädagogik ist. Auf den Begriff „Kindeswohl“ wird nun deshalb verzichtet, weil er nicht nur ein pädagogischer, sondern vor allem auch ein rechtlicher Begriff ist und sich– wie von Zitelmann (2001) ausführlich dargestellt – im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Bereichen bewegt. Die pädagogische Perspektive zu wählen erlaubt mir, direkt auf ein pädagogisches Verständnis von Kindern in Erziehungsstellen zurückzugreifen, ohne den Begriff des Kindeswohls in seinen verschiedenen Bedeutungen vorher „auseinander zu nehmen“. Gegenstand der Pädagogik ist das Wohl des Kindes an sich, ohne sich – zunächst – mit der Verrechtlichung dieses Anliegens in der deutschen Gesetzgebung beschäftigen zu müssen. Letzteres ist aber Gegenstand eines Teils dieser Arbeit: Die rechtlichen Bestimmungen zum Kindeswohl werden mit einem pädagogischen Verständnis von Kindeswohl – mit den pädagogischen Erfordernissen – verglichen. Ohne eine begriffliche Differenzierung käme es zu logischen Problemen: Ich kann nicht etwas mit sich selbst vergleichen. Von „pädagogischen Erfordernissen“ zu sprechen und nicht vom „Kindeswohl“ bedeutet, eindeutig die pädagogische Perspektive einzunehmen, betont die Abgrenzung zum rechtlichen Begriff und umgeht somit das...

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