„Ein Mensch, der mir vertraut, wird nicht nur das tun, was ich getan habe, er wird sogar noch größere Dinge tun, denn ich bin bereits auf meinem Weg zum Vater.“
Johannes 14,11–13
Shane: Tony, warum glaubst du, dass wir nach Bezeichnungen wie „Fundamentalisten“ oder „Evangelikale“ einen neuen Begriff brauchen, wie „Red Letter“-Christen?
Tony: Engagierte Christen haben während des letzten Jahrhunderts eine Reihe von verschiedenen Namen angenommen, um verschiedene Schwerpunkte und Ausrichtungen auszudrücken.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler in Deutschland, die Texte der Bibel kritisch zu lesen und kamen zu Ergebnissen, die den traditionellen Glauben zu gefährden drohten. Sie gingen der Frage nach, wer eigentlich die Autoren der Bibel waren und vermuteten, dass ein Großteil des Alten Testaments nichts anderes sei als eine Sammlung alter, vielleicht sogar babylonischer Mythen und Moralvorstellungen. Männer wie Friedrich Schleiermacher, Albrecht Ritschl, Ernst Tröltsch, um nur einige zu nennen, entwickelten aus dieser historisch-kritischen Herangehensweise eine Theologie, die auch die Fundamente des christlichen Glaubens in Zweifel zog, etwa die Göttlichkeit Jesu oder die Auferstehung.
Das erzeugte einigen Aufruhr. Unter anderem setzte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern und Bibelforschern aus England und Amerika zusammen und veröffentlichte eine zwölfbändige Reihe, die sie „Die Fundamente des Christlichen Glaubens“ nannte. Diese Bücher waren eine intelligente Verteidigung der traditionellen Lehren der Kirchen, so wie wir sie im apostolischen Glaubensbekenntnis vorfinden.
Auf diese Bücher reagierte wiederum ein bekannter liberaler Prediger in New York, Harry Emerson Fosdick. Seine Predigt „Sollen die Fundamentalisten gewinnen?!“ wurde gedruckt und in ganz Nordamerika verbreitet. Auf diese Weise kam das Wort „Fundamentalismus“ auf die Welt.
Die Bezeichnung „fundamentalistisch“ hatte zunächst einen durchaus guten Klang (ein solides Fundament ist ja nichts Schlechtes) und sorgte bis zu den Jahren 1928/29 für mehr Klarheit. Doch dann kam der aufsehenerregende Scopes-Prozess vor einem Gericht in Dayton, Tennessee im Jahr 1925. In diesem Prozess ging es um ein im selben Jahr verabschiedetes Gesetz, welches verbot, Theorien zu lehren, die der Bibel in Bezug auf die Entstehungsgeschichte der Menschheit widersprechen. Weil der Lehrer John Thomas Scopes die Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen gelehrt hatte, wurde er im Scopes-Prozess zu 100 Dollar Bußgeld verurteilt. In den daraus resultierenden Diskussionen geriet der Fundamentalismus in den Verdacht, antiintellektuell und naiv zu sein. Zusätzlich zu diesem wenig schmeichelhaften Image schlich sich in fundamentalistische Kreise immer mehr ein Geist der Verurteilung ein. Man verachtete nicht nur die, die von der „richtigen Glaubenslehre“ abwichen, sondern gleich auch noch alle diejenigen, die sich dem sehr gesetzlichen Lebensstil nicht bedingungslos anschließen wollten. Für einen Fundamentalisten waren Tanzen, Rauchen und Alkoholkonsum absolut verdammungswürdige Verhaltensweisen.
Von da an bis in die 1950er-Jahre war der Begriff „Fundamentalist“ mit allen Arten von negativen Vorstellungen überfrachtet. Genau in diesen Jahren brachten Billy Graham und Carl Henry (der spätere Herausgeber der Zeitschrift „Christianity today“) die Bezeichnung „evangelikal“ auf. Das schien zunächst ein recht guter Begriff für die überzeugten, aktiven Christen zu sein. Doch Mitte der 1990er-Jahre verlor auch dieser Begriff seine Neutralität in der Öffentlichkeit. Über weite Strecken erschien es nun, als wären die Evangelikalen der USA eine Ehe mit der religiösen Rechten, ja sogar mit dem rechten Flügel der sowieso schon konservativen Republikaner eingegangen.
Wenn Theologen wie du, Shane, und ich vor Studenten in Harvard oder Stanford sprechen sollen und als „Evangelikale“ angekündigt werden, gehen sofort die roten Fahnen hoch und die Leute sagen: „O je, ihr gehört also zu diesen reaktionären Christen, die gegen alles sind! Ihr habt etwas gegen Frauen, erst recht gegen Schwule, ihr mögt keine Umweltaktivisten, aber dafür setzt ihr auf Krieg, wollt Einwanderung stoppen und so weiter.“ Wenn wir überhaupt noch dazu kommen, uns zu verteidigen, dann würden wir sagen: „Einen Moment! Genau das sind wir nicht!“ Es gibt natürlich viele Gründe dafür, dass sich dieses Bild von „den Evangelikalen“ entwickelt hat, unter anderem durch solche, die sich wirklich so negativ verhalten haben, aber auch durch die Medien, die die Evangelikalen und die religiöse Rechte undifferenziert in einen Topf geworfen haben.
Wir wollten, dass Leute sofort wissen sollten, mit wem sie es zu tun haben: Christen, die das leben wollen, was Jesus gesagt hat, soweit es ihnen nur möglich ist. |
Es war also wieder einmal notwendig, nach einem Namen zu suchen, der noch unbelastet beschreibt, wer und was wir sind. Und so entstand der Begriff „Red Letter Christians“. Wir wollten, dass Leute sofort wissen sollten, mit wem sie es zu tun haben: Christen, die das leben wollen, was Jesus gesagt hat, soweit es ihnen nur möglich ist. Wir sind keine politische Bewegung, doch uns liegt sehr daran, die Politik unseres Landes so zu beeinflussen, dass mehr Gerechtigkeit für Arme und Unterdrückte erreicht wird. Dabei spielt es für uns überhaupt keine Rolle, welche Partei diese Anliegen unterstützt. Hauptsache, sie tut es!
Die Zeitschrift „Christianity today“ veröffentlichte einen Artikel, der diesen Namen aufs Korn nahm: „Ihr tut ja gerade so, als wären die roten Buchstaben in der Bibel bedeutender als die schwarzen!“ Darauf können wir nur antworten: „Ganz genau! Nicht nur wir sagen, dass die roten Buchstaben in der Bibel wichtiger sind als die schwarzen – Jesus selber hat dies gesagt!“ Jesus hat zum Beispiel in seiner Bergpredigt immer und immer wieder klargestellt, dass seine Lehre – vorsichtig ausgedrückt – die des Mose sozusagen ablöst; denken wir nur an seine Aussagen über Scheidung, Ehebruch, Töten, selbst über den Umgang mit fremder Schuld oder mit Geld. Überall hat Jesus einen wesentlich höheren moralischen Standard angelegt.
Als Jesus gesagt hat, dass er uns ein neues Gebot geben würde, war es wirklich neu. Sein Gebot übersteigt mit Sicherheit alles, was wir im Alten Testament lesen. Außerdem können wir eigentlich nicht wirklich verstehen, was die schwarzen Buchstaben der Bibel uns zu sagen haben, wenn wir nicht zuerst verstanden haben, was Jesus uns durch seine eigenen Worte offenbart hat. Das heißt in keiner Weise, dass wir die übrigen Texte der Bibel abwerten; wir glauben, dass der Heilige Geist die Schreiber der biblischen Texte inspiriert hat, also auch all das „um die Worte Jesu herum“.
Shane, immer, wenn ich dir in den letzten Jahren zugehört habe, war klar, wie wichtig es dir ist zu betonen, dass die Zeit reif ist für uns Christen, die Lehren Jesu wirklich ernst zu nehmen, vor allem auch die Bergpredigt!
Wir zerreden die Worte Jesu, erklären sie weg, möbeln sie auf oder verwässern sie, als ob sie nicht für sich selber sprechen könnten. |
Shane: Wir zerreden die Worte Jesu, erklären sie weg, möbeln sie auf oder verwässern sie, als ob sie nicht für sich selber sprechen könnten. Ich hörte einmal jemanden sagen: „Ich ging ins Seminar, um zu lernen, was Jesus mit dem, was er sagte, wirklich gemeint hat. Und dann lernte ich, dass Jesus das, was er gesagt hat, nicht wirklich gemeint hat.“ Das ist traurig! Dabei brauchen wir eigentlich nur wie ein Kind an die Sache heranzugehen, wie Jesus gesagt hat: mit Unschuld und Einfachheit.
Der dänische Theologe Søren Kierkegaard schrieb bereits Mitte des 19. Jahrhunderts: „Die Bibel ist sehr leicht zu begreifen. Doch wir Christen sind ein Haufen ränkevoller Schwindler. Wir tun so, als ob wir unfähig seien, sie zu verstehen. Wissen wir doch sehr genau, dass wir von dem Augenblick an, in dem wir sie verstehen, entsprechend handeln müssen.“2
Wir müssen zur Unschuld zurückkehren. Das heißt, die Bibel wieder ohne all die vielen Kommentare im Kopf zu lesen und uns nur zu fragen: „Was bedeutet das alles wirklich für mich persönlich?“ Ich finde es nicht sonderlich interessant, mir zu überlegen, was für theologische Fragen die Stelle aufwirft. Viel mehr interessiert mich, wie ich mein Leben so leben kann, wie Jesus es gemeint hat. Wenn ich heute etwas offener dafür bin als gestern, meinen Nachbarn zu lieben, für meine „Feinde“ zu beten und mir wenig Sorgen zu machen, dann lebe ich gut.
Wenn ich heute etwas offener dafür bin als gestern, meinen Nachbarn zu lieben, für meine „Feinde“ zu beten und mir wenig Sorgen zu machen, dann lebe ich gut. |
Christen, die sich auf die Worte Jesu konzentrieren, sind keineswegs, wie mir jemand einmal sagte, „überzogen christozentrisch“, indem sie Christus so betonen, dass für den Rest der Dreieinigkeit kein Raum mehr ist. Nun gut – mir hat man schon ganz andere und wesentlich üblere Sachen vorgehalten, als „christozentrisch“ zu sein. Aber trotzdem muss klar sein, dass wir uns nicht so verstehen.
Wir glauben, dass der Gott, der sich in Jesus geoffenbart hat, auch der Gott der...