Einführung: Jugendliche und ihr Verhältnis zum Körper – theoretische Perspektiven und empirische Zugänge
Ein zentrales Thema der Jugendphase ist die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen dieser Zeit. Die durch hormonelle Impulse in Gang gesetzten körperlichen Wandlungen – in der Mehrzahl der Studien mit dem Begriff ›Pubertät‹ bezeichnet – sind Auslöser für all jene psychischen und sozialen Prozesse, die unter dem Begriff ›Adoleszenz‹ gefasst werden.1 Für Jugendliche sind die körperlichen Veränderungen zunächst etwas Fremdes, sie müssen sie sich psychisch erst aneignen (King 2002: 171). Zugleich ist der Körper Experimentierfeld für »die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz« (King 2002). Er ist zentraler Ort und Bühne für die Suche nach einem neuen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, über ihn vollziehen sich wichtige Prozesse der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Geschlechterbildern, der Abgrenzung von den bisher wichtigen Bezugspersonen und der Suche nach einem eigenen Weg ins Erwachsenenleben. Zudem kann er ein Ort sein, über den Konflikte und Probleme ausgetragen werden.
Sozialwissenschaftlich orientierte Studien gehen davon aus, dass die körperlichen Veränderungen der Pubertät keine rein biologisch oder physiologisch zu betrachtenden Prozesse sind, sondern eingebunden in eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Bedeutungszuschreibungen, die die Verarbeitung dieser körperlichen Veränderungen durch die jungen Frauen und Männer und damit ihr Körpererleben und die Körperwahrnehmung prägen (vgl. Göppel 2011).2 Angenommen wird eine unauflösbare Verbindung zwischen körperlichen Veränderungen und gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bedeutungsgehalten, eine systematische Verflechtung von Körperlichkeit mit gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bedingungen. Kontrovers diskutiert wird dabei die Frage, welche Bedeutung dem Körper zukommt: ob es eine qua Biologie gegebene Basis gibt, die dann gesellschaftlich überformt wird, oder ob körperliche Veränderungen, die als ›weiblich‹ oder ›männlich‹ konnotiert sind, selbst schon als soziale Konstruktion begriffen werden müssen. Konstruktivistische bzw. dekonstruktivistische Ansätze in der angloamerikanischen und deutschsprachigen Geschlechterforschung betonen – z. B. in Anknüpfung an Judith Butlers diskurstheoretische Analysen –, dass ›Geschlecht‹ und die als körperlich fundiert gedachte ›Zweigeschlechtlichkeit‹ das Ergebnis entsprechender Diskurse, d. h. vornehmlich sprachlich organisierter Formen des Wissens sind (vgl. z. B. Butler 1995). Diese Diskurse sind geprägt von Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern mit Dominanz des Männlichen und der Norm der Heterosexualität, erst durch sie erscheinen ›Körper‹ als geschlechtlich konnotierte und heterosexuell aufeinander bezogene.3Eine Leiblichkeit mit eigenen Bedeutungsgehalten wird nicht angenommen, Körper erscheinen als potentiell formbares Material, das mit den unterschiedlichsten sozialen Bedeutungsgehalten versehen werden kann.
Vera King weist auf Verkennungen hin, die in solchen Vorstellungen von der alleinigen Bedeutung der Diskurse, ihrer »Allmächtigkeit« (King 2002: 167) enthalten sind. Ausgespart bleiben »Begrenzungen, wie sie der Leiblichkeit, Natalität – Zeugung, Empfängnis, Geborenwerden – und Sterblichkeit inhärent sind« (King 2002: 167). Für die Adoleszenz entwirft sie eine differenziertere Perspektive auf das Verhältnis von Körperlichem und Sozialem. Von den körperlichen Veränderungen der Pubertät gehen danach »Verarbeitungsanforderungen« (King 2002: 172) aus, z. B. die der sexuellen und generativen Potenz, sie haben auf diese Weise einen ›Eigensinn‹, entsprechende Verarbeitungsprozesse sind jedoch unlösbar verknüpft mit gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, durch die sich Körper- und Geschlechterbedeutungen herausbilden (King 2002: 163; vgl. auch Becker 2018: 200).
Die lebensgeschichtliche Phase der Adoleszenz und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen der Pubertät sind im deutschsprachigen Raum insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren zu Themen sozialwissenschaftlicher Forschung geworden (vgl. zusammenfassend King 2011b). Entsprechende Studien entstanden wesentlich im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung, für die Körperlichkeit und Sexualität von Frauen, deren Einbindung in männerdominierte Geschlechterverhältnisse und die Möglichkeiten einer eigenlogischen, d. h. den Wünschen und Interessen von Frauen entsprechenden Aneignung wichtige Themen waren. In diesem Zusammenhang wurde auch die Verarbeitung der körperlichen Veränderungen von Mädchen in der Pubertät bedeutsam. In vielen entsprechenden Studien gab es nicht nur ein wissenschaftliches Interesse am Thema, sondern zugleich ein praktisch-frauenpolitisches: Die Untersuchungsergebnisse wurden auch als Basis verstanden für die Gestaltung pädagogischer Räume für Mädchen und junge Frauen, in denen Möglichkeiten einer positiven Aneignung und Besetzung des eigenen weiblichen Körpers eröffnet werden sollten. Studien zur Adoleszenz junger Frauen und eine sich als feministisch verstehende Mädchenarbeit – sei es in Schulen oder Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit – waren eng miteinander verbunden und haben sich wechselseitig bereichert (zur Mädchenarbeit in Schulen vgl. z. B. Biermann/Schütte 1996; zur Mädchenarbeit in Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit vgl. z. B. Fleßner 1996; Klees u. a. 1989).
Zusammenhängend mit der Thematisierung der körperlichen Veränderungen der Pubertät insbesondere durch die Frauen- und Geschlechterforschung sind entsprechende Prozesse bei Mädchen sehr viel differenzierter untersucht worden als bei Jungen. Die bis in die 1990er Jahre vorherrschende androzentrische Perspektive in den Sozialwissenschaften – eine Perspektive, die das Männliche zum Allgemeinen erhebt – hat zunächst verhindert, dass auch Entwicklungen von Jungen unter einer Geschlechterperspektive analysiert wurden.4 Entsprechende Untersuchungsinteressen haben erst seit Ende der 1990er Jahre eine breitere Basis gefunden, die Dimension des Körperlichen in Entwicklungsverläufen von Jungen und jungen Männern und ihre soziale und kulturelle Einbindung ist jedoch auch gegenwärtig noch nicht hinreichend untersucht.
Im Zentrum der folgenden Darstellungen steht eine Perspektive auf die Verarbeitung der körperlichen Veränderungen der Pubertät, die innerpsychische Prozesse ebenso berücksichtigt wie gesellschaftliche Bedingungen. Sie basiert auf der Verbindung psychoanalytischer und entwicklungspsychologischer mit sozialwissenschaftlichen Annahmen, der Verknüpfung innerpsychischer Prozesse – der Affekte, der Wünsche und Ängste, der Fantasien und des Erlebens, die ausgelöst werden durch die körperlichen Veränderungen – mit deren Einbindung in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge. Basis der Darstellungen sind vorliegende empirische Studien sowie Materialien, die die Sichtweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in wissenschaftlich ›unbearbeiteter‹ Form widergeben, z. B. autobiografische Schilderungen und insbesondere Beiträge in Online-Beratungsforen. Online-Beratungsforen haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen – insbesondere für Jugendliche werden sie als geeignetes Medium für die Unterstützung in als problematisch erlebten Lebenssituationen angesehen. Im Internet haben sich eine Reihe entsprechender Angebote etabliert. Die Möglichkeit, anonym bleiben zu können und die geringen Zugangsvorausetzungen – »es ist möglich, von zu Hause aus jede noch so vermeintlich peinliche Frage zu stellen und darauf nach kurzer Zeit eine Antwort zu erhalten« (Klein 2005: 1) – lassen Online-Beratungsangebote gerade für Jugendliche zu einem besonders geeigneten Medium werden, um über die häufig schambesetzten Themen der Adoleszenz zu kommunizieren. Dadurch ermöglichen sie einen Einblick in Problembereiche, die Jugendliche bezogen auf die körperlichen Veränderungen der Pubertät beschäftigen.
Soweit es die Materiallage ermöglicht, werden zu ausgewählten Themenbereichen auch Erfahrungen aus nicht westlich geprägten kulturellen Kontexten einbezogen, im Wesentlichen geht es jedoch um Jugendliche in der BRD und anderen westlich geprägten Gesellschaften. Zentrale Differenzierungskriterien für durch kulturelle und gesellschaftliche Kontexte geprägte Erfahrungen und Erlebensweisen von...