I. Einleitung
1.1. Ausgangssituation
Die Dynamik der Globalisierung – beschrieben als eine „weltweit zunehmende Verflechtung von Menschen, Güter, Information und Kapital“[1], bietet vielen Nationen und Menschen – durch den Abbau von internationalen Handels- und Wettbewerbsbeschränkungen – enorme Möglichkeiten ihren Lebensstandard zu erhöhen. Ungeachtet ihrer globalen Reichweite hat der Globalisierungsprozess jedoch nicht alle Nationen und Menschen in gleichem Maße erfasst, wodurch sich unterschiedliche Entwicklungstendenzen bezüglich der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verschärft haben.[2] Im Jahr 2000 wurden ca. 80% des Weltinlandsprodukts durch die Industrienationen mit einer Bevölkerung von ca. einer Milliarden Menschen erwirtschaftet, während lediglich 20% auf die Entwicklungsländer[3] fielen, die jedoch eine Bevölkerung von ca. 5 Milliarden Menschen umfassen.[4] Angesichts dessen wurden wiederholt Forderungen seitens der Entwicklungsnationen nach einer neuen weltwirtschaftlichen Ordnungsstruktur artikuliert, in dessen Rahmen die Disparitäten des globalen Wohlstandsgefälles ausgeglichen werden können. Begründet wird diese Forderung mit dem Vorwurf, dass Wohlstandsunterschiede durch das bestehende Machtgefälle in den internationalen Wirtschaftsinstitutionen aufrechterhalten, und die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaftspolitik folglich überwiegend durch Industrienationen bestimmt werden, woraus ungleiche Einflusschancen auf global politische Gestaltungsmöglichkeiten resultieren. Mehrmalige Ansätze, oppositionsfähige Gegengewichte zu bilden, blieben aufgrund der geringen Machtposition der Entwicklungsländer in den internationalen Global-Governance-Institutionen relativ erfolglos. Angesichts ihrer Anzahl verfügen sie zwar über ein enormes Abstimmungspotential, das aber aufgrund ihrer geringen Verhandlungsmacht nur wenig Einflussmöglichkeiten auf den globalen weltwirtschaftlichen Gestaltungsprozess eröffnet.[5] Mit dem Scheitern der beiden WTO Ministerkonferenzen in Seattle 1999 und in Cancun 2003, wurde jedoch ein bedeutsamer Wendepunkt in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen markiert. Unter anderem bewegte der erfolglose Abbruch der Ministerkonferenz in Seattle die USA dazu eine neue Handelsrunde zu initiieren, die 2001 in Doha als Entwicklungsrunde deklariert wurde.[6]
Zwei Jahre später erwies sich während der Ministerkonferenz in Cancun, dass die Zugeständnisse der „Doha-Development Agenda (DDA)“ erneut durch die USA und die EU unterminiert wurden. In Cancun formierte sich erstmalig eine Koalition aus Entwicklungs- und Schwellenländern, die aufgrund ihrer fluktuierenden Mitgliederzahl als G20+ bezeichnet wird. Hinter diesem Bündnis verbirgt sich der politisch-strategische Zusammenschluss verschiedener Entwicklungs- und Schwellenländer Lateinamerikas, Asiens und Afrikas. Überraschenderweise gelang es diesen Staaten, ihre Interessen bezüglich den Verhandlungen zur Agrarmarktliberalisierung wirksam zu vertreten und nicht mehr nur als stille Mehrheit an den Verhandlungen teilzunehmen. Somit wurden erstmals die Interessen der Entwicklungsnationen auf die Agenda der WTO-Verhandlungen gerückt. Unbestreitbar hat diese neue Entwicklungsländerkoalition aufgrund ihrer Effektivität hohe Aufmerksamkeit erregt, die auf dauerhaft veränderte Strukturen hinweist. Ihr wirkungsvolles Agieren deutet auf nachhaltig veränderte Verhandlungskonstellationen im Rahmen der WTO-Verhandlungen hin, die ihren Ausdruck in einer ausdifferenzierten Interessenlandschaft findet.[7]
1.2 Forschungsstand und Fragestellung
Mit der Koalitionsbildung der G20+ wurden angesichts ihrer neuartigen Konstellation und ihrer überraschend gestiegenen Bedeutung neue Impulse zur Erforschung von Entwicklungsländerkoalitionen und der mit ihr einhergehenden Fragestellungen gesetzt. Wichtige Erkenntnisse zu zwischenstaatlichen Koalitionsbildungen („inter-state bargaining coalitions“) unter Entwicklungsländern, konnten durch ausgiebige Forschungsarbeiten der WissenschaftlerInnen A. Narlikar & J. Odell („The strict Distributive Strategy for a Bargaining Coalition: The Like Minded Group in the WTO“, 2003) und D. Tussie & D. Glover („The Developing Countries in World Trade: Policies and Bargaining Strategies“, 1995), gewonnen werden, die an die Forschungserkenntnisse der Autoren C. Hamilton & J. Whalley (Coalitions in the Uruguay Round, 1989), M. Kahler & J. Odell („Developing Country Coalition-Building and International Trade Negotiations“, 1989) anknüpfen. Hervorgehoben wird in diesen verschiedenen Erklärungsansätzen einerseits die hybride Koalitionsstruktur aus „block-type“[8]- und „issue-specific coalitions“[9], aus der sich die Effektivität der G20+ herleiten lässt. Andererseits wird die Führungsqualität der aufstrebenden Volkswirtschaften betont. Die auf diesem Gebiet vorherrschenden Forschungsergebnisse der Autoren Narlikar, Tussie und Hurrell, führen die Effektivität der G20+ Koalition hauptsächlich auf Lern- und Anpassungsprozesse zurück. Die Lerneffekte, die die „Länder des Südens“ erzielen konnten, drücken sich aus in ihrer strategischen und institutionellen Anpassungsfähigkeit an den Kontext der Welthandelsrunden, in dessen Rahmen die Entwicklungsländer an Kompetenz in Koalitionsbildung und Verhandlungsstrategie gewonnen haben. Dies manifestiert sich in einem effizienteren Einsatz von Ressourcen, einem verbesserten systematischen Informationsaustausch und koordiniertem Vorgehen, wodurch Ressourcenengpässe weitgehend vermieden werden konnten. Dabei nehmen die regionalen Führungsmächte Brasilien, China, und Indien eine entscheidende Rolle ein. Sie besitzen vor allem größere diplomatische Kapazitäten und ein ausgeprägtes Vermögen, intellektuelle und fachliche Kompetenzen zu mobilisieren.[10] Letztendlich sind Anpassungsprozesse jedoch immer mit erheblichem Kosten- und Ressourcenaufwand verbunden. Ferner vermögen es allein Lern- und Anpassungsprozesse, die mit veränderten Strategien und Handlungsweisen verbunden sind, nicht unbedingt, eigene Interessen gegenüber anderen Verhandlungspartnern auch durchsetzen zu können. Um Ziele und Lernprozesse realisieren zu können wird Machtpotential benötigt. Der Erörterung der zentralen Fragestellung liegt folglich die Annahme zugrunde, dass sich die beschriebenen Lernprozesse, ohne ausreichende Machtressourcen nur bedingt realisieren lassen. Ebenso kann die neue Akteurskonstellation in den WTO-Verhandlungen nicht ausschließlich auf Lernprozesse zurückgeführt werden, ohne explizit auf Machtverschiebungen im internationalen System einzugehen. Vorrangiges Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht darin, die Machtverhältnisse auch innerhalb der G20+ Koalition zu erfassen und daraus Schlüsse ziehen zu können, inwiefern sie tatsächlich als „Neue Macht des Südens“ bezeichnet werden kann, wie dies in den Medien, von sämtlichen Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Diskussion verlautet wird.
Die neue Akteurskonstellation, die sich im Zuge der Gründung der G20+ Koalition herausgebildet hat, deutet auf nicht zu unterschätzende Machtverschiebungen im internationalen System hin, die im Rahmen dieser Arbeit explizit hervorgehoben werden sollen. Grundlage dieser Arbeit stellt somit die Frage nach der Wirkungsweise von Machtaspekten in den internationalen Wirtschaftsverhandlungen dar, genauer formuliert: Wie wirken sich Machtverschiebungen im internationalen System auf die Verhandlungskonstellation und die erzielten Politikergebnisse aus? Die G20+ Koalition umfasst Staaten, die sich hinsichtlich ihres Entwicklungsgrades bzw. ihrer wirtschaftlichen Größe stark unterscheiden. Vertreten sind kleine Volkswirtschaften, die weltwirtschaftspolitisch eine eher marginale Bedeutung einnehmen, im Aufholprozess befindliche Schwellenländer und aufstrebende Volkswirtschaften wie Brasilien, China und Indien, die derzeitig zu global bedeutungsvollen Akteuren avancieren. Diese drei Staaten nehmen innerhalb der G20+ Koalition entscheidende Führungsaufgaben wahr, weshalb ihnen eine bedeutende Rolle zugesprochen wird. In vorliegender Arbeit soll daher die These vertreten werden, dass die Effektivität bzw. das Machtpotential der G20+ Koalition nicht auf eine gesteigerte Macht der „Länder des Südens“ zurückzuführen ist, sondern ausschlaggebend auf den regionalen Führungsmächten Brasilien, China und Indien beruht, die aufgrund ihrer gestiegenen weltpolitischen Bedeutung auch die Machtkonstellation im internationalen System und in den WTO Agrarverhandlungen nachhaltig beeinflussen konnten.
1.3 Vorgehensweise
Nach einer allgemeinen Einleitung und einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der Arbeit, soll zunächst auf den historischen Kontext der Bedeutung von Entwicklungsländerkoalitionen im internationalen Weltwirtschaftssystem und im GATT/WTO System eingegangen werden. Dabei sollen verschiedene Koalitionsbildungsstrategien vergangener Entwicklungsländerkoalitionen beleuchtet werden, um Differenzierungsaspekte zur Koalition der G20+ hervorzuheben. Die darauf folgende Analyse der Machtbeziehungen der WTO-Verhandlungsparteien, lässt sich in zwei aufeinander aufbauende Teilanalysen gliedern die auf folgenden Fragestellungen...