DREI ZINNEN
Der Krieg in den Bergen.
Das Rätsel Viktoria Savs.
Die Sonne sinkt, die Vorstellung beginnt. Den Tag über lagen die Felsabgründe im Schatten, nun modellieren erste Strahlen einzelne Partien heraus. Eine Viertelstunde später leuchten die gesamten Wände im warmgelben Schein der tief stehenden Sonne. Wieder 15 Minuten später ist nur noch das obere Drittel der Mittleren Zinne beschienen, dafür liegen, weiter rechts, die bizarr geformten Felspfeiler des Paternkofels vollständig im nun intensiv orangeroten Licht.
Und dann, kurz bevor die Sonne untergeht, leuchten die Felsen in Blutrot.
Dutzende Menschen betrachten das stille Spektakel von den Terrassen der Dreizinnenhütte aus, wollen es festhalten mit allem, was die Elektronikwelt hergibt, vom Fotohandy bis zur Spiegelreflexkamera mit dickem Superobjektiv. Ein Nostalgiker hat gar eine alte Linhof auf sein Stativ geschraubt.
Die Drei Zinnen und ihre Umgebung gehören zu den schönsten Berglandschaften der Alpen, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Die mächtige Mittlere Zinne wird von zwei etwas niedrigeren flankiert, und obwohl die Symmetrie nicht perfekt ist, faszinierte der Anblick die Menschen schon immer und zog schon früh Bergsteiger an.
Dabei verlief (bis vor etwa 100 Jahren) die Grenze zwischen Italien und Österreich genau über die Spitzen dieser ungewöhnlichen Zacken. Die Nordwände wurden von Wien aus regiert, die weniger steilen Südflanken von Rom. Als sich Italien entschloss, gegen Österreich-Ungarn in den Krieg zu ziehen, zogen Schrecken und Tod in diese Traumlandschaft ein.
Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mit der Landschaft und ihrer Geschichte vor 50 Jahren in Kontakt. Da war der Dolomitenkrieg kaum ein halbes Jahrhundert her, und man konnte noch, öfter als heute, Stacheldraht in der Landschaft entdecken, Patronenhülsen, hölzerne Reste von Behausungen. Als meinen Vater und mich ein Gewitter überraschte und mitten im August Schnee fiel, fanden wir Schutz in einer der vielen Kavernen, die als Unterkünfte ausgesprengt worden waren.
In diesem Buch kehre ich ein in diese Welt der Leiden und des kriegerischen Wahnsinns. Denn Viktoria Savs hat hier im Ersten Weltkrieg einen langen Winter verbracht und ihren rechten Fuß verloren. Als ich mit dem Vater 1965 an den Drei Zinnen war, hat Viktoria Savs noch gelebt, im fernen Salzburg, und gegen Ende ihres Lebens, 1979, ist sie noch einmal hierher zurückgekehrt, ist mit ihrer Prothese auf die Dreizinnenhütte gehumpelt, um dort einige Tage zu verbringen, nicht weit entfernt von jener Behausung, in der sie einst untergebracht gewesen war.
Dass ich mich entschloss, die Geschichte der Viktoria Savs zu erforschen, hat auch viel mit meiner eigenen Biografie und der meines Vaters Eugen (1923–1995) zu tun. In zwei Sommern, 1964 und 1965, nahm er mich mit nach Südtirol, wo die Ortsschilder, wenn ich mich richtig erinnere, damals noch ausschließlich italienische Namen trugen; wir kamen durch Burgusio, Silandro, Bolzano, San Candido, und stiegen dann weiter zu Fuß auf – hin zu den Schützengräben und zu von Sprengungen verstümmelten Berggipfeln. Nur in die Beinhäuser, wo die Knochen Tausender Soldaten lagerten, die man der Einfachheit halber nicht mehr individuell bestattet hatte, ließ mich mein Vater nicht hinein.
Er hat die Geschichte des Dolomitenkriegs in seiner karg bemessenen Freizeit intensiv studiert. Erst viel später verstand ich, warum er dies tat. Und habe versucht zu verstehen (was mir aber noch nicht vollständig gelungen ist), warum er mich als Neun- und Zehnjährigen in diese grausame Welt geführt hat. Immerhin tat er dies nicht aus der Position eines ewiggestrigen Militaristen oder Nationalisten heraus, nein, er vertrat dabei einen radikalen Pazifismus, und politisch stand er eher links.
Doch im Zweiten Weltkrieg war er Gebirgsjäger gewesen, hatte in den Bergen gekämpft und getötet, wenn auch nicht in den Dolomiten, sondern in den Westalpen. Im März 1945 wurde er dann, mit 21 Jahren, zum Kompaniechef ernannt und sollte mit 200 zu jungen, zu alten, zu kranken, also untauglichen Soldaten des letzten Aufgebots Berlin und den »Führer« gegen die Russen verteidigen helfen. Was ihm offensichtlich nicht gelungen ist, und was wohl die meisten seiner Untergebenen das Leben gekostet hat. Dass er dann in seinem zivilen Leben nie eine Führungsposition übernehmen wollte, weder im Beruf noch in Vereinen, könnte damit zu tun haben. Dabei war ihm selbst die Flucht geglückt, mit einer Schusswunde und einem, wie ich annehme, schweren Trauma.
Einige aus meinen Herkunftsfamilien hatten weniger Glück: Der jüngere Bruder meines Vaters ist 1944 gefallen, mit 18 Jahren, der ältere Bruder wurde schwer verwundet und war danach leicht körperbehindert, der Großvater väterlicherseits starb 1935 an einer Blutvergiftung, ausgelöst durch einen Granatsplitter aus dem Ersten Weltkrieg; jener von mütterlicher Seite ist im Januar 1945 an der Front verschollen.
Dass die Vorgenannten, auch mein Vater, dazu beitrugen, anderen Völkern noch mehr Leid zuzufügen, als dem ihren geschah, versteht sich, soll hier aber deutlich ausgesprochen werden.
Meine Verwandten haben keine ungewöhnlichen Schicksale erlitten, als wehrfähige Männer waren sie Kanonenfutter für Kaiser Wilhelm II. und Adolf Hitler, wie Millionen andere auch. Nun jedoch das Leben einer Frau zu erforschen, die »wie ein Mann« an der Front gekämpft und gelitten hat, erschien mir als ungewöhnliche und daher hochinteressante Variante des säkularen Trauerspiels.
In einer Männeruniform soll sich Viktoria Savs 1915 an die Front geschlichen haben, als Frau unerkannt von den Kameraden, 20 Italiener soll sie ganz allein gefangen genommen haben, bevor ihr deren Landsleute gemeinerweise den Fuß abschossen und ihr wahres Geschlecht im Lazarett offenbar wurde.
Bücher und Medienberichte über »starke Frauen« sind en vogue, meist über Frauen, die irgendeine verdienstvolle Tätigkeit als erste ihres Geschlechts absolvierten, damit Barrieren einrissen und die Emanzipation voranbrachten. Auch die Savs wurde schon als Vorkämpferin des weiblichen Militärdienstes gerühmt. Ich muss gleich vorweg warnend sagen, dass sie in ihrer Persönlichkeit viel zu eigenartig ist, um in die Ehrenreihe der »ersten weiblichen Was-auch-Immer« hineinzupassen.
Und nach und nach kam ich auch dahinter, dass vieles, das über ihre Heldentaten zu lesen ist, nicht stimmt. Dass die Wahrheit weniger sensationell ist, und doch auf eine andere Weise verblüffend.
Als ich das Ausmaß ihrer Parteinahme für den Nationalsozialismus entdeckte, war ich wiederum so abgestoßen, dass ich überlegte, das Projekt aufzugeben. Doch die Nazi-Nähe macht ihren Fall noch einmal interessanter, fand ich dann. Gewiss: Was ich über Viktoria Savs zu berichten habe, lässt sie keinesfalls sympathisch erscheinen. Ein so ungewöhnliches »Frauenschicksal« findet sich allerdings so schnell kein zweites Mal.
Eine besondere Schwierigkeit stellte dar, dass die Savs ganz und gar keine Intellektuelle war und fast keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen hat. Sie ist nur indirekt zu fassen – reflektiert durch viele Presseartikel, von denen aber die meisten unter der Bedingung der Propaganda und Zensur entstanden – entweder des k. u. k. Kriegspressequartiers oder der gelenkten Zeitungen des NS-Staats.
Nahezu alle Quellen für ihre Lebensgeschichte stehen so unter Vorbehalt. Was ist geschwindelt, wo ist Glaubhaftes in Fragwürdiges eingebettet? Obwohl kein Historiker, ist mir die sorgfältige Arbeit mit Schriftlichem vertraut – als Germanist muss man ja auch die Entstehungsbedingungen von Texten kritisch prüfen. Außerdem war ich als Journalist ständig mit der Frage der Zuverlässigkeit von Informationen befasst.
Meine Skepsis gegenüber den Quellen beim Thema Savs führt freilich dazu, dass ich vieles über sie nicht sicher, sondern nur in verschiedenen Stufen der Wahrscheinlichkeit zu sagen vermag. Beim Abfassen des Manuskripts kam ich mir vor wie ein Kriminalkommissar, der einen Bericht über einen schwierigen Fall schreibt. Oft steht Aussage gegen Aussage. Ich hoffe, die Leserinnen und Leser dieses Buchs kommen damit zurecht, dass ich nur selten eine eindeutige Version der Ereignisse bieten kann. Obwohl dies kein wissenschaftliches Buch ist, habe ich doch der Versuchung widerstanden, mir aus den Quellen einfach die spektakulärste Version der Ereignisse zurechtzuzimmern.
Es gab, als ich dieses Buch schrieb, lediglich eine größere und ernst zu nehmende Abhandlung über Viktoria Savs. Sie stammt von Albin Kühnel, einem Heimatforscher aus Bad Reichenhall. Ich habe mit Kühnel Kontakt aufgenommen, und er hat nicht nur lange mit mir über die Savs gesprochen, sondern mir auch sämtliche von ihm gesammelten Dokumente überlassen. Dafür bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet.
Dennoch weiche ich in diesem Buch in recht vielen Punkten von seiner Darstellung ab, weil mir manche Quellen, denen er vertraute, dubios erschienen, ich manches anders bewerte und weil ich zahlreiches zusätzliches Material erschlossen habe, aus dem Nachlass der Hauptperson, zudem aus historischen Zeitungsarchiven, die erst im Lauf des Jahres 2014 zur elektronischen Suche freigeschaltet wurden und für den Namen Savs Dutzende Artikel erbrachten.
Im folgenden Text stehen viele Originalzitate, vor allem aus Zeitungen, aber auch aus amtlichen Schriftstücken. Die sprachlichen Eigentümlichkeiten lassen erahnen, wie anders man damals dachte. Die Orthografie habe ich beibehalten (etwa »daß« statt »dass«); Schreib- und Grammatikfehler sind ebenfalls nicht korrigiert.
In dem von mir verfassten übrigen Text haben der Verlag und ich aber versucht,...