Die Schrecken von Krieg und Vertreibung
Mathilde Schwabeneder
Die junge Frau ist die Einzige, die mit mir reden will. Plötzlich taucht sie zwischen den aus Plastikplanen und Jutesäcken errichteten Notunterkünften auf. Sie habe keine Angst mehr. Weder vor den Geheimdienstlern, die es hier in der libanesischen Bekaa-Ebene zur syrischen Grenze in Massen geben soll, noch vor Terroristen oder islamistischen Extremisten. Nur eine Bitte hat sie: Sie will anonym bleiben. Dann beginnt sie zu erzählen: von ihrer Flucht aus Homs; ihr Mann am Steuer, ihr zehnjähriger Sohn Ali auf dem Rücksitz. In den Armen hält er seinen einjährigen Bruder Ashraf. Es scheint, als wären sie den Kämpfen gerade entkommen, als sie einen Schuss und ein dumpfes Geräusch hört. Die junge Mutter dreht sich um und blickt in Alis schreckgeweitete Augen. Einen Augenblick ist es ganz still im Auto. Dann zerreißt Alis gellender Schrei die gespenstische Stille. Ein Querschläger hat den Kopf des kleinen Ashraf zerfetzt. Sein Kopf, sagt die Mutter mit zitternder Stimme, sei regelrecht explodiert. Zwei Jahre alt wäre er jetzt geworden. Bei unserem Gespräch sitzt der zehnjährige Ali wie versteinert neben seiner Mutter. Seit dem tödlichen Schuss spricht er kaum mehr. An seiner Kinderhand sind die Wunden des Durchschusses zu sehen.
Bei der Rückfahrt nach Beirut ist es auch in unserem Auto still. Ich bin eigentlich wegen eines Papstbesuches hier, doch meine Gedanken sind woanders. Sie sind bei den vielen Menschen, denen ich im Laufe meiner journalistischen Arbeit begegnet bin, bei den Opfern von Krieg und Vertreibung. Meine Erinnerungen reichen weit zurück. Und weit weg. Mitten in den Sudan.
Begonnen hat alles an einem Spätwintersonntag im Jahr 1997. Meine ältere ORF-Kollegin Dolores Bauer, eine seit Jahrzehnten engagierte Radio-Journalistin und exzellente Afrikakennerin, rief mich an. Sie wolle mir einen Vorschlag machen, auf den man nicht sofort antworten könne, sagte sie einleitend. »Ich habe eine ganz einzigartige Einladung bekommen. Ich soll einen Hilfsgüterflug in die Nuba-Berge begleiten, doch mein Arzt sagt zu so einer harten Expedition nein.« Alles sei noch unklar, fügte sie hinzu. Nicht einmal, ob der Flug angesichts des Bürgerkriegs im Sudan überhaupt möglich sei, stehe fest. Aber: »Du interessierst dich für Menschenrechte«, ermutigte sie mich. »Das ist eine einmalige Chance, Einblick in eine völlig unbekannte Situation zu erhalten.«
Ein paar Tage danach, in denen ich mich mit der blutgetränkten Geschichte dieses größten afrikanischen Staates vertraut gemacht hatte, sagte ich zu. Ich informierte mich besser über den Genozid an den Nuba und stellte fest, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen von der internationalen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Hunderttausende Menschen starben, ohne dass die Welt wirklich davon Notiz nahm.
Knapp vor Ostern stehe ich dann in Lokichokio, ein einst winziges Grashüttendorf in einer der ärmsten und trockensten Gegenden Kenias. Seit 1989 dient es der UNO als Basis für die Operation Lifeline Sudan. Hier steht auch ein Kriegskrankenhaus: riesige Zelte für Tausende Menschen; jahrelang das größte War-Hospital der Welt.
Unser Flugzeug befindet sich am äußersten Rand des kleinen Flughafens. Dort, wo das Gelände nahtlos in die karge Savanne übergeht. Wie getarnt durch die dicke Staubschicht steht es da, so als wüsste es um seine Funktion. Es ist eine DC3 aus dem Jahr 1945 und unser Flug wird kein legaler sein. Die Grenzen von Kenia in den Sudan sind geschlossen, die Flugverbindungen in das bürgerkriegsgeschüttelte Nachbarland verboten. Wer von hier Richtung Norden abhebt, hat das Land offiziell nie verlassen.
Nervosität breitet sich während der Vorbereitungen zum Abflug auf dem Flugplatz aus. Hitzige Debatten, deren Inhalt mir erst später bekannt geworden ist. Keine Waffen, schärft der Organisator, der Comboni-Missionar Renato Sesana, seinem Mittelsmann von der SPLA, der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee, ein. Es dürfen nur Saatgut und Medikamente geladen werden. Erst als das Tauziehen ein Ende hat, wird das Flugzeug bestuhlt. Nicht für alle ist ein Sitzplatz vorhanden. Einer von uns acht wird für den Start an einen der Saatgutsäcke geschnallt.
Es ist ein riskantes Unterfangen, das ist auch mir klar, denn die Nuba-Berge sind schon jahrelang komplett von der Außenwelt abgeschnitten.
Der Pilot kann nur auf Sicht fliegen, ohne jeglichen Funkkontakt, da wir ja als fliegendes »U-Boot« auf rund 4000 Meter Höhe unterwegs sind. Als sich die Wolken über den Nilmarschen verdichten, tauchen plötzlich Zweifel auf, ob eine Landung überhaupt möglich sein wird. »Wir wissen nicht genau, wo sich der Airstrip befindet«, erklärt der Buschpilot. »Die Pisten werden wegen der Kämpfe ständig verlegt. Ich muss daher sehen können, wo ich landen kann.«
Die Landung erfolgt sechs Stunden später. Der Airstrip ist kurz und steinig. Ein kleines Stück Land, auf dem Büsche und Bäume gerodet wurden, mehr nicht. 45 Grad im Schatten, sagt der Pilot, und schon muss alles ganz schnell gehen. Dutzende Männer und Frauen tauchen auf und laufen auf die Piste. Sie laden Kisten und Säcke aus, da startet das Flugzeug bereits durch und hebt wieder ab. Landung und Start, lerne ich, sind höchst gefährlich. In diesen wenigen Minuten ist das Flugzeug ein perfektes Ziel für die Feinde, sprich: die Regierungstruppen. Der Beweis – eine vor langer Zeit ausgebrannte Maschine – steht in Sichtweite.
Zwei Wochen später sollen wir uns wieder an dieser Stelle einfinden. Dann würde man uns abholen, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.
Jetzt bin ich plötzlich in den mythenbehafteten Nuba-Bergen im Zentralsudan, ein Gebiet so groß wie Österreich, dessen eine Hälfte – in der wir sind – von der SPLA kontrolliert wird. Wie eine Insel mitten im Feindesland. Rundherum herrschen die islamistischen Regierungstruppen. »Wir kennen seit Jahrzehnten nichts als Krieg«, erzählt mir George, ein beinahe zwei Meter großer junger Lehrer. Sein strahlendes Lächeln ist fast zahnlos, sein Körper nur Haut und Knochen. »Der Hunger trifft uns alle«, fügt er hinzu, so als hätte er meine Gedanken erraten.
Ein stundenlanger Fußmarsch über Stock und Stein liegt vor uns. Die ersten Kilometer müssen wir rennen. Es ist wichtig, so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone der Landepiste herauszukommen. Überall können Regierungsmilizen lauern, schärft man mir ein.
George nimmt mir mein einziges Gepäckstück, einen kleinen Rucksack, ab. »Nehmt nur das Allernotwendigste mit«, hat uns Renato Sesana eingetrichtert. »Jedes Kilo weniger bedeutet ein Kilo Medikamente mehr.« Worauf ich nicht verzichtet hatte, war meine Wasserflasche. »Die musst du fest an dich nehmen«, rät mir George, als wir loslaufen, »denn Trinkwasser ist hier das Kostbarste überhaupt.«
Ein paar Kilometer später ist die Flasche leer. Ich habe alles ausgetrunken und habe trotzdem Durst.
Rundherum ist die Landschaft von der unbarmherzigen Sonne völlig versengt. Nicht nur die Bombardements haben den als besonders tüchtig beschriebenen Bauern ihre Lebensgrundlage entzogen, auch der Klimawandel setzt ihnen zu. »Es regnet kaum mehr«, erklärt mein Begleiter und erzählt, mit welcher Härte die Regierungstruppen die rebellische Region in die Knie zwingen wollen. »Sie kommen mit ihren Flugzeugen, den Antonovs, und sie kommen im Sturzflug. Sie bombardieren die Menschen auf den Feldern, in ihren Hütten und bei den Wasserstellen. Manchmal treiben sie ihre Opfer vor sich her, erst dann werfen sie die Bomben. Sie haben offenbar auch noch Spaß daran, uns zu töten.« Die Überlebenden haben aus Angst vor den ständigen Angriffen ihre Dörfer in den fruchtbaren Ebenen verlassen und sind hinauf in die Berge geflüchtet. Als Flüchtlinge im eigenen Land leben sie in Höhlen versteckt und meist kilometerweit von einer Wasserstelle entfernt. Menschen, die chancenlos sind, eine Flucht ins sichere Ausland anzutreten.
Es ist schon fast Abend, als wir unser Ziel erreichen: Das Headquarter des lokalen SPLA-Commanders, eine Ansammlung kleiner Hütten. Der Schreck ist groß, als wir erfahren, dass unsere kleine Kiste mit Lebensmitteln gestohlen worden ist. Das Abendessen scheint gestrichen, doch die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und so wird uns das gebracht, was die Menschen in diesem unzugänglichen Flecken Erde noch haben: ein paar Jungzwiebeln, ein paar Mangos, ein halbverhungertes Huhn.
Das Huhn stammt von der Frau des Kommandanten, oder genauer seiner Nebenfrau. Am Morgen darauf kommt sie auf mich zu. Sie lacht und tippt sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Hosna«, sagt sie mehrmals. Dann tippt sie mich an. »Mathilde«, antworte ich, und die Buben und Mädchen, die in Respektabstand alles beobachten, springen auf und rufen lachend und klatschend: »Mathilde, Mathilde …« Weder sie noch die anderen jungen Frauen haben jemals eine »weiße Frau« gesehen, sagt George. Da legt Hosna meine Hand auf ihren vorgewölbten Bauch. Sie ist schwanger. Plötzlich umarmt sie mich ganz fest. Es tut mir leid, dass ich gehen muss, aber meine Reise hat erst begonnen. Lange Fußmärsche liegen vor uns.
Die Zeit in den Nuba-Bergen bringt mich immer wieder an den Rand der eigenen Grenzen. Ich lerne jeden Tropfen Wasser zu schätzen, denn dafür gehen die meist jungen Frauen oft stundenlang zum nächsten Wasserloch und riskieren dabei, entführt und vergewaltigt zu werden. Ich bin oft zu Tränen gerührt, mit welchem Stolz diese Menschen das Beste aus dieser Hölle machen. Und manchmal schäme ich mich für die Welt, aus der ich komme.
Eines Tages bricht Chaos in einem kleinen Dorf aus. Fluglärm ist zu hören. Doch es...