Komplexität – Reduzieren und wieder aufbauen!
Komplexität – so definiert der Kasseler Sprachwissenschaftler Holden Härtl – bezeichnet allgemein die Eigenschaft eines Systems oder Modells, nach der man sein Gesamtverhalten selbst dann nicht beschreiben kann, wenn man vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und ihre Wechselwirkungen besitzt. Oder – vereinfacht gesagt: Das System hat viele Einzelkomponenten, die sich andauernd verändern.
Na? Klingt das bekannt? Wenn man seine Kundschaft mal vollständig beschrieben hat, dann stellt man fest, dass es vom Regelkunden inzwischen so viele Ausnahmen und Abweichungen gibt, dass mal eigentlich von vorn anfangen kann. Und teuer war die Übung dazu auch noch. Und genau DAS ist die Crux am Thema CRM. Sie werden im Kundenmanagement nie von vollständigen Informationen ausgehen können. Also muss man zwangsläufig Hypothesen bilden. Hypothesen über das Verhalten der profitabelsten Kunden. Und genau da ist man an der Stelle, die mich persönlich seit Jahren schon fasziniert: das Bilden einfacher Hypothesen.
Die scheinbar einfachste Hypothese ist sicher die Antwort auf die Frage: „Warum kaufen meine Kunden bei mir und nicht bei der Konkurrenz?” Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass die Antwort auf die Frage oftmals zu vielschichtig ist, um im Kundenmanagement wirklich damit arbeiten zu können. Also müssen wir unsere Hypothese erweitern: „Welche Teilentscheidungen des Kunden führen dazu, dass er oder sie mehrmals bei mir kauft und mich weiterempfiehlt?”
Die Antwort darauf ist die Entscheidungskette des Kunden. In unseren Hochschulseminaren machen wir das häufig am Beispiel der Supergranny deutlich. Supergranny ist zwischen 60 und 70 Jahre alt, gut ausgebildet und wohlhabend. Sie gibt gern Geld aus. Und außerdem ist ihr langweilig, und sie denkt ständig darüber nach, wie sie ihren Enkelkindern etwas Gutes tun kann. Wenn Supergranny beispielsweise nach einer Ausbildungsversicherung für ihre Enkelkinder sucht, recherchiert sie zunächst im Internet. Gleichzeitig jedoch verlässt sie sich bei der Optionensuche nicht nur darauf, sondern recherchiert auch in Testzeitschriften und Tageszeitungen. Sie fragt Freunde und Verwandte beim Kaffeekränzchen und auf Facebook. Erst dann schaut sie sich das Angebot eines konkreten Unternehmens im Web an oder besucht einen Versicherungsvertreter in seiner Filiale. Ihre Kaufentscheidung umfasst also verschiedene Schritte und Touchpoints. Mit dem Wissen darüber kann ein Unternehmen schon sehr fokussiertes Marketing betreiben.
Nun gibt es meistens viel mehr Kunden als nur die Supergranny. Analysiert man die Entscheidungsschritte von konkreten Kunden, stellt man fest, dass sich einzelne Kundengruppen vor allem in der Wahl ihrer Touchpoints unterscheiden. Es ist also nötig, die Schritte, die Kunden in der Customer Journey durchlaufen, möglichst repräsentativ für viele Kunden zu beschreiben und dann unterschiedliche Kunden mit unterschiedlichen Erlebnissen an unterschiedlichen Touchpoints zu adressieren. Und so kann man die zunächst reduzierte Komplexität Stück für Stück wieder aufbauen.
Das Spannende dabei ist natürlich das konkrete Kundenerlebnis. Hier gilt es, sowohl funktionale als auch emotionale Aspekte im Auge zu behalten. Einerseits erwartet der Kunde eine konkrete Lösung seines Anliegens. Wir müssen uns also in erster Linie auf funktionale Aspekte des Erlebnisses konzentrieren. Oder anders gesagt: Die Dinge müssen funktionieren. Ohne ein konkretes Ergebnis, eine Lösung für das Anliegen des Kunden, nutzt die schönste Überlegung nicht, wie dem Kunden im Laufe des Prozesses Freude zu bereiten sei. Sein Kernanliegen ist einfach nicht erfüllt. Darüber hinaus gilt es aber, sich positiv emotional vom Wettbewerb abzuheben. Und hier liegt das spezifische Profilierungspotenzial beim Kundenerlebnismanagement: im emotionalen Aspekt. Wie kann der Kunde auf der menschlichen Ebene angesprochen werden, worüber freut er sich oder ist positiv überrascht? An dieser Stelle kommt der kreative Aspekt ins Spiel, der viele Unternehmen so einzigartig macht.
Zum Weiterlesen:
Berry, Leonard L.; Carbone, Lewis P.; Haeckel, Stephan H.: Managing the total Customer Experience Management. MIT Sloan Management Review Spring, Volume 43, Number 3, 2002.
Was lernen wir daraus?
Wichtig ist es, Erlebnisse für konkrete Personas zu entwickeln. Unter „einer Person” versteht man einen prototypisch und detailliert beschriebenen Kunden, der die Zielgruppe repräsentiert. Eine Persona hat einen Namen, und man schildert detailliert die wichtigsten Details des Lebens dieser Persona. Denn je detaillierter man vor Augen hat, wer eigentlich die Zielgruppe ist, wie diese entscheidet und welche Touchpoints sie nutzt, desto besser versteht das Unternehmen auch die Kernprobleme dieser Gruppe. Nur wenn die Kernprobleme funktional gelöst sind, kann ich mich jedoch on Top emotional vom Wettbewerb differenzieren.
Marketing allein genügt nicht mehr – Warum Empfehlungen das Maß der Dinge werden
Marketing ist eigentlich eine einfache Sache. Man identifiziert Kanäle, auf denen der Kunde erreichbar ist und sendet permanent eine Kaufbotschaft. Irgendwann – so die Theorie – erhört uns der Kunde und kauft tatsächlich. Zumindest wenn wir die vier P des Marketings – Produkt, Price, Place und Promotion – in einem stimmigen Marketingkonzept verpackt haben. Doch so einfach ist es seit mehreren Jahren nicht mehr. Denn zum einen trauen Menschen den Marketingbotschaften der Unternehmen immer weniger. Zum anderen erhalten wir in großen Städten heute etwa 1.200 Werbebotschaften und damit Versprechungen pro Tag. Wer soll das noch ernst nehmen? Werbung ist so unbeliebt wie nie zuvor. Grundsätzliche Probleme des Kunden aber bleiben bestehen: Welches Produkt oder welche Dienstleistung ist denn wirklich das oder die beste?
Um diese Frage zu beantworten, ziehen Menschen zunehmend das Internet zurate. Doch der jeweilige erste Touchpoint für eine Produktsuche, also Google, gibt nicht immer die richtigen Antworten. Welches der über tausend Suchergebnisse ist denn das richtige, welches beruht auf Qualität, und welcher Eintrag ist gekauft oder über gutes Suchmaschinenmarketing zustande gekommen? Verloren hat bei dieser Fragestellung häufig der Anbieter, der auf den Seiten zwei bis n landet. „The best place to hide a dead body is on page two on google!” zeigt die Erfahrung.
Die Suchmaschine allein gibt noch keine Antworten, welches Produkt denn wirklich zu mir passt. Also suchen Konsumenten zunehmend Antworten bei Experten, Fachzeitschriften und seit Jahren immer mehr bei ihren eigenen Netzwerken. Logisch: Was für meine Freunde gut ist, kann für mich ja nicht schlecht sein. Denn: Gleich und gleich gesellt sich gern. Also fragt man als schlauer Konsument nach Empfehlungen.
Und das ist (drittens) so einfach wie nie zuvor. Wir sind durch eine hohe Dichte an Smartphones mit ständigem Zugriff auf große Netzwerke via Social Media immer vernetzt. Auf den meisten Smartphones ist ein Facebook-, WhatsApp- oder Snapchat-Client installiert. Und daher können Menschen im deutschsprachigen Raum im Durchschnitt heute auf etwa 500 Kontakte zugreifen. Und genau diese Personen können zu jeder Sekunde an jedem Ort mit einer Frage nach einer Empfehlung erreicht werden.
Dazu ein Beispiel: Ich bin Vater einer sechzehnjährigen Tochter. Dieses bedauernswerte Kind wurde vor einigen Jahren damit konfrontiert, dass der Familienfernseher kaputt ging. Und das just an dem Samstag, an dem am Abend die Lieblingssendung der Tochter, die „Show mit der Maus” auf dem Programm stand. Nachdem sie (die Tochter) realisiert hatte, dass es damit (der Sendung) wohl ohne Fernseher schwierig werden würde, stellte sie mir eine Frage: „Daddy, du willst doch ‚Daddy des Jahres’ werden, oder?” DIESE Botschaft war nicht misszuverstehen. Also machte ich mich auf zum Fernsehgeräte-Anbieter meines Vertrauens – der Firma Media Markt. Ich bin ja nicht blöd! Dort angekommen das gewohnte Bild: Hunderte von Geräten, alle riesengroß, alle ultraflach, alle gestochen scharf und auf allen läuft das neueste Video von Shakira. Als Mann ist man da grundüberfordert – auch mit der Auswahl.
Also: nach Beratung gefragt: Ein Angestellter im roten T-Shirt geht schnellen Schritts vorbei, murmelt: „Kollege kommt gleich”. Das stimmt: Der kommt und wird schon von drei weiteren Pärchen verfolgt, die seit 9.30 Uhr nach Beratung gieren. Von hier ist also keine Hilfe zu erwarten. Doch welches TV-Modell nehmen? Es gibt zwei Optionen: Entweder ab zum Fachhandel oder das Netzwerk fragen. Erstmal Letzteres. Also: Griff zum Handy, Frage in Facebook eingegeben. Nach zehn Minuten hatte ich sieben relevante Empfehlungen mit einer klaren Tendenz. Einer fragt beim empfohlenen Modell noch nach dem Preis. Ergebnis: Zehn Prozent billiger als bei seinem Kauf noch vor zwei Monaten. Uneingeschränkte Empfehlung. Ich wähle meinen Fernseher, bedanke mich bei Netzwerk, tue dort kund, welches Modell ich gekauft habe und werde „Daddy des Jahres”.
Und genauso funktioniert das neue Marketing: Der Kunde erlebt etwas, bewertet...