I. Schlange und Schuld
Eine neue Epoche beginnt und die Idee der Kunst wird verwandelt
Die Kunst der Gegenwart will keine Richtung kennen, kein Ziel, das erstrebenswert, keine Geschichte, die abgeschlossen wäre. Von ferne leuchten noch Ideen der frühen Avantgarde, auch wenn ihr Glanz längst erloschen ist. Und obwohl die Kunst sich von allem gelöst hat, von den Ordnungsmustern der Stile und Schulen und erst recht vom guten alten Fortschrittsglauben, plagt sie mitunter ein seltsames Sehnen. Es sind die Symptome einer Schwellenzeit, in der das Alte nicht vergehen und das Neue nicht recht beginnen will. Denn es beginnt nicht, wie es in der Moderne stets begann: mit Stolz und unter Jubelrufen. Es ist ein stiller Wandel, der die Kunst erfasst. Doch einer mit gewaltigen Folgen.
Die Kunst der Gegenwart ist frei wie nie, das ist der eine Befund. Sie ist allen Zwängen entschlüpft, aller Pflichten ledig, sie braucht keiner Farb- und keiner Formenlehre folgen, sie ist den Ideologen, den Dogmatikern entkommen. Sie lebt ganz aus sich heraus. Der andere Befund, ein Befund der Schwellenzeit: Die Kunst ist frei und will es nicht länger sein. Sie hält fest an ihrem alten Ruf und Rang, doch zugleich sagt sie sich los von dem, was lange unverzichtbar schien, von den größten Errungenschaften der Moderne.
Die Welt der Kunst verlässt jenes Wertesystem, das ihr Halt und Struktur verlieh. Sie glaubt nicht mehr an den autonomen Künstler. Sie gibt nicht mehr viel auf Eigensinn und Originalität. Den alten Genieglauben bedenkt sie allenfalls mit süffisantem Lächeln. Ausgedient hat die Vorstellung vom heroischen Schöpfer, einzig der Inspiration gehorchend. Und selbst der Glaube an eine fragende, widerspenstige Ästhetik will vielen Mitgliedern der Kunstwelt furchtbar gestrig vorkommen. Damit aber, so will es dieser Essay zeigen, setzt eine Neubestimmung ein – mit erstaunlichen Konsequenzen für Künstler, Museen, den Markt und nicht zuletzt für die Betrachter. Es wandeln sich nicht nur Äußerlichkeiten; diese vielleicht sogar am wenigsten. Es wandelt sich die Idee der Kunst.
In der Moderne war Kunst ein gleichermaßen überladener wie unterbestimmter Begriff. Nur zu gerne wurde er mit möglichst großer Bedeutung angefüllt, ganz so als könnte sich im Schaffen der Künstler das Menschengeschlecht erneuern und am Ende eine von Grund auf bessere Wesensart begründen. Doch was genau mit dem Begriff der Kunst gemeint sein könnte, wurde selten eindeutig geklärt; in seiner Offenheit lud er zu immer wieder anderen Hoffnungen und Auslegungen ein.
Nur in einem geistigen Klima wie diesem, in dem der Kunst alles zugetraut und nichts abverlangt wurde, war es den Künstlern möglich, erstens ihre formalen Freiheiten ins schier Unendliche zu treiben, weil kein Sujet, kein Material, keine Technik ihnen fremd sein musste. Zweitens konnten sie sich darauf verlegen, die Kernideen der Kunst zu bearbeiten, sie zu weiten, zu durchlöchern, sie zu unterlaufen und zu überhöhen. Denn egal, was sie taten, wie streitbar, provokativ oder banal ihre Arbeit auch ausfiel, stets durften sie sich wohl behütet fühlen, beschirmt von einem Begriff, der sie zur Grenzenlosigkeit nachgerade ermunterte.
In den libertären, demokratisch gefestigten Gesellschaften des Westens, und nur von diesen soll hier die Rede sein, durften sich die Künstler von einer Übereinkunft getragen fühlen: von der Gewissheit, dass Kunst bedeutungsvoll und von hohem Wert sei, eine Verheißung auf etwas Verheißungsvolles. In und mit ihr sollte sich ein besseres Leben abzeichnen, aufregender, freier, selbstbestimmter. Ein humanistisches Pathos der Freiheit trug die Kunst weit hinein ins 20. Jahrhundert, und auch als sich irgendwann Ernüchterung einstellte, spätestens in den Nachkriegsjahren, litt ihre Macht darunter nicht. Weiterhin wurde über Kunst geschrieben, oft in den höchsten Tönen. Weiterhin wurde Kunst gesammelt und in großen Ausstellungen präsentiert. Weiterhin galt es als gesellschaftlich geboten, in der Kunst eine höhere Kraft zu erblicken.
Als höhere Kraft aber galt sie vor allem, weil sie lange im Hallraum der Romantik verblieb und also die meisten Künstler unverdrossen nach einer Gegenwelt strebten. Sie setzten sich ab: von den Zwängen des Geldes, den Pflichten des handwerklichen Könnens, den Erwartungen des Publikums. Sie stellten ihre Souveränität unter Beweis, und dafür, für eine Kunst der Eigengültigkeit, der Zweckfreiheit, der Autonomie, wurden sie geschätzt. Im Zeichen dieser Idealbilder wurden Kunsthochschulen gegründet, Kunstpreise ausgeschrieben, Stipendien vergeben, Museen sonder Zahl errichtet, staatliche Ankaufsetats ausgelobt. Und nur weil die Kunst von sich behaupten konnte, etwas Herausgehobenes zu verkörpern und also kein Design, keine Werbung, kein beliebiges Gebrauchsgut zu sein, genoss sie fortgesetzt die gesetzlich verbriefte Kunstfreiheit. In dieser Garantie auf Freiheit spiegelt sich der Anspruch vieler Künstler, von allen Zwängen ausgenommen zu sein, nichts zu müssen, aber so gut wie alles zu dürfen.
Was aber passiert, so möchte dieser Essay fragen, wenn die alten Wertvorstellungen nicht mehr verfangen, weil sie den meisten Künstlern überholt und ausgereizt vorkommen? Was heißt es, wenn Kunst nicht länger als überhöhter, sondern allein als unterbestimmter Begriff betrachtet wird, weil er das prinzipiell Andere und Autonome nicht mehr bezeichnet? Dann könnte tatsächlich etwas Neues beginnen. An die Stelle der alten, verabschiedeten Werte müssten andere treten.
Tatsächlich drängen lange nicht gestellte Fragen nach Ästhetik und Ethik, nach Form und Vermögen, nach Wollen und Sollen zurück in die Debatte. Was schon Aristoteles beschäftigte, was Kant und Schiller diskutierten – wofür die Kunst einsteht, was sie für ein gutes, gelingendes Leben bedeuten kann –, könnte jetzt, im postautonomen Zeitalter, neu beantwortet werden.
In der Moderne verbaten sich solche Fragen, weil Kunst und Künstler als System eigenen Rechts auftraten, nichts und niemandem rechenschaftspflichtig. Mit der Postmoderne, als die Beliebigkeit einzog, verlor sich der hohe Ernst des künstlerischen Spiels und büßte an Selbstgewissheit ein. Spätestens aber mit dem 11. September 2001, mit der Abkehr von Ironie und totalem Relativismus, wuchs der Kunst eine neue Wertschätzung zu, im ökonomischen, aber auch im sozialen Sinne, wie dieses Buch darlegen möchte. Nun, im Zeichen der Postautonomie, fallen viele gültige Trennlinien: Herkömmliches und Ungeahntes, das Obligate und das Obstinate, die Ausnahme und die Regel finden zusammen und in der Folge durchlebt die Kunst eine Phase der Normalisierung. Sie suspendiert ihre bislang so hoch geschätzte Freiheit.
Gewiss kannte auch die autonome Kunst viele Ausnahmen und Einflüsterungen, ihre Autonomie war nie rein und absolut. Manche Künstler des 20. Jahrhunderts wollten ihren Sonderstatus sogar überwinden, um dem Leben und also der Heteronomie mehr Raum zu geben. Für sie hieß Autonomie nicht, die Kunst von der Welt abzuschließen, sondern frei darüber befinden zu können, von welchen Bestimmungen sie bestimmt sein wollte. Doch wenn gegenwärtig just diese Selbstbestimmtheit bewusst relativiert wird, dann fällt es schwer, noch von einer autonomen oder auch nur souveränen Kunst zu sprechen. Ein Verlangen nach Zugehörigkeit und Kollaboration dominiert das alte Streben nach Ungebundenheit. Und das Verhältnis von Ethik und Ästhetik justiert sich neu.
Was dieses Verhältnis ausmacht, in welcher Beziehung das Gute und das Schöne stehen, ob sie überhaupt etwas miteinander zu schaffen haben, darüber ist jahrhundertelang gestritten und geschrieben worden. Viele Traktate, Seminare und Symposien befassten sich mit der Frage, von welchem sittlichen Wert die Kunst zu künden habe und an welche Anstandsgrenzen sich Künstler halten, welche sie überschreiten sollten. Vermag nur ein guter Mensch auch gute Kunst hervorzubringen? Oder ist es umgekehrt, muss ein Künstler die Konventionen seiner Zeit ignorieren, damit sich eine tatsächlich eigenständige, freie Ästhetik entwickelt und der Gesellschaft ein Gegenüber erwächst? Sind nicht die guten Absichten der Tod jeder guten Kunst? Und kann sie also auch unter bösen Vorzeichen entstehen?
Fragen wie diese, die schon oft umgewälzt wurden, soll dieser Essay allenfalls streifen. Auch werden meist nicht einzelne Kunstwerke, seien sie nun besonders obszön oder besonders gefällig, auf ihre ethische Bewandtnis hin abgeklopft. Vielmehr geht es darum, den Blick zu weiten und das Kunstsystem zu befragen: als ein System der Werte. Ohne dieses System und seine ethischen wie ästhetischen Ideale sind die Werke der Kunst nicht zu denken, weder in ihrer Entstehung noch in der Rezeption. Und so muss, wer sich nach dem Sinn und Zweck der Kunst erkundigt, wer wissen will, welchen Beitrag zum gelingenden Leben – in gesellschaftlicher wie in individueller Hinsicht – sie in Aussicht stellt, zunächst die sich wandelnde Idee der Kunst beschreiben und wie diese im Kunstsystem gelebt wird. Nirgendwo zeigt sich klarer als hier, in der alltäglichen Praxis der Ateliers, Galerien, Sammlerhäuser und Museen, wofür die Kunst begehrt wird und mit welchem Ethos und welcher Ästhetik sie diesem Begehren begegnet.
Daher möchte dieses Buch auch keine abstrakte, begriffsstrenge Erörterung sein, vielmehr lässt es sich von einer gelebten Philosophie leiten. Es untersucht, wie Alltag und Kunst ein neues Verhältnis zueinander suchen, welche Aporien diese Beziehung prägen und welche ungeahnten Möglichkeiten sich ergeben. Viele sprechende Beispiele sollen davon erzählen. Für den Anfang jedoch genügt ein Blick auf die Berliner Mitte,...