1: Gregory Crewdson, Untitled, Sommer 2006, Foto
Vorwort
Ja, es gibt wichtigere Probleme. Aber nicht für die Betroffenen. Und wie sollen wichtigere Probleme gelöst werden, wenn schon bei den weniger wichtigen die Kreativität versiegt? Daher dieses Buch: Um sich wieder anderen Dingen zuwenden zu können und nicht in der Ratlosigkeit und Verzweiflung zu versinken, in die ein Aussetzen von Sex, ein Sexout, den zumindest einer nicht will, Männer wie Frauen stürzen kann. Fast alle außer Frischverliebte kann es treffen. In zahlreichen Gesprächen mit Menschen, die ihre Sorgen und Nöte einem Philosophen anvertrauen wollten, der Bücher über die Liebe schrieb*, kam die Rede auf diese Situation zwischen zweien, die an Antarktis denken lässt: Endlose weiße Wüste, eisige Kälte und schließlich ein Sturm, der die ganze Welt mit stechenden Partikeln erfüllt, Whiteout. Von wegen Fifty Shades of Grey, nichts geht mehr, im Sexout erfriert die Beziehung. Zwar ist in der langen Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern (mit all ihren Variationen) sexuelles Elend sicherlich nichts Neues. Aber ist der Eindruck gänzlich falsch, dass es sich just in Zeiten der sexuellen Befreiung häuft? Kann eine sexbesessene Zeit zugleich eine Zeit wachsender Lustlosigkeit und Asexualität sein?
Anders als die moderne Lustkultur glauben macht, kann die vergötterte Lust nicht wirklich wie Gott sein, allmächtig, omnipräsent, immer und überall ansprechbar. Gerade diejenigen, die an das Lustprinzip glauben, haben umso mehr mit der Unlust zu kämpfen, die doch gar nicht vorkommen darf. Das wirkt sich auf die Beziehungszufriedenheit aus, die, wie Befragungen von Paaren zeigen, oft mit sexueller Zufriedenheit zu tun hat. Viele Frauen und noch mehr Männer verneinen die Frage, ob sie den Sex bekommen, den sie sich wünschen.
Es ist wie mit dem Glück: Dass so viele danach suchen, heißt ja nicht, dass so viele in seinem Besitz sind. Wer es aber sein sollte, kann dennoch das Unglücklichsein nicht dauerhaft ausschalten. Ebenso suchen nicht diejenigen nach Sex, die schon davon satt sind. Wer es aber sein sollte, ist damit nicht ewig gegen Hunger gefeit. Unerfreulich ist erst recht, dass ausgerechnet das Abwesende in Gefühlen und Gedanken immer anwesend ist! Dabei könnte es so einfach sein, wenn vorzugsweise diejenigen sich fänden, die in ähnlichem Maße bedürftig sind. Aber gerade die werden eher selten zu Paaren. Und wenn doch, driften ihre Bedürfnisse nach anfänglicher Übereinstimmung auseinander. Warum ist das so? Warum kommt es so häufig vor? Fordert die Polarität ihr Recht ein, die sich in alle Belange des Lebens einmischt? Dieses ewig gleiche Spiel, ist es nicht zum Gähnen?
Individuelle Erfahrungen werden häufig von kulturellen Konjunkturen beeinflusst, ohne dass dies immer jedem bewusst wäre. Nach einer Jahrhunderte währenden Abwertung des Sexuellen hatte eine hysterische Überbewertung Konjunktur, auf die nun eine Zeit der Erschöpfung folgt, die eigentlich nicht überraschend kommt, denn das ist die Konsequenz jeder Verausgabung: Euphorie wird von Ernüchterung abgelöst. Dass der Sex aussetzt und Pause macht, fällt umso mehr auf, je präsenter er zuvor war. Sexout kam wohl zu allen Zeiten vor, aber nicht immer in epidemischen Ausmaßen. Die Häufung der Auszeiten, sei es momentan (Timeout), für längere Zeit (Logout) oder langfristig (Checkout), könnte das Resultat einer übersexualisierten Zeit, eines Sex-Overkill sein: Es hat sich ausgesext, der Sex ist ausgebrannt. Sex sells? Aber was sich abzeichnet, ist ein Sellout, Resteverkauf, alles muss raus! Für Menschen, die ihr Leben ökonomisch betrachten und in der Liebe ein Investment sehen, im Liebesleben die Aktivierung von sexuellem Kapital, sollte das gut erklärbar sein: Auf die Hochkonjunktur von Sex folgt nun eben ein Konjunktureinbruch. Auch bei Börsenkursen geht es nie nur aufwärts, nach Bullenmarktzeiten baisst der Bär, wie das in der Börsensprache heißt, die das Auf und Ab des Lebens auf ihre Weise zu beschreiben sucht. Warum sollte diese schwungvolle Bewegung ausgerechnet beim Sex außer Kraft gesetzt sein?
Freilich hilft die Einordnung in einen größeren Zeitrahmen den Betroffenen nur bedingt weiter: Auch wenn sie ihre Situation besser verstehen, muss sie dennoch von ihnen selbst bewältigt werden. Dazu ist es nötig, gangbare Wege zu finden, beispielsweise die unaufgeregte Integration des Sexout in die Lebenswirklichkeit, damit auch aus dieser Erschöpfung noch Erfüllung werden kann. Aber der Weg dahin ist weit, erst einmal machen sexuelle Auszeiten oder Zurückweisungen den Betroffenen zu schaffen, sie reagieren unterschiedlich darauf: Viele Männer (nicht alle) erleben den Sexout als Knockout, er trifft sie im Kern ihrer Männlichkeit. Sie leiden stumm und reden ungern darüber. Dass sie bei Freunden auf Verständnis hoffen dürfen, löst ihr eigentliches Problem nicht: Zu wenig Sex.
Viele Frauen (nicht alle) zweifeln mehr noch als Männer an ihrer Attraktivität, aber es entlastet sie, mit Freundinnen darüber zu sprechen. Ihre sozialen Netze fangen vieles auf und mindern die Einsamkeit, in der alle Probleme schwerer wiegen. Die Folgen von Beziehungsproblemen halten sich auf diese Weise in Grenzen, wie eine über zehn Jahre laufende dänische Studie ergab, während sie bei Männern, statistisch gesehen, sogar die Sterblichkeitsrate verdoppeln.
Frauen wie Männer können unglücklich und geradezu verbittert über einen Sexout sein, aber die Bitterkeit trifft in erster Linie das Ich, dann erst den Anderen, der ihn oder sie nach subjektiver Überzeugung hat bitter werden lassen. Wozu sich die Verbitterung antun? Im besseren Fall macht die Situation nachdenklich. Nachdenklichkeit ist die Voraussetzung der bewussten Lebensführung, der Lebenskunst, um wieder ein schönes Leben führen zu können. Sie hilft über Bitterkeit, Wut und Verzweiflung hinweg. Das ist der Weg der Philosophie: Innezuhalten und nachzudenken, mit Münchhausen-Effekt, denn so wird es möglich, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf einer aussichtslos erscheinenden Situation zu ziehen. Dazu dienen Fragen, die sich bei einem Sexout von selbst aufdrängen: Was geschieht jetzt und wie ist es dazu gekommen? Was ist nun noch möglich und wie lässt es sich verwirklichen?
Aber ist die Philosophie nicht die asexuelle Disziplin schlechthin? Hatte sie je etwas zum Sex zu sagen? Überraschenderweise war die Beschäftigung mit Sexfragen eine Angelegenheit der Philosophie von ihren Anfängen an: Das große Nachdenken ist daraus erst hervorgegangen. Den ersten Sexout der Philosophiegeschichte erlebte Sokrates, dessen Ehefrau Xanthippe offenkundig nichts mehr von ihm wissen wollte. Es ist nicht überliefert, was Sokrates selbst zu dieser Situation beitrug, an der immer zwei, mindestens zwei, beteiligt sind. Überliefert ist jedoch, dass er daraufhin das Gespräch mit Aspasia suchte, die sich, wie es scheint, in derlei Dingen auskannte, vielleicht weil sie selbst gelegentlich eine Zurückweisung zu bewältigen hatte. In Platons Dialog Menexenos rühmt Sokrates sie als seine Lehrerin, die ihm dazu riet, sich ganz aufs Denken zu verlegen und aus körperlichen Gelüsten geistige zu machen, sie also zu »sublimieren« (Barbara Ehlers, Eine vorplatonische Deutung des sokratischen Eros, 1966). Er hielt sich daran. Der Rest ist Philosophiegeschichte.
Die Situation, die nachdenklich macht, hat der amerikanische Maler Edward Hopper 1959 in einem Bild dargestellt, das er Exkursion in die Philosophie nannte. Zuvor weckte sie bereits Picassos Interesse und zuletzt wurde ein Sujet der modernen Kunstgeschichte daraus, vielfach variiert, die Abbildungen im vorliegenden Buch geben einen Eindruck davon. Bei Hopper sitzt ein Mann im blütenweißen Hemd, Hemdkragen geöffnet, Hose gebügelt, am Bettrand. Die halb entblößte Frau hinter ihm hat sich weggedreht. Was sich zwischen ihm und ihr abgespielt hat, ob sich überhaupt etwas abgespielt hat, ist unklar. Klar ist nur, dass das Buch, das er aufgeschlagen weggelegt hat, eines von Platon ist: Hoppers Frau, die für viele seiner Bilder Modell stand, saß oder lag, erinnerte sich daran. Platon erzählte in seinem Buch Symposion von einem »Trinkgelage«, das mit Reden über die Spielarten der Liebe garniert war. In einer dieser Reden berichtete Sokrates von Aspasia, die er nun Diotima nannte: Sie habe ihn zum Nachdenken ermuntert. Auf diesen Weg begibt sich auch der Mann in Hoppers Bild, eine Falte zerteilt messerscharf seine Stirn. Etwas beschäftigt ihn. Und was ist mit ihr?
In einem anderen Bild stellt Hopper zehn Jahre früher die Situation mit vertauschten Rollen dar. Handelt es sich um austauschbare Positionen in einer Grundsituation zwischen zweien, die sich in moderner Zeit noch radikalisiert und universalisiert hat? Der große Traum von Bindung und Geborgenheit führt zwei Menschen zusammen, bevor jeder für sich wieder Ansprüche auf Freiheit und Selbstbestimmung geltend macht. Aber wie können zwei zueinanderfinden, wenn jeder größten Wert auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse legt? Das Bett wird zum Schauplatz des Aufeinandertreffens der divergierenden Interessen.
Innehalten und Nachdenken ist immer eine Lösung, zumindest ein wichtiger Schritt auf dem Weg dazu, auch bei wichtigeren Problemen der Menschheit. Wenn die Besinnung und Neuorientierung in einer misslichen Situation zur vertrauten Übung wird, kann sie auch in anderen Zusammenhängen zum Einsatz kommen.
In diesem Buch geht es erst...