Stichwort »Weniger ist mehr«
Sich ein Leben gestalten, das guttut
»Es gibt nichts geschenkt im Leben«, lautet ein gutes altes Sprichwort. Es gibt nichts geschenkt, das gilt auch für das Alter. Denn es ist keineswegs so, dass älteren Menschen psychisches Wohlbefinden zufällt, wenn nur genug Lebensjahre verbraucht worden sind. Und es ist auch nicht so, dass jeder im Alter zerbirst vor Glück. Aber es ist eben so, dass die Befindlichkeit bei einem größeren Teil der Älteren überdurchschnittlich gut ist. Weil die Lebenserfahrenen in vielen Dingen wissen, worauf es ankommt. »Man muss sich die feinen Dinge im Leben erhalten«, sagte mein Großvater.
Man weiß heute, dass die Lebenszufriedenheit selbst- oder vielmehr kopfgemacht ist. Ältere Menschen leben auf eine Art und Weise, die ihr Gefühlsleben optimiert. Sie haben ein Erfolgskonzept: gute Gefühle verstärken und negative Gefühle zurückfahren. Klingt nicht gerade nach der Erkenntnis des Jahrhunderts? Mag sein, dass das alle gerne möchten. Der Clou liegt daran, dass ältere Menschen es erfolgreicher hinbekommen. Und dass es gerade auch das Weniger ist, aus dem sie einen Lebensgewinn gestalten. Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass viele Ältere weniger soziale Kontakte haben, und zwar, weil sie es so wollen. Unterm Strich geht es ihnen besser damit, da Menschen durchaus belasten können.
In einer Gesellschaft, in der ein großes Netzwerk nicht nur als erstrebenswert, sondern auch als Statussymbol gilt, mutet der Gedanke, seine Kontaktanzahl gezielt zu verringern, eigentümlich an. Aber so ist es eben manchmal im Leben. Dass man das Glück dort findet, wo man es nicht erwartet. Das Leben kann auch anders funktionieren, als es die Norm ist. Und zwar nicht schlechter – im Gegenteil.
Die Angst vor dem Weniger
Die Ansicht, dass man im Alter weniger hat und es deswegen weniger lebenswert ist, ist dem Denken vieler Jüngerer eingepflanzt. Allein schon, weil Ältere einen kleineren Wirkungskreis haben und dadurch weniger Kontakte. »Ich will nicht alt werden, weil man da immer einsam auf der Parkbank sitzen muss« – das Zitat einer 10-Jährigen. »Ich könnte es mir nicht vorstellen, ohne meinen Job und meine Kollegen zu sein«, eine 34-Jährige. »Ich empfinde die Rente als Entlastungssituation. Früher habe ich mich mehr geärgert. Auch bei der Arbeit, aber nicht nur. Heute bin ich entspannt. Ich genieße das Leben mehr« – ein 65-jähriger Pensionär.
Der erwähnte Pensionär ist ein guter Bekannter von mir. Bei ihm habe ich vor seiner Rente befürchtet, dass der Ruhestand zur Katastrophe würde. Dass er durchdrungen wäre von Einsamkeit und Kontaktarmut. Tatsächlich ist das nicht passiert. Und das ist insgesamt sehr typisch für die Lebensfortgeschrittenen.
Weniger soziale Kontakte zu haben, dass kann für Ältere auch eine Quelle ihres Wohlbefindens sein. Es ist keineswegs unabdingbar eine Belastung. Bewertung von außen und Bewertung der Betroffenen selbst sehen diesbezüglich ganz unterschiedlich aus, wie die Forschung zeigt. Einsamkeit im Alter wird von Jüngeren als größeres Problem eingeschätzt als von Älteren. Bei einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums haben die jungen Befragten am häufigsten Furcht vor Einsamkeit im Alter angegeben. Mit steigendem Alter nahm die Angst ab und war am geringsten ausgeprägt bei den Ältesten. Diese waren lediglich halb so beunruhigt wie die 14- bis 29-Jährigen.
Angesichts des sozialen Status, den ein großes soziales Netzwerk besitzt, ist es allerdings durchaus nachvollziehbar, dass Jüngere skeptisch und irritiert sind, was die geringere Kontaktanzahl Älterer anbelangt. In jungen, aber ebenso in mittleren Lebensjahren will man ja beliebt und dabei sein. Nur kostet das eben auch viel Zeit und Energie und nicht jeder soziale Kontakt spielt das Engagement wieder zurück. Wertschätzung ist entscheidend, damit Beziehungen als bereichernd erfahren werden. Sich auf einer tieferen und verlässlichen Ebene verbunden fühlen ebenfalls. In die richtigen Beziehungen ausreichend zu investieren, und nicht in die, bei denen nichts zurückkommt, das ist eine wichtige Kompetenz für Zufriedenheit. Es gibt dem Leben Gehalt und Glück. Und je mehr Kontakt wir zum Glück haben, umso besser. Das ist eingängig, aber auch wissenschaftlich belegt.
Die Sozialwissenschaftler James Fowler und Nicholas Christakis haben 2008 eine Studie durchgeführt, die ich für mich die »Das Glück wohnt nebenan«-Studie nenne. Für eine Langzeitstudie wurden 4739 Personen 20 Jahre beobachtet. Und als Fowler und Christakis die Daten auswerteten, da kam heraus: Glückliche Menschen sind in auffälliger Weise von glücklichen Menschen umgeben. Wer dann noch im Radius von 1,6 Kilometern einen glücklichen Freund wohnen hat, für den steigt die Perspektive auf eigene Glücklichkeit um 25 Prozent, sagen die Forschungsdaten. Ja, die sind von Vorteil – die kurzen Wege. »Wenn du einen Freund hast, geh ihn oft besuchen; denn Dornen und Gestrüpp verwachsen den Weg, der nicht begangen wird«, das ist eine asiatische Weisheit. Und es gibt sie bewiesenermaßen zu Recht. Zumal auch der gesundheitliche Gewinn durch gute Kontakte enorm ist.
Studien haben nämlich ebenfalls gezeigt, dass das Vorhandensein guter sozialer Kontakte das Immunsystem stärkt und vor Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen schützt. Speziell der Umgang mit Stress ist ein besserer, wenn Menschen um einen sind, die einen unterstützen, Herz und Kreislaufsystem gewinnen beispielsweise dadurch. Aus der Alltagserfahrung weiß man ja eigentlich schon gut, wie hilfreich allein die verständliche Berührung eines guten Freundes sein kann. Die Umarmung, das Schulterklopfen, das Halten der Hand. Aber vermutlich ebenfalls, wie gegenteilig dann unfreundliche, unzuverlässige und unberechenbare Menschen wirken – von Blutdrucksenkung keine Spur. Tja, und insofern gilt wohl, dass Glück und Gesundheit eine Art Lauffeuer sind, für Unglück gilt dies aber umgekehrt auch. Und genau in dieser Spannweite bewegen sich viele ältere Menschen immer weiter weg vom Unglück und immer näher zum Glück hin.
Soziale Kontakte – Qualität statt Quantität
Die Wissenschaft weiß heute, dass ältere Menschen auch weniger soziale Kontakte haben, weil sie eine Wohlbefindens-Strategie verfolgen. Ein kleineres soziales Netzwerk, das ist von den Älteren durchaus gewollt. Sie ersparen sich schlichtweg Begegnungen, die sie ärgern und belasten. Und sie sparen sich die »leeren Formen, die Routinen«, so hat es mir ein ehemaliger Unternehmer erzählt, der heute Anfang 70 ist. »Früher habe ich mindestens um die 50 Weihnachtskarten geschrieben. Mit Beteuerungen, dass man sich im nächsten Jahr mal wieder sehen müsse. Und ebenso viele Karten habe ich auch bekommen, mit eben diesem Satz. Getroffen hat man sich dennoch nicht – all diese Phrasen brauchte ich nicht länger. Heute schreibe ich fünf Briefe an Weihnachten, und die sind dafür gehaltvoll. Das spart gehörig Energie. Und die habe ich dann für meine Familie und meine Hobbys. Ich möchte es nicht mehr anders haben.«
In der Wissenschaft wird es mit der sogenannten Theorie der sozioemotionalen Selektivität erklärt, wie lebenserfahrene Menschen bei sozialen Kontakten handeln. Dass sie wählerisch werden, was ihr Netzwerk anbelangt. Es ist in gewisser Weise ein »Das erspar ich mir«-Denken, das dahintersteckt. Ein »Mit meiner Zeit kann ich etwas Gehaltvolleres tun«.
Die Theorie der sozioemotionalen Selektivität
Die angesprochene Theorie der sozioemotionalen Selektivität stammt von den renommierten Altersforschern Laura Carstensen und Frieder Lang. Auf der Basis verschiedener Untersuchungen haben diese gefolgert, dass Menschen mit dem Alter zunehmend wählerisch werden, mit wem sie Kontakt pflegen. Weil ältere Menschen stärker nach Beziehungen mit emotionalen Gewinnen streben – also lieber fünf Briefe mit Tiefe schreiben als 50 Weihnachtskarten – treffen sie bewusst auch die Entscheidung, Verbindungen zu kappen, die ihnen nicht das bringen, was sie brauchen.
Der Psychogerontologe Frieder Lang hat mit seinem Team 206 Erwachsene zwischen 70 und 103 Jahren begleitet, und zwar über vier Jahre. Dabei zeigte sich, dass die Hälfte aller abgebrochenen Beziehungen von Älteren freiwillig beendet worden war. Nur ein Drittel erklärte sich durch Krankheit oder Tod der früheren Kontakte. Und überdies: Je näher Menschen sich ihrem Lebensende fühlen, umso stärker gaben sie nicht bereichernde Beziehungen auf.
Für mich deckt sich das durchaus mit meiner Erfahrung. Obwohl ich die Freundlichkeit älterer Menschen wirklich schätze, sind sie für mich in ihren Äußerungen manchmal doch recht rigoros. »Mit dem rede ich nicht mehr. Hinterher bin ich jedes Mal verärgert. Das tue ich mir nicht mehr an.« Ältere können ausgesprochen konsequent sein, was Nichtbeachtung anbelangt. Es gibt ja dieses flapsige Motto: »Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich Menschen von Anfang an unsympathisch finden darf. Ich habe ja nicht ewig Zeit.« Und stimmt das nicht für viele ältere Menschen zumindest ein bisschen?
Diplomatisches Verweichlichen ist dem Alter also nicht unbedingt zu eigen. Vielmehr führt wenig Lebenszeit zu strengem Entscheiden, was damit noch zu tun ist. Dieser hohe Grad in Sachen aktiver Beendung ist zwar radikal, aber auch ziemlich clever. Denn negative Erfahrungen gewichten sehr, was mit Unterstützung der Mathematik inzwischen nicht nur nachgewiesen, sondern sogar in eine Formel gepackt ist.
So berechnet sich Beziehungsqualität
Der Beziehungsforscher John Gottmann analysiert seit 40 Jahren, was Menschen in Beziehungen hält und was Beziehungen schwierig macht. Zusammen mit dem Mathematiker James...