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E-Book

Psychotherapie für den Alltag

Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde

AutorViktor E. Frankl
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451806452
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wer sich öffnet für den Sinn seiner Lebenssituation mit ihren kleinen und großen Herausforderungen und Problemen, wird gesund und frei.Diese elementare Erkenntnis hat Viktor E. Frankl, ein Überlebender von Auschwitz, zur Grundlage eines neune therapeutischen Prinzipt gemacht:Heilung durch Sinnfindung. Nicht der Blick in die vielleicht schlimme, gar traumatisierende Vergangenheit macht gesund; es ist die Frage nach dem Wozu, die weiter hilft und heilt.

Viktor E. Frankl, 1905-1997, Prof. f. Neurologie und Psychiatrie sowie Begründer der Logotherapie, lehrte und forschte u.a. in Wien, Harvard und Stanford. Er veröffentlichte 29 Bücher, die mittlerweile in 22 Sprachen übersetzt wurden. Sein Hauptwerk 'Man's Search for Meaning' zählt mit über vier Millionen verkauften Exemplaren zu den Weltbestsellern.

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Leseprobe

Die Problematik psychiatrischer Aufklärung


... coacervat nec scit quis percipiat ea.

In einem Bericht über seine Studienreise nach den Vereinigten Staaten von Amerika schreibt der Marburger Psychiater Professor Villinger, die dort herrschende Neigung zur Popularisierung und zur Propagierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse werde der eine mehr für einen Vorzug, ein anderer aber eher für einen Schönheitsfehler ansehen. Nun, ich möchte diesbezüglich einen vermittelnden Vorschlag machen, so zwar, dass ich sage: Die Propaganda mag sehr wohl ein Vorzug sein; die Popularisierungstendenz jedoch halte ich für einen Schönheitsfehler. Während nämlich die Propaganda beispielsweise psychohygienisches oder psychotherapeutisches Wissen effektiv ins Volk hineinträgt und solcherart in die Breite wirksam macht, lässt es sich nicht leugnen, dass die Popularisierung der Psychotherapie selber nicht immer Psychotherapie ist, also nicht immer psychotherapeutisch wirken muss. Bevor ich dazu übergehe, dies im Einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen, möchte ich bezüglich wissenschaftlicher Aufklärung im Allgemeinen jemanden zitieren, dessen Wissenschaftlichkeit ebenso über jeden Zweifel erhaben ist wie sein Rekord hinsichtlich der Anzahl von Versuchen, seine Lehre zu popularisieren: Ich denke an Albert Einstein, und zwar im Besonderen an ein Wort von ihm, demzufolge dem Wissenschaftler nur die Wahl bleibe, entweder verständlich oder oberflächlich zu schreiben oder aber gründlich und unverständlich1.

Kehren wir aber zum besonderen Thema psychotherapeutischer Aufklärung zurück, so ergibt sich, dass die Gefahr des Unverständlichen nicht einmal die größte Gefahr ist, die da allen Popularisierungsbestrebungen droht; größer als die Gefahr des Unverständnisses ist vielmehr die von Missverständnissen. So hat etwa Dr. Binger, der Verantwortliche für die psychische Hygiene in New York, darüber geklagt, dass man vor dem Missverstandenwerden auch dann nicht sicher ist, wenn man wirklich gute Vorträge hält; er selbst zum Beispiel habe im Radio einen Vortrag über die so genannte psychosomatische Medizin gehalten und am darauffolgenden Tag einen Brief erhalten, in welchem ihn jemand fragte, wo man ein Fläschchen psychosomatische Medizin zu kaufen bekomme.

Nun, ich muss gestehen, dass ich keineswegs davon überzeugt bin, dass das Wissen um irgendwelche Krankheiten unter allen Umständen auch etwas Heilsames darstellt. Im Gegenteil, ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass es sich sogar schädlich auswirkt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, wie die Verhältnisse beispielsweise bei einer Blutdruckmessung liegen: Nehmen wir an, ich messe einem Patienten den Blutdruck und stelle dabei fest, dass der Druck leicht erhöht ist; wenn ich nun auf die bange Frage des Kranken: Herr Doktor, wie sieht es mit meinem Blutdruck aus? erkläre, dass er sich nicht zu ängstigen braucht, dass hierzu kein Grund vorliegt – lüge ich meinen Patienten dann an? Ich behaupte nun, dass dies nicht der Fall ist. Denn mein Kranker wird auf meine beruhigende Mitteilung hin erleichtert aufatmen und etwa seinerseits erklären: Gott sei Dank – wissen Sie, Herr Doktor, ich habe nämlich schon gefürchtet, mich könnte der Schlag treffen. Und sobald sich diese ängstliche Erwartung gegeben hat, wird der Blutdruck des Patienten auch wirklich normal sein. Was wäre aber im umgekehrten Fall geschehen – wenn ich dem Kranken die Wahrheit gesagt hätte? Es wäre bei dieser Wahrheit gar nicht geblieben, es wäre nämlich gar nicht bei der leichten Druckerhöhung geblieben, sondern der nunmehr erst recht besorgte und ängstlich gemachte Patient hätte, auf meine Eröffnung hin, sofort mit einer wesentlichen Erhöhung seines Blutdruckes reagiert.

Oder denken wir an die Popularisierung statistischer Forschungsergebnisse: Ich bin überzeugt davon, wenn man auf Grund einer Statistik feststellen würde, dass so und so viele Männer ihre Frauen betrügen – und dergleichen ist ja im Rahmen einer großzügigen statistischen Erhebung tatsächlich geschehen –, wenn man solches feststellen und diese Feststellung allgemein bekannt machen würde – ich bin überzeugt davon, dass es auch in diesem Fall gar nicht dabei bliebe, nicht beim festgesetzten Prozentsatz untreuer Männer; sondern der durchschnittliche Mann wird sich gewiss nicht denken: Es ist ein Skandal, dass die Majorität der Männer so ist (so wie er selbst) und von heute an bin ich meiner Frau treu – schon um die Minorität der Anständigen zu stärken und zu stützen. Sondern der durchschnittliche Mann wird sich einfach denken: Nun, ich bin eben auch kein Heiliger und brauche nicht besser zu sein als der Durchschnitt – und diese Erwägung wird vielleicht das nächste Mal, bei der erstbesten Gelegenheit einer Versuchung, die an ihn herantritt, in die Waagschale seiner Entscheidung fallen. Mag sein, dass all dies sich vergleichen ließe mit der bekannten These des Physikers Heisenberg, dass die Beobachtung eines Elektrons immer auch schon eine Beeinflussung mit sich bringt: Analoges gilt in unserem Zusammenhang, und ich möchte variierend zu behaupten wagen, dass zum Beispiel die Mitteilung einer statistischen Wahrheit immer auch schon eine Beeinflussung derjenigen bedeutet, die von der betreffenden Statistik erfasst wurden, also letzten Endes zu einer Verfälschung der Wahrheit führt.

In Amerika, wo die Popularisierung gerade der Tiefenpsychologie, der Psychoanalyse, Ausmaße angenommen hat, von denen sich der Mitteleuropäer kaum einen Begriff machen kann, zeigen sich bereits die Schattenseiten. So konnte man kürzlich lesen – in einer fachärztlichen Zeitschrift! –, dass jene so genannten freien Einfälle, auf deren Produktion bekanntlich die psychoanalytische Behandlungsmethode basiert, vielfach längst nicht mehr „frei“ sind, zumindest nicht so frei, als dass sie noch dem Arzt irgendwelche Aufschlüsse über das Unbewusste des Patienten geben könnten: Viel zu sehr weiß der Kranke beiläufig darum, „wo“ der Psychoanalytiker „hinaus will“, und zwar weiß er darum von den vielen Büchern her, die sich mit Psychoanalyse und derartigen Lieblingsthemen der dortigen Leserschaft befassen – und von Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit kann keine Rede mehr sein 2.

Der durchschnittliche Leser kennt die wichtigsten Komplexe 3. Was er jedoch nicht weiß, das ist: dass solche Komplexe oder die Konflikte oder die so genannten traumatischen Erlebnisse, also seelischen Verletzungen sozusagen, am Entstehen der Neurosen letzten Endes gar nicht so beteiligt sind, wie er annimmt. Um dies zu illustrieren, möchte ich nur darauf hinweisen, dass ich einer Ärztin meiner Abteilung den Auftrag gegeben habe, wahllos, also auslesefrei, die zufällig letzten 10 Fälle von Neurose, die in unserer ambulanten Behandlung standen, auf alle erschütternden Erlebnisse hin auszufragen. Daraufhin wurden, ebenso wahllos und auslesefrei, 10 weitere Patienten, und zwar solche, welche wegen organischer Nervenkrankheiten in unserer Abteilung lagen, gleichsam durchkämmt – mit dem erstaunlichen Resultat, dass diese seelisch gesund Gebliebenen nicht nur ähnliche (auch ähnlich schwere) Erlebnisse durchgemacht hatten wie die ersten zehn, sondern dass sie diese Erlebnisse sogar in einer weitaus größeren Anzahl gehabt hatten, aber eben überwinden konnten, ohne neurotisch zu erkranken.

Es besteht also ganz und gar kein Grund, irgendwie fatalistisch zu sein: Eine fatalistische Einstellung hinsichtlich vergangener Erlebnisse, auch schwerer Erlebnisse, ein solcher Fatalismus wäre nämlich seinerseits neurotisch, wäre selber ein neurotisches Symptom. Denn es ist typisch neurotisch, sich auf seine Komplexe oder auf seinen Charakter auszureden und so zu tun, als ob man sich von sich selbst alles gefallen lassen müsste. Aber beim Neurotiker ist es typischerweise eben so: Was er an sich selbst feststellt – auf das legt er sich immer auch schon fest; was er in sich vorfindet – damit findet er sich immer auch schon ab. Spricht er beispielsweise von seiner Willensschwäche, so vergisst er, dass nicht nur gilt: Wo ein Wille ist, dort ist auch ein Weg – sondern es gilt mehr als dies, es gilt nämlich auch: Wo ein Ziel ist, dort ist auch ein Wille. Sobald jedoch ein Neurotiker von seinen Charakterzügen, überhaupt von seinem Charakter nur redet, redet er sich auf diesen Charakter auch schon aus. Aber wie sollte einer, der sein Schicksal für besiegelt hält, es besiegen können?

Das ist es, warum wir gegen den neurotischen Fatalismus auftreten müssen, in einem damit aber auch gegen eine Art, psychiatrische Forschungsergebnisse zu popularisieren, die nur Schaden stiften kann. Wie vielen Patienten begegnen wir doch, deren neurotische Erkrankung dadurch überhaupt erst entstanden ist, dass sie auf irgendwelche an sich harmlose nervöse Beschwerden mit der Befürchtung reagieren, sie könnten entweder das Symptom oder ein Prodrom, also entweder das Anzeichen oder ein Vorzeichen, drohender ernstlicher Krankheiten darstellen. Und zu solchen Befürchtungen findet der Laie immer wieder Anlass in einer medizinischen bzw. psychiatrischen Volksbildung, die auf eine gefährliche Halbbildung hinausläuft.

Heutzutage, wo es nachgerade zum guten Ton des Journalismus gehört, mit psychiatrischen Fachausdrücken nur so herumzuwerfen, heutzutage kann auch der Film nicht zurückstehen, und so kommt es denn, dass er sich mit der Psychoanalyse, mit Fällen von Bewusstseinsspaltung und Gedächtnisverlust befasst – zumindest aber damit, was er sich unter Psychoanalyse usw. vorstellt. In Wirklichkeit werden dabei eben nur allzu unnötige Befürchtungen gezüchtet. So musste sich jede...

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