In der kaiserlichen Stadt
Samstag, 20. Oktober
Es schneit. Der Himmel ist tief und dunkel, ohne Hoffnung auf einen Lichtblick, als gäbe es gar keine Sonne mehr. Ein wütender Wind bläst aus Norden, und schwarzer Staub wirbelt in wilder Flucht mit den weißen Flocken um die Wette.
Heute morgen erste Zusammenkunft mit unserem Gesandten in der spanischen Gesandtschaft. Sein Fieber hat nachgelassen, aber er ist noch sehr schwach und wird lange das Bett hüten müssen. Die wenigen Mitteilungen, die ich ihm zu überbringen habe, kann ich erst morgen oder übermorgen machen.
Ich nehme meine letzte Mahlzeit unter den Mitgliedern der französischen Gesandtschaft im Hause des Kanzlers ein, wo man den Mangel prunkvoller Unterkunft durch um so herzlichere Gastfreundschaft ersetzt. Um halb zwei Uhr langen die beiden mir zur Verfügung gestellten chinesischen Karren an, die mich samt meinen Leuten und meinem geringen Gepäck nach der "Chinesischen Stadt" befördern sollen.
Diese winzigen chinesischen Karren sind stets festgefügt, schwerfällig und ohne jede Federung; der meine sieht aus wie ein Leichenwagen, er ist außen mit schiefergrauer
Seide und breitem Besatz aus schwarzem Sammet bespannt.
Wir fahren nach Nordwesten, in umgekehrter Richtung als gestern, zur "Chinesischen Stadt" und dem Tempel des Himmels. Fünf bis sechs Kilometer werden wir bei dem jammervollen Zustand der Straßen und Brücken, deren Pflastersteine zur Hälfte fehlen, fast im Schritt zurücklegen müssen.
Diese Karren haben keine Türen, sie sind wie ein einfaches, auf Räder gestelltes Schilderhaus, und heute wird man darin von eisigem Wind gepeitscht, vom Schnee gegeißelt und vom Staub geblendet.
Zunächst durchqueren wir die von Soldaten wimmelnden Ruinen des Gesandtschaftsviertels und gleich darauf einsamere, fast verödete rein chinesische Stadtteile: eine staubige, graue Verwüstung, die wir durch die weißen und schwarzen Wolkenwirbel nur undeutlich sehen... An den wichtigsten Punkten, den Toren und Brücken, stehen europäische oder japanische Posten; die ganze Stadt ist militärisch bewacht. Dann und wann kommen Arbeitskommandos und Lazarettwagen mit der Fahne des Roten Kreuzes an uns vorüber.
Endlich macht mich der Dolmetscher der französischen Gesandtschaft, der sich mir freundlich als Führer angeboten hat und meinen mit trauerfarbener Seide bespannten Karren teilt, auf die erste Ringmauer der "Gelben" oder "Kaiserlichen Stadt" aufmerksam. Da halte ich Ausschau in dem Winde, der mir in den Augen brennt.
Unter schrecklichen Stößen des Wagens fahren wir durch große blutrote Mauern, nicht durch ein Tor, sondern durch eine von den indischen Reitern der Engländer durch die Mauerbreite gesprengte Bresche.
Jenseits dieser Mauer ist Peking weniger zerstört. In einigen Straßen haben die Häuser ihre vergoldete Holzverkleidung und die Reihen der Fabelwesen an den Dachsimsen behalten. Freilich ist das alles baufällig, wurmstichig oder von den Flammen beleckt und von Kugeln durchlöchert; stellenweise kribbelt da drinnen noch ein Pöbel von verdächtigem Aussehen, mit Schaffellen oder Lumpen aus blauer Baumwolle bekleidet. Dann wieder kommen wüste Strecken mit Asche und Trümmern, wo man die scheußlichen, an Menschenfleisch dickgefressenen Hunde wie Rudel von Wölfen umherlungern sieht. Sie reichen seit diesem Sommer nicht mehr hin, um die Toten zu vertilgen.
Dann folgt ein anderer Mauerwall vom gleich blutigen Rot und ein großes, mit Fayencen verziertes Tor, durch das wir hindurch müssen: das Tor der eigentlichen "Kaiserlichen Stadt", jenes Bezirks, in das noch kein Fremder je gedrungen war –, und mir ist, als öffnete sich vor mir die Pforte des Zauberlandes und des Geheimnisses...
Wir fahren hindurch – und meine Überraschung ist groß, denn nicht eine Stadt, sondern ein Wald liegt vor mir. Ein finsterer Wald, von Raben bevölkert, die überall im grauen Astwerk krächzen. Die gleichen Holzarten wie im Tempel des Himmels, Zedern, Thujas, Weiden; lauter uralte Bäume in verkrümmter Gestalt, in Formen, die wir bei uns nicht kennen. Graupeln und Schnee peitschen ihre alten Äste, und der unausweichliche schwarze Staub dringt mit dem Wind in die Baumgänge.
Man sieht auch bewaldete Hügel, auf denen sich unter den Zedern Gartenhäuser aus Fayence emporstufen, und trotz ihrer großen Höhe erkennt man ihre Künstelei, so traditionell chinesisch sind ihre Umrisse. In der durch Schnee und Staub verdunkelten Ferne erblickt man hier und dort unter den Bäumen alte fremdartige Paläste mit glasierten Ziegeldächern, von entsetzlichen marmornen Ungeheuern bewacht, die an den Schwellen kauern.
Und doch ist diese ganze Stätte von unbestreitbarer Schönheit; aber wie düster, feindselig und beängstigend ist sie auch unter dem finsteren Himmel!
Jetzt kommen wir an etwas Ungeheurem vorbei, einer Festung, einem Gefängnis oder etwas noch Schrecklicherem. Doppelte Wälle steigen auf, deren Ende man nicht absieht, blutrot wie stets, von Türmen mit Schießscharten überragt und von einem Ring dreißig Meter breiter Gräben umgeben, in denen Schilf und Wasserrosen welken. Es ist die im Innersten der "Kaiserlichen Stadt" eingeschlossene "Violette Stadt", noch unzugänglicher als jene, die Residenz des Unsichtbaren, des Sohnes des Himmels ... Mein Gott! wie düster ist diese ganze Stätte, wie feindselig und schrecklich unter dem düsteren Himmel!
Zwischen den alten Bäumen dringen wir in tiefster Einsamkeit weiter vor: man wähnt sich wie im Garten des Todes.
Diese stummen geschlossenen Paläste, die hier und dort unter den Bäumen stehen, heißen "Tempel des Wolkengottes", "Tempel der langen Lebensdauer des Kaisers" oder "Tempel des Segens der heiligen Berge"... Und ihre für uns unfaßlichen asiatischen Traumnamen machen sie uns noch fremder.
Aber diese "Gelbe Stadt" wird sich, wie mein Reisegefährte versichert, nicht immer in einem so erschreckenden Bilde zeigen, denn heute herrscht ein außergewöhnliches Wetter, und der chinesische Herbst ist im Gegenteil meistens prächtig klar. Er versichert mich, daß mir in diesem einzig dastehenden Walde, in dessen Schatten ich gewiß mehrere Tage wohnen werde, noch warme, sonnige Nachmittage winken.
"Sehen Sie," sagt er jetzt, "hier der Lotossee und dort die Marmorbrücke."
Der "Lotossee", die "Marmorbrücke"! Diese beiden Namen sind mir seit langem bekannt, Namen aus Feenmärchen, die etwas bezeichnen, was man nie sehen kann und dessen Ruf doch durch die unzugänglichen Mauern gedrungen war. Bilder des Lichtes und der Farbenglut zauberten sie früher bei mir hervor, und hier in dieser düsteren Einöde, unter diesem eisigen Wind, packen sie mich seltsam.
Der Lotossee!... Nach den Liedern chinesischer Dichter hatte ich mir einen herrlich klaren Wasserspiegel vorgestellt, mit einer verschwenderischen Fülle großer geöffneter Blumenkelche, eine mit rosigen Blumen geschmückte, rosige Wasserfläche. Und ich finde das! Schlamm, einen traurigen Sumpf, den welke, vom Frost gebräunte Blätter bedecken! Dabei ist dieser von Menschenhand gegrabene See ungleich größer, als ich gedacht, und fernab umschließen ihn schwermütige Ufer, auf denen unter dem grauen Himmel alte Pagoden zwischen hohen Bäumen auftauchen.
Die Marmorbrücke!... Ja, dieser lange weiße Bogen mit einer Reihe weißer Stützpfeiler, diese anmutige hochgeschwungene
Wölbung, diese mit Fratzen verzierten Geländer, das alles entspricht dem Begriff, den ich mir davon gemacht; höchst prunkvoll und höchst chinesisch. – Nicht gesehen aber hat meine Phantasie die beiden Leichen, die in voller Verwesung in ihren Gewändern dicht vor der Brücke im Schilfe liegen.
Alle diese breiten welken Blätter auf dem See sind wirklich Lotosblätter; jetzt in der Nähe erkenne ich sie und erinnere mich, früher vielfach Verwandte von ihnen auf den Teichen von Nagasaki oder Yeddo gesehen zu haben – doch so grün und so frisch! Und fürwahr, hier mußte sich früher ein ununterbrochener Teppich von rosenroten Blumen ausbreiten; noch tausendfältig ragen ihre welken Stengel aus dem Schlamm.
Doch ohne Zweifel werden sie sterben, diese Lotosfelder, die seit Jahrhunderten die Augen der Kaiser entzückten, denn ihr See ist fast leer. Die Verbündeten haben seine Gewässer in den Verbindungskanal zwischen Peking und dem Flusse abgeleitet, um diese Wasserstraße wiederherzustellen, die die Chinesen in der Befürchtung, sie könnte den Eindringlingen von Nutzen sein, trockengelegt hatten.
Die Marmorbrücke, schneeweiß und verlassen, führt uns ans andere Ufer des Sees, der sich an dieser Stelle stark verengt, und hier werde ich den "Nordpalast" finden, wo ich wohnen soll. Vorerst sehe ich nichts als mehrere aufeinanderfolgende Ringmauern, große zerstörte Säulengänge, Trümmer, nichts als Trümmer und Schutt. Und auf das alles fällt ein totes Licht durch die trüben Schneewolken vom winterlichen Himmel herab.
Mitten in einer grauen Mauer klafft eine Bresche, wo ein Chasseur d'Afrique Schildwache steht; auf der einen Seite ein verendeter Hund, auf der anderen ein Haufen von Lumpen und Schutt mit scheußlichem...