Vorwort
von Gerhard Jelinek
Es gibt sie noch: die letzten Zeugen. Menschen, die aus persönlichem Erleben eine oft dramatische Geschichte ihrer Zeit erzählen können. Sie sind im Wortsinn »Zeitzeugen«. Sie erinnern sich in langen Gesprächen an die Wendepunkte unserer gemeinsamen Geschichte.
Ihr Zeugnis erweckt historische Jahreszahlen zum Leben.
Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und haben die gemeinsame Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln erlebt, vielfach auch erlitten.
Österreichs Vergangenheit fällt in der Rückschau in zwei gegensätzliche Teile auseinander. Nach dem Untergang der Habsburgermonarchie bleibt das – weit überwiegend deutschsprachige – Alpengebiet des k. u. k. Staates als »Republik Deutschösterreich«. Dem französischen Politiker Georges Clemenceau wird das verächtliche Diktum »Der Rest ist Österreich« zugeschrieben. Er soll den Satz bei den Friedensverhandlungen im Pariser Vorort St. Germain gesagt haben. Er trifft jedenfalls den Kern. Von der europäischen Großmacht Österreich-Ungarn verbleiben nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gerade mal ein Achtel des Staatsgebiets und rund 6,4 Millionen Menschen in Österreich. Viele Zeitgenossen empfinden den Spruch des Siegers Clemenceau als schmerzhaft treffend. Er drückt auch die deprimierende Erkenntnis eines überwiegenden Teils der Bevölkerung aus: Was als Republik weiter existieren sollte, ist nur ein vorläufiges Konstrukt. Im Staat »Deutschösterreich« sehen fast alle Bürger der neuen Republik ihr Heil im Anschluss an ein neues, demokratisches Deutsches Reich. Wegen seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit von den nun selbstständig gewordenen Kronländern geben nur wenige Österreicher ihrer neuen Heimat Überlebenschancen. Der Anschluss an das Deutsche Reich liegt nahe, er scheint die einzige Perspektive der deutschsprachigen Bevölkerung in der am Boden liegenden einstigen Habsburgermonarchie.
Der Zusammenbruch des Habsburger-Imperiums nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg scheint für die deutschsprachige Bevölkerung auf dem heutigen Staatsgebiet Österreichs das Ende zu bedeuten. Die meisten Nationen der Monarchie, die mehr als vier Jahre lang gemeinsam gegen äußere Feinde gekämpft haben, finden sich nach dem Waffenstillstand im November 1918 auf der Seite der Sieger. Sie sagen sich vom Kaiserhaus los und pochen auf das Postulat von US-Präsident Woodrow Wilson: Dieser hat im Jänner 1918 in einer Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses ein politisches Programm für die Zeit nach dem Ende des Krieges formuliert. Das Schicksal der Monarchie wird in eineinhalb Zeilen als »Punkt Zehn« abgehandelt: »Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden.«
Damit hat der amerikanische Präsident das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« formuliert und so der übernationalen Monarchie im Zentrum des europäischen Kontinents den Todesstoß versetzt. Die »freieste Gelegenheit zur autonomen Entwicklung« gilt bei den Verhandlungen in St. Germain keineswegs für alle Völker. »Deutschösterreich« wird die Selbstbestimmung verwehrt. Das Land und seine Menschen werden zur Unabhängigkeit gezwungen. Ein Anschluss des Monarchie-Restes an das ebenfalls besiegte Deutschland wird untersagt. Die französischen Sieger wollen eine Gebietsvergrößerung des Deutschen Reichs nach der militärischen Niederlage verhindern. Auch die Beifügung »Deutsch« zum Namen Österreich wird verboten.
Die »letzten Zeugen« in diesem Buch erinnern sich nicht an die staatspolitischen Vorgänge, sie spüren aber noch heute – fast hundert Jahre danach – die Stimmung jener Tage: wenn sich Kaisersohn Otto (von) Habsburg an die Dunkelheit im kaiserlichen Schloss Schönbrunn erinnert, das Machtvakuum der Novembertage 1918 am Verschwinden der Gardesoldaten festmacht, oder wenn er das hoffnungslose Bemühen seines Vaters, des letzten Kaisers Karl I., zumindest ein kleines Stück Macht zu retten, als kindliches Abenteuer in den Auen rund um das kaiserliche Jagdschloss Eckartsau erlebt, ebenso die lange Zugfahrt durch Österreich ins Schweizer Exil. Am Grenzbahnhof kreuzen einander die Lebenswege der kaiserlichen Familie beim Abschied aus dem einstigen Erbland und die des Schriftstellers Stefan Zweig, der in umgekehrter Richtung aus der Schweiz ins heimatliche Wien fährt und ein anderes Land entdecken muss – »einen verstümmelten Rumpf, aus allen Adern blutend«.
Heinrich Treichl, auch er einer der »letzten Zeugen«, spürt den Empfindungen seiner großbürgerlichen Familie nach, die bei aller Kritik an den Unterlassungen des greisen Kaisers Franz Joseph I. doch stets treu zum »Hause Habsburg« stand und die jene neue Republik niemals als Heimat empfinden konnte, obwohl sie dem neuen Staat loyal zu dienen glaubte. »Das eigentliche Österreich gibt es nicht mehr.« So bringt Heinrich Treichl die Empfindungen seiner Eltern im Winter 1918 auf den Punkt.
Die Klagenfurterin Felizitas Wester verbindet den Einmarsch serbischer Freischärler in Klagenfurt mit dem Taubenfutter ihrer Großmutter. Die 102-jährige Kärntnerin hat als Kind den Widerstand der deutschsprachigen Kärntner Bevölkerung gegen die Annexionsversuche von Teilen Kärntens an das neue Königreich der Südslawen erlebt. Auch sie ist eine der letzten Zeuginnen von politischen und militärischen Ereignissen, die nur noch unscharf aus dem Nebel der Geschichte des vorigen Jahrhunderts auftauchen. Dabei hat der »Kärntner Abwehrkampf« und seine politische Instrumentalisierung über Jahrzehnte die Kärntner Politik geprägt und im Streit um die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln bis ins dritte Jahrtausend gewirkt.
Die persönlichen Erlebnisse einer Generation wurden tradiert und immer wieder weitergegeben. Erst heute, fast hundert Jahre nach den Geschehnissen, scheint eine nüchterne Betrachtung der Geschichte möglich.
Doch die von der Zeit verschlossenen Wunden können immer wieder aufbrechen. Tief sitzt der Stachel empfundenen Unrechts. Dorothea Haider, 95-jährige Mutter des verunglückten Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider, wurde 1918 in Südtirol geboren. Sie berichtet vom Schock, als italienische Truppen Südtirol besetzen, erzählt von ihrer Mutter, die im Ersten Weltkrieg beim Roten Kreuz im Lazarett von Bruneck Kriegsopfer gepflegt hat, und erinnert sich an den Vater, der als Regimentsarzt von Belluno nach Südtirol versetzt worden ist.
Das Ende einer Welt, der Verlust der Sicherheit, das Fehlen eines über Generationen erlernten Orientierungsrahmens macht die Generation der »letzten Zeugen« anfällig für radikale Strömungen. Dazu kommt die Umkehrung sozialer Positionen. Die Inflation macht Wohlhabende arm, spült Kriegsgewinnler nach oben. Über Generationen angesparte Vermögen zerrinnen wie Sand. Geld ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Die glänzende Metropole Wien ist verkommen. Seit Kriegsbeginn schon ist nichts neu gebaut worden, nun werden Häuser und Wohnungen nicht renoviert, verfallen private und öffentliche Einrichtungen. Ein Volk lebt von der Substanz. Die Menschen tragen abgeschabte alte Kleider. Wien wird vom Gestank des Mülls und von Fliegenschwärmen geplagt. Es gibt keine Taschentücher. Es wird gehustet, gespuckt und gerotzt.
Die Krise trifft die Proletarier in den Vorstädten, mehr noch aber den einstigen Mittelstand. Denn während die Löhne der Arbeiter, so sie Arbeit haben, an die Teuerung gekoppelt sind, verlieren die Beamtengehälter rasend an Wert. Auch die Mieten bleiben weitgehend auf Kriegsniveau und so können viele bürgerliche Familien nur durch das Untervermieten von Räumen in ihren Wohnungen überleben.
Der Jurist und spätere Bankier Treichl erlebt in der Folge die bittere, auch persönliche Niederlage seines Vaters, dessen von ihm geleitetes Bankhaus Biedermann im Strudel der Finanzkrise 1929 untergeht. Parallelen zu heutigen Krisen möge der Leser nicht ziehen. Doch: Mit der größenwahnsinnigen Expansion der einst biederen – und grundsoliden – Bodencredit-Anstalt und ihrem Scheitern verstärkt sich die schwere Depression der österreichischen Wirtschaft im weltweiten Kontext, die vom Börsenkrach an der Wallstreet ausgegangen ist. Die bankrotte »Bodencredit« muss auf massiven politischen Druck der damaligen Bundesregierung vom Bankverein der Creditanstalt, die im Mehrheitsbesitz der Familie Rothschild steht, aufgefangen werden. Die »Rothschild«-Bank mit ihren weitverzweigten Beteiligungen an den österreichischen Industrieunternehmen und ihrer starken Position in den ehemaligen Kronländern und am Balkan kann die Last nicht tragen und bricht zusammen. 1931 muss die Republik Haftungen für die Einlagen und Anleihen der Creditanstalt übernehmen. Mit einem Volumen...