Notfall/Krise
Wer hilft mir, wenn ich in Not bin? Wer hilft mir und dir, wenn wir eine Krise haben? Eine Notlage, einen Engpass, ein Problem? Wer hilft dir, wer unterstützt dich, wer ist an deiner Seite, wer steht dir bei? Wer drückt dich, wer nimmt dich tröstend in den Arm, wer schenkt dir seine Zeit, seine Aufmerksamkeit? Ich meine jetzt nicht nur eine richtige, eine greifbare, eine alles überlappende Lebenskrise, nein, ich ziele auch auf die kleine Krise, das »Krischen« hin, das mein Leben, dein Leben, sagen wir, unangenehmer macht als bisher. Eine Störung. Eine Indisposition. Das kann das Nichtfunktionieren der Kommunikation mit der Partnerin, mit dem Partner sein, ein Missverhältnis zu den lieben Kindern, weil du wieder einmal nicht ganz so funktionierst, wie sie das wollen, das kann eine wachsende Unzufriedenheit am Arbeitsplatz sein, eine Formkrise am Golfplatz usw. Eine kleine, mittelgroße oder größere Lebenskrise. Etwas, das dir nicht passt. Das dir gegen den Strich geht. Eine persönliche Finanzkrise vielleicht. Nehmen wir an, du hast dein Konto überzogen, den Rahmen voll ausgeschöpft – das ist übrigens nicht sehr klug, da zahlst du im besten Fall ungefähr acht Prozent Überziehungszinsen –, dann gehst du optimistisch zum Bankomaten, glaubst, ihn überlisten zu können, tippst deinen Code ein und dann verheißt die schriftliche Botschaft nichts Gutes. »Leider Barbehebung nicht möglich, wenden Sie sich an Ihr Geldinstitut.« Oder so ähnlich. Oh je. Keine Kohle mehr. Ausgepresst wie eine Zitrone. Was tun? Im Lotto wirst du wahrscheinlich wieder nicht den Jackpot knacken, eine Bank ausrauben klingt auch nicht nach der einzig erfüllenden und befriedigenden Lösung, die Mama kannst du nicht anpumpen, die hat selber nichts oder sie lebt nicht mehr. Also was tust du? Wer hilft dir? Klare und ernüchternde Antwort: Niemand. Nobody. Ist da jemand? Meistens nein. Außer du hast vielleicht eine Freundin, einen Freund, die Verständnis für deine Nichtfähigkeit, mit Geld umzugehen, haben und dir aushelfen. Aber erstens hast du vermutlich nicht so viele Freunde, wie du glaubst, und zweitens werden dir deine ganz wenigen richtigen und wahren Freunde eher nicht helfen. Was heißt helfen? Dir Geld geben. Also: Das ist unrealistisch, und falls der eher unwahrscheinliche Fall eintritt, dass dir deine Freundin oder dein Freund helfen, dann ist das keine Dauerlösung. Unterm Strich steht: Es hilft dir niemand. In keiner wie immer gearteten Notsituation.
Halt! Ausnahme. Die Familie, ja, ich weiß schon – Eltern helfen ihren Kindern, Geschwister, so sie sich untereinander verstehen und mögen, auch. Oma und Opa auch. Freunde selten. Noch einmal: Du hast ganz wenige wahre Freunde, auch wenn du von einer Unmenge an Freunden umgeben zu sein scheinst. Möchtest du hinterfragen, ob du Freunde hast? Und wenn ja, wie viele? Willst du tatsächlich eine ehrliche Antwort darauf bekommen? Lass es. Lieber nicht. Ehemals Fremde, die sich vertrauensvoll in dein Leben geschlichen haben, durchaus positive, für dich Nutzen bringende Menschen, mit denen du viel Zeit verbracht und verbraucht hast und immer noch verbringst. Die sich deine Sorgen und Nöte angehört haben, die dir ganz oft, mit häufig ungefragtem Rat und selten mit Taten, zur Seite standen. Freunde. Was für ein gewaltiges, starkes Wort. Meine Freundin. Mein Freund. Was ist das eigentlich? Eigentlich – ich mag dieses Wort gar nicht. Aber hier passt es. Was ist ein Freund? Jemand, der dir in allem zustimmt? Jemand, der nicht dagegenredet? Jemand, der dich in den Arm nimmt, dich tröstet und dir sagt: Ich bin für dich da? Ist das dann jemand, dem du grenzenlos vertraust? Weil sie oder er dich in den Arm nimmt und dich tröstet? Ist das dann tatsächlich jemand, von dem du ungefragt Ratschläge akzeptierst? Jemand, der dich vielleicht so formen und zurechtbiegen will, wie sie, wie er das gerne hätte? Gibt es da jemanden, der dir zuhört, der dich nimmt, wie du bist? Wie bist du? Du merkst schon, ich neige zum Fragenstellen. Ich bin ja auch Moderator, war einmal Redakteur, Journalist, und als solcher musst du neugierig sein, musst du Fragen stellen. Weil du sonst vermutlich keine Antworten bekommen wirst. Ich frage bewusst: Was ist ein Freund? Ein Lebensabschnittspartner? Ja, ich denke schon. Freunde sind auch Lebensabschnittspartner. Freunde zu gewinnen, Freunde zu haben heißt jedoch noch lange nicht, dass sie das auch ein Leben lang sein dürfen/müssen. Oder? Ein Leben lang. Eine lange Zeit. Oder auch nicht. Je nach Wahrnehmung. Wer hilft dir, wenn du in Not bist?
Freunde. Was für ein gewaltiges, starkes Wort.
Ich denke, dass du es bist, der dir helfen kann. Der handeln kann. Der ins Tun kommen muss, um eine Veränderung der Not, der Krise, der Indisposition, des Engpasses zu erreichen. Ich glaube, dass es den »Idealzustand«, zumindest bei erwachsenen Menschen, fast nicht gibt. Diejenigen, die immer wieder betonen, wie glücklich sie sind, wie zufrieden sie sind, wie friedvoll sie mit sich und der Umwelt umgehen, wie sehr sie im Reinen mit sich sind – die das bei jeder Gelegenheit (auch ungefragt) immer wieder loswerden müssen, die sind mir verdächtig. Die wecken ein zumindest leises Unbehagen in mir. Und weißt du warum? Weil ich es ihnen schlicht und einfach nicht glaube. Besonders verdächtig sind mir jene, die nach ihrer Aussage, nach einer kurzen Pause, das Wort »wirklich« hinzufügen. »Ich bin ein sehr zufriedener Mensch. PAUSE. Wirklich!« Da schüttelt es mich innerlich, weil ich mich wie ein Detektiv fühle, der sein Opfer auf frischer Tat ertappt. »Es geht mir sehr gut. PAUSE. Wirklich.« Na bravo, kein Wort glaube ich. Wirklich. Also dinglich, fassbar, greifbar, real, seiend, echt, wahr. Was heißt echt? Authentisch? Ja sicher. Wenn man es nur selber glaubt. Aber es ist ohnehin nicht dein Problem, wenn dich Mitmenschen mit ihren scheinbaren Zuständen überhäufen. Du bist der, der es akzeptiert, der es billigt, bejaht. Ein Freibrief sozusagen für weitere, ganz sicher bald folgende Zustandsinformationen. »Ich bin glücklich. PAUSE. Wirklich.«
Mein Sohn Felix sagte mir vor nicht allzu langer Zeit einen wunderschönen Satz: »Ich bin im Moment absolut sorgenfrei.« Und er hat das Wort »wirklich« nicht angefügt. Er hat es weder ausgesprochen noch gedacht. Ich glaube ihm. Er ist mittlerweile und im Moment absolut sorgenfrei. Das ist ein Superlativ. »Ich bin absolut sorgenfrei« heißt auch »es geht mir in jeder Hinsicht gut«. Da war ich einen Sekundenbruchteil fast so etwas wie neidisch auf ihn. Gott sei Dank hat er es nicht bemerkt und kann keine Gedanken lesen. Oder vielleicht doch? Das möchte ich auch empfinden, dachte ich mir. Absolut sorgenfrei zu sein. Die Mission im Kopf, die Visionen vor mir, die Vergangenheit bewältigt (alleine dieser Ausdruck ist doch schrecklich), mit meinen Lieben ganz im Reinen zu sein, mit mir versöhnt zu sein usw. Sorgenfrei zu sein. Losgelöst und frei von Sorgen und Kümmernissen. Schön. Sehr schön sogar. Ich freue mich sehr für ihn und wünsche ihm sehnlich, dass sein Zustand lange anhalten möge.
Ich bin im Moment absolut sorgenfrei.
Wenn es nicht so läuft wie im Moment bei Felix, wenn dich die Wirrnisse des Lebens ein- und überholen, wenn die Probleme mehr werden, die Sorgen wachsen, die Lebenslasten schwerer werden – was dann? Hast du jemanden, auf den du »zurück-«greifen kannst, Eltern, Geschwister, das familiäre Netz? Mir ist die Familie früher fallweise auf die Nerven gegangen, sehr sogar. Ich hielt es nicht aus, kritisiert zu werden, ich mochte es nicht, dass nicht alles, was ich dachte und sagte (und ich rede und redete viel zu viel …), freudig, gar enthusiastisch aufgenommen wurde, ich mochte die Unterordnungsrituale, die von mir als Heranwachsendem gefordert wurden, nicht. Weder als Kind, schon gar nicht in der Pubertät, und als biologischer Erwachsener hasste ich sie überhaupt. Ich weiß nicht, ob dafür in meiner Vergangenheit eine Ursache zu finden ist. Heute noch kann ich mit Autoritäten schlecht umgehen. Auch wenn die »Betroffenen« mir gegenüber positiv agieren und es möglicherweise auch gut mit mir meinen. Ich hege stets den leisen Verdacht, dass es sich um reine Kommandeure, Anweiser, Befehlsgeber handeln könnte. Hoffentlich meinen sie es gut mit mir.
Ja, die soziale Eingebundenheit. Wer hilft dir in der Not, wollte ich wissen. Meine Antwort lautet: Nur du selber hilfst dir – und das nur dann, wenn du dazu bereit bist. Wenn du dir helfen möchtest. Die meisten Menschen denken nur dann über ihr eigenes Schicksal nach, wenn in ihrem Dasein etwas unrund läuft, wenn etwas schiefläuft. Dann tritt das auf, was wir unter dem Terminus »Teufelskreis« kennen, wir denken nach, geraten in die Vergangenheit, und diese zumeist schmerzlichen Erinnerungen lassen die Gegenwart noch beklagenswerter erscheinen. Mittlerweile weiß ich, dass der Teufelskreis dazu da ist, um aus ihm auszubrechen. Ja, das kann man. Beispielsweise, indem man sich angewöhnt, regelmäßig und häufig über sein eigenes Leben, sein Dasein nachzudenken, seine Abläufe zu analysieren, verbunden mit Fragen wie: Was bringt mir das? Gehe ich...