«Ich bin nicht du und weiß dich nicht»1
Briefe an Celia über die Zwiegespräche
«Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um ein praktischer Mensch zu sein, ist ein Mangel an Sensibilität.»
Fernando Pessoa2
Die Liebe, diese beziehungsstiftende Urkraft, kommt von selbst, wenn wir sie lassen. Warum lassen wir sie nicht? Warum veröden zu viele Beziehungen?
In den folgenden Briefen an meine Freundin Celia versuche ich, fünf Grundeinsichten mitzuteilen, die auch mein Paarleben veränderten. Jeder von uns macht seine Beziehung selbst, ist aber in einem riesigen, unbewussten Beziehungsraum eng mit dem anderen verflochten. Beides wollen wir nicht wahrhaben. Wenn wir das jedoch anerkennen, haben wir eine Chance, unsere Beziehungen lebendiger zu entwickeln. Der entscheidende Weg ist das wesentliche Zwiegespräch. Er bildet den ungestörten Raum, in dem wir unser Erleben wechselseitig einfühlbar machen können. Dazu gehören eine Sprache in Bildern und Geschichten und die Einsicht, dass wir viel weniger voneinander wissen, als wir ahnen.
Erster Brief
Liebe Celia,
nichts hat mich während der letzten Jahre in den mir wesentlichen Beziehungen freier gemacht als das langsame Zusammenwachsen einiger Grundeinsichten in das Paarleben – in mein eigenes, in das meiner Freunde und in das meiner Klienten. Fünf goldene Erkenntnisse. Ich verspreche dir kühn: Mit ihnen braucht keine Beziehung mehr zu misslingen. Sie entwickelt sich wieder: zu tieferer Bindung oder zu klarerer Trennung, in der eine Partnerschaft nicht wie üblich einfach abgebrochen, sondern gemeinsam aufgelöst wird. Diese Aussicht versetzt manchen Paaren zunächst einen kleinen Schock. «Entwicklung kennt keine Sicherheit», bemerkt Tschuang-tse trocken. Auch für mich ist das manchmal kaum auszuhalten. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben? Mir gefiel, was du dazu sagtest: dass dir wenigstens die Sicherheit bliebe, dich zu entwickeln. Wer ist denn auch ernsthaft an einer Beziehungskonserve interessiert? Ich jedenfalls nicht. Ich wünsche mir für meine Beziehungen eine Art Entscheidungshilfe, eine realistische Chance, sie möglichst befriedigend zu gestalten oder, wenn sich das als zu schwierig herausstellen sollte, in gutem Einvernehmen zu beenden.
Die Voraussetzungen für diesen Erkenntnisgewinn waren in meinem gelebten Leben und in meinem Beruf äußerst günstig. Doch reichten sie nicht aus: Erst die Beziehung zu dir hat mir in den letzten fünf Jahren die Augen geöffnet. Warum? Du bist so anders als ich: Portugiesin, Arbeiterkind, fünfundzwanzig Jahre jünger und Oberschulverweigerin. Klüfte in Kultur, Schicht, Alter und Ausbildung. Wie kann ich da nur einen Deiner Sätze so verstehen, wie du ihn meinst? Und: Hast du mich je verstanden? Trotz des offensichtlichen Unterschiedes zwischen uns hat es Jahre gedauert, bis ich dein Anderssein begriff. Aber gerade dieser große Abstand war es, der sozusagen sein Gegenteil erzeugte: die beziehungsstiftenden Zwiegespräche.
Die Blindheit für das Anderssein eines Menschen, der einem nahesteht, ist kein ausgefallenes Beziehungssymptom – das ist mir heute klar –, sondern eine allgemeine, typisch menschliche Täuschung. Jetzt erst weiß ich, dass ich nichts von dir weiß.
«Wissen ist seicht, Nicht-Wissen ist tief.» Wie schwer ist der einfache Tschuang-tse heute, in der wissenschaftsgeprägten Welt, zu verstehen.
Was sich in mir noch sehr vorläufig zusammenfügt, halte ich für den Kern einer Psychoanalyse der guten Beziehung. Sie muss die bisherige Psychoanalyse der konflikthaften Beziehung ergänzen. Denn nur mit einer Hoffnung, mit dem Bild der guten Beziehung, sind wir fähig, die in jeder Beziehung lauernden Ängste aufzunehmen und aufzulösen. Manchmal kommt es mir märchenhaft vor. So als hätte ich gleichsam einen Stein der Weisen zu verschenken. Er ist auch in deinen anderen Beziehungen zu verwenden: in der Familie, in Freundschaften, bei der Arbeit – vor allem aber in der Liebe. Er glitzert, dieser harte Brocken: ein Stein des Anstoßes – vor allem, weil man sich selbst begegnet.
In meinen atemlos kurzen Briefen an dich lasse ich weg, wie die Gesellschaftsmechanik unser aller Liebe in die heutige Kümmerform gebracht hat. Wir sind ja selbst diese Gesellschaft und haben keine Alternative. Ich möchte nur daran erinnern, dass die innige, tyrannisch intime Zweierbeziehung ein zwangsläufiges Ergebnis der kapitalistischen Industrialisierung ist, und komme im nächsten Brief direkt zur Sache.
Dein Michael
Zweiter Brief
Liebe Celia,
die fünf Erkenntnisse, von denen ich dir gestern schrieb, sind unterschiedliche Ansichten ein und derselben Gestalt – eben der guten Beziehung – und nur miteinander verständlich. Ich nenne sie dir in vorläufigen und unzureichenden Sätzen. Es fällt mir übrigens nicht leicht, persönlich und bei uns zu bleiben. Ich bin durch die Wissenschaft, die stets verallgemeinert und dadurch beziehungslos wird, verdorben.
Die gute Beziehung ist nicht, sie kann werden. Deswegen fange ich so an:
1. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, von der wechselseitigen Unkenntnis auszugehen und dich nicht mehr mit meinen Vorstellungen zu kolonialisieren.
2. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, unser gemeinsames unbewusstes Zusammenspiel ernst zu nehmen und damit zu erkennen, dass ich verantwortlich, aber nicht unabhängig bin.
3. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, wesentliche Zwiegespräche als notwendig anzusehen und zu verwirklichen; nur so kann ich lernen, mich und dich ernst zu nehmen; und du kannst mir nicht wesentlich sein, wenn ich mir nicht wesentlich bin.
4. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, mich in konkreten Erlebnissen und nicht in Begriffen zu erläutern, weil Bilder und Geschichten erst wirklich tiefgehend und umfassend wiedergeben können, wer ich bin – und wer du bist.
5. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, zu erkennen, dass ich mir auch die Gefühle mache, von denen ich gern annehme, dass du sie mir machst – zum Beispiel Kränkung und Schuldgefühle –, oder von denen ich glaube, dass sie mich einfach überkommen – wie etwa Angst und Depression.
Gemeinsam sind diesen «Lernzielen» zwei Einsichten: erstens, dass ich meine Beziehung insgesamt sehr aktiv gestalte, auch dort, wo ich denke, es passiert eben so. Vor allem: Auch meine Liebesempfindungen mache ich zu einem großen Teil selbst. Das gilt für alle, auch wenn sie es noch nicht aus eigener Erfahrung wissen. Zweitens geht es darum, dass wir uns in Partnerschaften viel mehr austauschen und abstimmen müssen, als wir es ahnen.
Keiner bezweifelt das altfranzösische Sprichwort «L’amour est l’enfant de la liberté» – die Liebe ist das Kind der Freiheit. Für mich ist es eine tiefe Wahrheit. Sie ist schön. Und sie ist entsetzlich. Denn wir richten die Liebe zugrunde, indem wir in unseren Beziehungen Bindung mit Besitz des anderen verwechseln. Wir verwandeln sehr schnell das zu jeder Liebe gehörende Gefühl, mit dem geliebten Menschen zusammen sein und ihn in dieser Gefühlsform «besitzen» zu wollen, in den ausgesprochenen, ja oft tätlichen Anspruch: «Du gehörst mir.» Vermutlich ist es der Wunsch nach Sicherheit, das heißt, es ist unsere Unsicherheit, die auf diese Weise die Freiheit in der Partnerschaft in Unfreiheit verwandelt und die Liebe ganz gezielt in tausend kleinen Alltagshandlungen zum Schwinden bringt. Wollen wir die Liebe freilassen, geht es also darum, uns wechselseitig zu befreien – genauer gesagt: die äußere und innere Unfreiheit zu mindern, die wir unter dem gesellschaftlichen Zwang, uns selbst unter Kontrolle zu halten, täglich nachproduzieren. Diese Befreiung beginnt – und endet – mit dem Entschluss, uns so zu akzeptieren, wie wir sind.
Dein Michael
Dritter Brief
Liebe Celia,
wie beginne ich nur mit der unendlich vielfältigen ersten Einsicht? – Der andere ist anders. Deshalb heißt er ja so. Eine Binsenweisheit. Doch keiner lebt nach ihr. Das verblüfft mich heute am meisten. Jedes Paar, das zu mir kommt, verwickelt sich binnen kurzem in die altbekannte Fehde: «Nein, so war es überhaupt nicht, es war vielmehr so.» Sie ringen um die Wahrheit. Die entspricht in der Regel der jeweils eigenen Auffassung. Dazu sage ich dann, sie hätten ja auch recht. Wir haben nur eine einzige Realität: die wir erleben. Das ist unsere Wirklichkeit und Wahrheit. Was wir dabei allerdings pausenlos verleugnen, ist die gleichrangige Wahrheit des anderen. Und die ist eben anders. Es kommt also in der Beziehung nicht darauf an herauszukriegen, wie es wirklich gewesen ist, sondern sich zu fragen: Wie hast du es erlebt? Wie ich? Die beiden Erlebniswelten wechselseitig wahrzunehmen, das ist entscheidend. So und nur so machen wir unsere Bindung selbst.
Die subjektive, deine und meine, Wirklichkeit ist wesentlich. Es bringt uns nicht weiter, die objektive Realität festzustellen. Was wollen wir denn beide mit einer über uns schwebenden objektiven Wahrheit anfangen? Ich habe nur eine Antwort: Mit der wollen wir von uns selbst ablenken, uns selbst vertuschen. Diese objektive Wahrheit ist belanglos. Bedeutsam ist: zu zweit mit beiden Wirklichkeiten zu Rande zu kommen. Die meisten Paare erleben einen Hinweis darauf wie eine Erlösung. Sie machen endlich die ersten Schritte, hinter der Mauer der sogenannten Realität sich selbst zu suchen. Nur Männern fällt es schwer einzusehen, dass Fakten eine Spezialform...