Kapitel II
Der Kommunismus wurde in Brüssel geboren
»Religion ist Opium des Volkes.«
Karl Marx
Der Kommunismus wurde in Brüssel geboren
»In der Familie ist der Mann der Bourgeois und die Frau repräsentiert das Proletariat.«
Friedrich Engels
»Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus«, hat Karl Marx im Kommunistischen Manifest geschrieben. Diese Feststellung wurde 1948 tatsächlich verwirklicht, und sie wäre auch dann wahr, wenn Marx sie nur auf Westeuropa bezogen hätte.
Der Marxismus, der Sozialismus und der Kommunismus wurden im Westen geboren. Es ist eine wenig bekannte Ironie der Geschichte, dass die beiden Gründungsikonen des Marxismus, Karl Marx und Friedrich Engels, an den Vorbereitungen zum Kommunistischen Manifest im belgischen Brüssel gearbeitet haben. Aus dem Text und auch aus dem Titel des Manifests sehen wir, dass Marx und seine Anhänger sich selbst als Kommunisten bezeichnet haben. Also im Westen, und wir können ruhig sagen in Brüssel, der Hauptstadt der Europäischen Union, wurde der Kommunismus geboren. Das Ziel des Marxismus, der Kommunismus, ist die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, vor allem die Ausbeutung des Arbeiters – vor allem, aber nicht nur – durch den Kapitalisten, den privaten Besitzer von Produktionsmitteln. Aus Engels Aussage, die wir als Motto gewählt haben, geht hervor, dass die ersten Marxisten nicht nur die Fabrik, sondern auch die Familie als Ort der Ausbeutung begriffen haben. Der ausgebeutete Proletarier war in der Ehe nach Ansicht von Engels die Frau, eine seiner Meinung nach institutionalisierte Prostituierte.
Was hat man 160 Jahre später Rocco Buttiglione vorgeworfen – im selben Brüssel, in dem schon Marx und Engels gewirkt haben? Man warf ihm vor, er habe verlangt, die Frau, die Gattin, die Mutter solle auch im 21. Jahrhundert ihre proletarische Stellung beibehalten. Für dieses Vergehen muss – selbst wenn auch nur der geringste Verdacht dafür besteht – eine Hinrichtung folgen. Stellen Sie sich das vor! 160 Jahre linker Kampf für die Befreiung der Frau aus den Fesseln der traditionellen Familie – und dann will ein Mensch Kommissar werden, der die Meinung vertritt, es sei Aufgabe des Ehemanns, seine Frau zu schützen! Sind wir denn in den 160 Jahren, seit den Zeiten von Engels, nicht weitergekommen? Doch, wir sind weitergekommen. Buttiglione hatte keine Chance.
Wie lässt sich dieser 160-jährige Bogen spannen? In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den westeuropäischen Salons und Universitäten – vor allem in Deutschland, Frankreich und in England – eine Idee geboren, die bis zum Ende des Jahrhunderts ganz Europa im Sturm erobern und das 20. Jahrhundert beherrschen sollte. In diesem Umfeld hat auch der Westeuropäer Marx sein »Kapital« geschrieben, dort wurden alle seine Werke gedruckt und vertrieben. Viele Jahre bevor die kommunistische Revolution den riesigen russischen Staat zu beherrschen begann, fanden im Westen die kommunistischen Gedanken ihren Weg von den Intellektuellen zu den Arbeitermassen sowie in die nationale und internationale Politik. Im Westen entstanden die ersten marxistischen politischen Parteien und eroberten allmählich die Parlamente. Dort entstanden auch die I. und die II. Internationale. Dort hat sich der Marxismus nach und nach in unterschiedliche Ableger verzweigt, die wiederum in den folgenden Jahrzenten dazu verdammt waren, untereinander zu konkurrieren. Diese Ableger vergaßen jedoch nie, dass sie – wenn schon nicht mehr Brüder – so doch zumindest Cousins waren. Und Cousins müssen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zusammenhalten.
Wer aber ist dieser gemeinsame Feind? Die Liste der gemeinsamen Feinde hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert, aber stets standen das Christentum und sein Wertesystem auf dieser Liste. »Religion ist Opium des Volkes!« Dieser Spruch von Marx hat alle seine Nachfolger geeint.
Jahrzehnte bevor die russischen Bolschewiken begannen, das Leben von russischen Christen, Priestern und Bischöfen zu zerstören, floss im Westen das Blut christlicher Märtyrer, der ersten Opfer des westeuropäischen Sozialismus. Am 24. Mai 1871 donnerten im Gefängnis La Roquette nicht weit von Paris Schüsse aus den Waffen eines Hinrichtungskommandos, bestehend aus Soldaten der Pariser Kommune. Durch ihre Kugeln starben einige katholische Geistliche, unter ihnen der Erzbischof von Paris, Georges Darboy. Einige Jahre zuvor hatte dieser Hierarch eine Biografie des heiligen Thomas Beckett geschrieben, in der dieser sagte: »Ja, leiden und sterben für die Liebe zur Kirche, das ist ein Schicksal, das man sich wünschen soll. Ein wunderbares Schicksal und nützlich vor allem anderen.« Thomas Becketts Verhängnis ist auch das Verhängnis von Darboy geworden. Im 20. Jahrhundert jedoch wurde ein derartiger Tod auch zum Schicksal von unzähligen christlichen Laien und Geistlichen im kommunistischen Osten.
Durch den erfolgreichen bewaffneten Putsch von 1917 im großen Russischen Reich entstand im 20. Jahrhundert der stärkste Ableger des Marxismus, der Marxismus-Leninismus. Uljanov Lenin gründete den ersten kommunistischen Staat und stellte sich damit auf die gleiche Stufe wie die theoretischen Gründer Marx und Engels. In den unruhigen Jahren nach dem I. Weltkrieg entstanden nach dem Muster der leninschen Bolschewiken beinahe in allen europäischen Ländern kommunistische Parteien. Sie waren in ihrer überwiegenden Mehrheit Vasallen von Moskau, eben »jüngere Brüderchen«. Auch die westeuropäischen Kommunisten hatten ihre Parteien, ihre ergebenen Anhänger, ihre Presse, ihre intellektuelle Avantgarde. Die russischen Kommunisten hatten zusätzlich noch ihren großen Staat mit der Armee und alle Geldquellen. Dadurch wurde Moskau zur Hauptstadt des Weltkommunismus. Auf Moskau richteten Lenins Brüder und Cousins ihre Blicke. In zwei großen, westeuropäischen, katholischen Ländern stand der Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar fast vor dem Sieg. In Spanien wurde dieser Sieg nur durch den blutigen Bürgerkrieg und die Diktatur Francos verhindert. Und in Italien hat 1948 nur eine außerordentliche Mobilisierung aller antikommunistischen Kräfte den Sieg der kommunistischen Partei bei den zweiten demokratischen Wahlen nach dem Krieg verhindert. Die italienische kommunistische Partei blieb jedoch in den folgenden Jahrzehnten weiterhin die stärkste kommunistische Partei westlich des Eisernen Vorhangs.
Die kommunistische Weltrevolution, zu der es nach dem Sieg des Kommunismus in Russland kommen sollte, hat zwar nicht stattgefunden, dennoch aber gilt der Kommunismus in Europa und Amerika als modern und fortschrittlich: Ihm gehöre die Zukunft. Dem Jesus von Nazaret jedoch sollte die Zukunft nicht gehören. In den intellektuellen Kreisen Europas genossen die prokommunistischen Intellektuellen das Ansehen, überlegen zu sein. Kommunist oder zumindest Sympathisant des Kommunismus zu sein, war irgendwie »cool«.
In den 20er und 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts haben unzählige bekannte Persönlichkeiten in der westlichen Kulturszene mit dem Kommunismus sympathisiert: John Reed, Pablo Picasso, Charlie Chaplin, H. G. Wells, G. B. Shaw, Henri Barbusse, Lion Feuchtwanger, Louis Aragon … Nach dem Sieg über Hitler umgab sich die kommunistische Idee mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit und gewann neue Generationen von Intellektuellen wie Jean Paul Sartre und andere. Der Hauch des kommunistischen Frühlings hatte schon vor dem Krieg den jungen Gustáv Husák, Ladislav Novomeský, Vladimír Clementis und Dominik Tatarka erobert. Nach dem Krieg kamen Zeloten wie Ladislav Mňačko dazu. Aber auch die einfachen Leute bewunderten den sowjetischen Kommunismus und wollten an ihm teilhaben. Tausende Menschen aus den verschiedensten Ländern Europas und Amerikas brachen in das sowjetische Russland auf. Sie wollten den Kommunismus mit aufbauen. In den Zwanzigerjahren ist auf diese Weise auch der kleine Alexander Dubček mit seinen Eltern nach Russland gekommen.
Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die Idee des Kommunismus erwies sich als enorm stark. Ihre Kraft wurde besonders deutlich in den Momenten, wenn ihre Sympathisanten vor der Alternative standen, zwischen ihrer Liebe zur Idee und der Anerkennung der Realität zu wählen. Die Mehrheit hat sich dann stets für die Idee entschieden – selbst dann, wenn die Realität besonders schrecklich war.
Hungersnot und Terror, die es angeblich nicht gab
»Kein Gedenken an mich soll das Zeichen des Kreuzes tragen.«
George Bernard Shaw
Es gab kein schrecklicheres Verbrechen der Bolschewiken als die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1929 bis 1933. Sie verursachte eine Hungersnot, durch die Millionen von Russen, Ukrainern und Kasachen starben. Wie viele Menschen damals verhungerten? Fünf Millionen? Acht? Zehn? Das weiß keiner. Welche Tragödie, wenn man die Zahl der Opfer nicht einmal mit der Genauigkeit von Millionen bestimmen kann! Die Bauern starben in ihren Dörfern, wo ihnen der Staat das Getreide beschlagnahmt hatte. Sie starben in den Straßen der Städte, wohin sie sich aus Verzweiflung vor dem Hunger flüchteten. Sie starben in Sibirien, wohin sie mit Gewalt ausgesiedelt worden waren. Noch in den 90er-Jahren konnte man an der Alterspyramide der ukrainischen Bevölkerung ablesen, dass irgendein unsichtbarer Zahn eine Unmenge von Menschen weggebissen hatte, die dann 60 Jahre alt hätten sein sollen. Die ukrainische Regierung bemüht sich um Anerkennung dieser ungeheuren Tragödie durch möglichst viele Parlamente auf der ganzen Welt. Der...