STALIN
Triumph und Tragödie
Ein politisches Porträt
Aus dem Russischen von
Vesna Jovanoska
edition berolina
eISBN 978-3-95841-516-4
1. Auflage dieser Ausgabe
Alexanderstraße 1
10178 Berlin
Tel. 01805/30 99 99
FAX 01805/35 35 42
(0,14 €/Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)
© 2015 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin
Die Originalausgabe erschien 1989 by APN, Moskau, eine deutsche
Ausgabe im selben Jahr im Claassen Verlag, Düsseldorf.
Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin
www.buchredaktion.de
Einleitung
Wenn man es genau nimmt, begann das Jahr 1937 am 1. Dezember 1934. An diesem Tag wurde Sergej Mironowitsch Kirow ermordet. Aber schon die späten zwanziger Jahre hatten die Konturen der folgenden grausamen Jahrzehnte erkennen lassen. Für die Schuldigen dieser Zeit gibt es keine Rechtfertigung.
Wir erinnern uns jedoch, dass damals die Staudämme und die Hüttenwerke aus dem Boden schossen, dass Papanin, Angelina, Stachanow und Bussygin hart arbeiteten. In diesen Jahren erreichte der Patriotismus seinen Höhepunkt, und wir errangen den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Es wäre falsch, bei der Verurteilung der Verbrechen Stalins die Errungenschaften des Sozialismus und seine prinzipielle Überlegenheit als Gesellschaftssystem zu bestreiten. Trotz der Verbrechen Stalins wurde viel erreicht. Aber unter demokratischen Verhältnissen wären die Erfolge größer gewesen.
Es wäre falsch, die Verurteilung Stalins oder der Personen in seiner Umgebung auszuweiten auf die Partei und auf Millionen von einfachen Menschen, deren Glaube an die Wahrhaftigkeit der revolutionären Ideale nicht erschüttert worden ist.
Es wäre falsch, die Erfolge und die Verbrechen unserer Vergangenheit miteinander zu verrechnen: Was überwog bei Stalin? Verdienste oder Verbrechen? Die Frage ist unmoralisch. Kein Verdienst rechtfertigt die Missachtung der Menschenrechte. Kann von Verdiensten eines Menschen überhaupt die Rede sein, wenn durch seine Schuld viele Millionen starben?
Heute wissen wir, dass Stalin ein grausamer Despot war, der das Volk gewaltsam von seiner politischen Führung entfremdete. Er schuf eine Symbiose von Bürokratie und Dogmatismus. Es liegen Quellen vor, anhand deren wir die Ursachen der Deformation des politischen Systems ergründen können. Unser Wissenshunger lässt sich am besten durch die Wahrheit stillen, wie bitter sie auch sein mag. Lenin schrieb: Besonders »schrecklich sind Illusionen und Selbstlüge, schlimm und zerstörerisch ist die Angst vor der Wahrheit«.
Um das Phänomen Stalin zu analysieren, muss man die Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte auf marxistisch-leninistischer Grundlage betrachten. Dabei werden wir auch Arbeiten Lenins heranziehen und auswerten. Vor allem die als sein »Testament« bekannten Dokumente sind von unschätzbarem Wert.
Stalin hat sein Leben lang nicht vergessen, dass Lenin in seinem »Testament«, dem »Brief an den Parteitag« vom Dezember 1922, ihn und Trotzki als »herausragende Führer« bezeichnet hat. Er vergaß aber ebenso wenig die offene und schmerzhafte Charakterisierung seiner Person. Er konnte sich auch nicht damit abfinden, dass Lenin Bucharin »Liebling der Partei« genannt hatte. Immer wieder hat Stalin versucht, Lenins Worten eine andere Bedeutung zu geben. In einer seiner Reden sagte er zum Beispiel: »Wir alle lieben Bucharin, aber die Wahrheit, die Partei und die Komintern lieben wir noch mehr.« In diesem Satz findet sich fast schon der ganze Stalin: der Idee ergeben – so, wie er sie verstand –, aber schlau und listig. Lenins Bemerkung, dass »Stalin zu grob« sei, kommentierte der Generalsekretär mit der Entgegnung, er sei »nur grob zu seinen Feinden«. In den letzten Jahren sind bei uns viele Biographien erschienen: über Cäsar, Napoleon, Charles de Gaulle, Mao Tse-tung und andere, die für immer in der Geschichte verewigt sind. Es wurde sogar ein Buch über Hitler herausgegeben. Aber es gibt keine politische Biographie Stalins in der Sowjetunion, wohingegen im Ausland einige Dutzend Bücher über ihn veröffentlicht worden sind. Die Lücke in unserer Geschichtsschreibung versuchen bislang zahlreiche belletristische und historische Publikationen zu schließen, die sich mit verschiedenen Aspekten der Stalin-Zeit befassen. Diese Publikationen sind wie ein Regen nach einer langen Dürre. Ohne Zweifel werden bald auch wissenschaftliche Untersuchungen erscheinen. Historiker werden über Stalin wie über Chruschtschow, Breschnew und andere wichtige Personen in der Geschichte unserer Partei und unseres Staats schreiben. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, nur ein politisches Porträt Stalins zu entwerfen und keine Biographie.
Die hitzigen Diskussionen über Stalin verstummen nicht. Einer der Gründe für das große Interesse an seiner Person ist, dass seine Zeit, legt man historische Maßstäbe zugrunde, erst vor kurzem zu Ende gegangen ist: vor etwa vier Jahrzehnten. Das Schicksal Stalins ist noch verwoben mit den Schicksalen heute lebender Menschen und ihrer nächsten Verwandten. Viele von uns sind in der Stalin-Ära aufgewachsen, und jeder von uns ist mit seiner Zeit verbunden. Die Wunden unserer Geschichte sind nicht verheilt, und wir werden sie noch lange spüren.
Ein weiterer Grund für das anhaltende Interesse an Stalin ist die Erneuerung des Sozialismus, des Humanismus, der Gerechtigkeit, der historischen Wahrheit und der moralischen Ideale. Die Stalin-Ära hat gezeigt, dass der Dogmatismus in der Lage ist, einen Tempel der ehernen und ewigen Werte zu errichten. Außer der Veränderung gibt es jedoch nichts Ewiges. Dogmatische Blindheit ist gefährlich, sie kann eine Ideologie in eine Religion verwandeln. Der Dogmatismus überträgt alle irdischen Freuden auf morgen und morgen auf übermorgen. Die revolutionäre Erneuerung unserer Gesellschaft betrifft vor allem das gesellschaftliche Bewusstsein. Nicht zufällig sind Dogmatismus und Bürokratie zum zentralen Gegenstand unserer Kritik geworden. Beides verbinden wir in hohem Maß mit den Jahren der autokratischen Herrschaft Stalins.
Schließlich will ich noch auf einen Grund unter vielen hinweisen für das große Interesse am Leben dieses Menschen. Dieser Mann erschien seinem Volk nicht als Mensch, wie Lenin, sondern er stellte sich gottähnlich über die sowjetischen Bürger. Die sowjetischen Menschen wussten nichts über Stalin, abgesehen von den zahllosen Lobeshymnen auf ihn wie von den Statuen und Bildern. Die knappe Biographie von ihm, die kurz nach dem Krieg erschienen ist, hat keine Autoren, obwohl in der Titelei G. f. Alexandrow, M. B. Mitin, P. N. Pospelow und andere aufgeführt sind. Stalin selbst hat diese Biographie bearbeitet. Sie verherrlicht den Staatsmann und Parteiführer, aber der Mensch kommt nicht vor in ihr.
1936 wurde ein Buch von Henri Barbusse herausgegeben: »Stalin«. Es genügt, ein paar Sätze darin zu lesen, um die Qualität dieser Arbeit bewerten zu können. Zum Beispiel: »Die Geschichte seines Lebens ist eine Reihe ungezählter Siege über gewaltige Schwierigkeiten. Es verging kein Jahr seit 1917, in dem er nicht große Taten vollbrachte, von denen eine einzige genügt hätte, um ewigen Ruhm zu ernten. Stalin, das ist ein eiserner Mensch. Er macht seinem Namen alle Ehre: Stalin, der Stählerne.« Das Akademiemitglied Jemeljan Michajlowitsch Jaroslawski hat 1939 das Buch »Über den Genossen Stalin« veröffentlicht. Jaroslawski bemerkte zu Recht, über Stalin zu schreiben bedeute, über alle Aktionen der Partei im Kampf für den Aufbau des Sozialismus in unserem Land zu berichten. Aber dann finden wir darin Sätze nach dem Muster der folgenden:
»In den Volksliedern besingen und vergleichen die Sänger den Genossen Stalin mit einem gewissenhaften Gärtner, der seinen Garten liebt; und dieser Garten ist die Menschheit. Das Teuerste, das wir haben, sind die Menschen, sind die Kader. Die Fürsorge, die der Genosse Stalin den Kadern, dem Menschen, dem lebenden Menschen, zuteil werden lässt, das ist das, was das Volk am Genossen Stalin schätzt, das ist das, was wir vom Genossen Stalin lernen können.«
Der Kominternfunktionär Karl Radek widmete Stalin in seinem 1934 erschienenen Buch »Porträts und Pamphlete« ein langes Kapitel. Es liest sich wie die Lobpreisung eines Messias. Die Hymne auf den Führer, mit der Radek sich erniedrigte, bewahrte ihn nicht vor einem tragischen Schicksal.
Der wissenschaftliche Wert solcher und ähnlicher Werke sowie der Mengen von geschönter Erinnerungsliteratur, die die Stalin-Zeit behandelt, ist gering. In ihnen zeigt sich das Klima der Unterwürfigkeit und Speichelleckerei, das Stalin und seine Gesinnungsgenossen unter Einsatz von Gewalt erzeugt haben, besonders nach dem 17. Parteitag (1934).
Stalin hat hart daran gearbeitet, dass die Menschen nach seinem Tod so über ihn dachten, wie er es wollte. Er und seine Mitstreiter waren dabei nicht ohne Erfolg, wie sich in unserer Literatur zeigt. Viele Seiten der Chronik unseres Landes sind unbeschrieben, viele sind entstellt, und manche wurden herausgerissen. Dieser Umstand hat dem Autor die Arbeit schwer gemacht.
Eine andere Schwierigkeit ist mehr allgemeiner Art. Jeder Mensch birgt in sich einen Mikrokosmos unerklärlicher Welten. Alle diese Geheimnisse nimmt er mit ins Grab. Wir werden niemals alles über einen Verstorbenen erfahren, aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, vieles über das zu erfahren, was ein Mensch gedacht hat. Über die Gedankenwelt Stalins geben nicht nur seine...