VORWORT
Gewohnheiten als Therapie
Sie war für die Wissenschaftler die ideale Testperson. Laut Akte war Lisa Allen 34 Jahre alt, sie hatte mit sechzehn zu rauchen und zu trinken angefangen und die meiste Zeit ihres Lebens Probleme mit Übergewicht gehabt. Als sie Mitte zwanzig war, hatte sie über 10000 Dollar Schulden und bekam Besuch von diversen Inkassobüros. Ein alter Lebenslauf verriet, dass ihr längstes Arbeitsverhältnis kaum ein Jahr gedauert hatte.
Die Frau, die den Forschern heute gegenübersaß, war aber schlank und quirlig, mit den durchtrainierten Beinen einer Läuferin. Sie sah zehn Jahre jünger aus als auf den Fotos in ihren Unterlagen, und sie wirkte sportlicher als jeder andere im Raum. Laut dem jüngsten Bericht in ihrer Akte hatte Lisa keine Schulden, sie trank nicht mehr und arbeitete seit 39 Monaten in einem Büro für Grafikdesign.
»Wann haben Sie zuletzt geraucht?« war die erste einer ganzen Reihe von Fragen, die Lisa jedes Mal beantworten musste, wenn sie dieses Labor außerhalb von Bethesda, Maryland, aufsuchte.
»Vor fast vier Jahren«, antwortete sie dem zuständigen Arzt, »und ich habe seitdem dreißig Kilo abgenommen und bin einen Marathon gelaufen.« Sie hatte mittlerweile mit dem Studium angefangen und ein Haus gekauft. Es war viel passiert in der Zwischenzeit.
Unter den anwesenden Forschern waren Neurologen, Psychologen, Genetiker und ein Soziologe. In den vergangenen drei Jahren hatten sie, finanziert durch Gelder der National Institutes of Health, Lisa und über zwei Dutzend andere ehemalige Raucher, Esssüchtige, Alkoholiker, Kaufsüchtige und Menschen mit anderen destruktiven Angewohnheiten auf Herz und Nieren untersucht. Die Studienteilnehmer hatten eines gemeinsam: Sie hatten ihr Leben in relativ kurzer Zeit von Grund auf umgekrempelt. Die Forscher wollten verstehen, wie ihnen das gelungen war. Daher kontrollierten sie die Vitalparameter ihrer Probanden, sie installierten Videokameras in ihren Häusern, um ihren Tagesablauf zu beobachten, sie sequenzierten bestimmte Abschnitte ihrer DNA und erfassten mit Hilfe von Geräten, die die Vorgänge im Gehirn in Echtzeit abbilden, den Blutfluss und die elektrische Aktivität im zentralen Nervensystem, während die Probanden der Versuchung von Zigarettenrauch oder üppigen Mahlzeiten ausgesetzt waren.1 Die Forscher wollten herausfinden, wie Gewohnheiten auf neurologischer Ebene funktionieren – und wie man sie verändern kann.
»Ich weiß, dass Sie diese Geschichte schon ein Dutzend Mal erzählt haben«, sagte der Arzt zu Lisa, »aber einige meiner Kollegen kennen sie nur aus zweiter Hand. Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch einmal zu schildern, wie Sie von den Zigaretten losgekommen sind?«
»Gern«, sagte Lisa. »Es begann in Kairo.« Der Urlaub sei eine etwas überstürzte Entscheidung gewesen, fuhr sie fort. Ein paar Monate zuvor war ihr Mann von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte verkündet, dass er sie wegen einer anderen Frau verlassen werde. Lisa brauchte eine Weile, um die Nachricht zu verarbeiten und sich mit der Tatsache abzufinden, dass er sich scheiden lassen wollte. Sie durchlebte eine Phase der Trauer, dann eine Zeit, in der sie ihn zwanghaft ausspionierte, seiner neuen Freundin in der ganzen Stadt nachstellte, sie nach Mitternacht anrief und einfach auflegte. Dann kam der Abend, an dem Lisa betrunken im Haus seiner Freundin aufkreuzte, an die Tür schlug und schrie, sie werde die Wohnung abfackeln.
»Mir ging es damals ziemlich schlecht«, sagte Lisa. »Ich wollte schon immer mal die Pyramiden sehen, und ich hatte den Dispo meiner Kreditkarten noch nicht ausgeschöpft, also …« An ihrem ersten Tag in Kairo wachte Lisa im Morgengrauen vom Gebetsruf auf, der von einer nahegelegenen Moschee herüberschallte. In ihrem Hotelzimmer war es stockfinster. Halb blind und ermattet vom Jetlag, griff sie nach einer Zigarette.
Sie war so desorientiert, dass sie zunächst – bis sie den Geruch von versengtem Plastik wahrnahm – nicht bemerkte, dass sie einen Kugelschreiber anzünden wollte. In den letzten vier Monaten hatte sie nur geweint, immer wieder Fressanfälle gehabt, unter Schlaflosigkeit gelitten, sich geschämt, sich hilflos und niedergeschlagen gefühlt und zugleich eine heftige Wut verspürt. Nun, im Hotelbett in Kairo, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. »Mir war, als würde ich von einer Trauerflut hinweggespült«, sagte sie. »Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich mir je gewünscht hatte, zerbrochen war. Ich konnte nicht mal mehr richtig rauchen. Und dann begann ich über meinen Exmann nachzudenken, und wie schwer es sein würde, nach meiner Rückkehr einen neuen Job zu finden, und wie sehr ich das hassen würde und wie ungesund ich mich die ganze Zeit über fühlte. Ich stand auf und warf einen Wasserkrug um, der auf dem Boden zersplitterte, und da weinte ich noch heftiger. Ich spürte diese Verzweiflung, als müsste ich was verändern, ich musste wenigstens irgendetwas finden, das ich kontrollieren konnte.«
Sie nahm eine Dusche und verließ das Hotel. Als sie in einem Taxi über die holprigen Straßen Kairos ruckelte und dann über die Pisten, die zur Sphinx, den Pyramiden von Gizeh und der endlos weiten Wüste drum herum führten, fiel ihr Selbstmitleid für einen kurzen Moment von ihr ab. Sie brauchte ein Ziel in ihrem Leben, dachte sie. Etwas, worauf sie hinarbeiten konnte. Also beschloss sie, im Taxi sitzend, bald nach Ägypten zurückzukehren und eine Wanderung durch die Wüste zu unternehmen.
Lisa wusste, dass es eine verrückte Idee war. Sie war nicht in Form, hatte Übergewicht und kein Geld auf der Bank. Sie kannte nicht einmal den Namen der Wüste, die sich vor ihr erstreckte, und sie wusste auch nicht, ob eine solche Wanderung überhaupt möglich war. Aber all dies spielte keine Rolle. Sie brauchte etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Lisa beschloss, dass sie sich ein Jahr lang vorbereiten würde. Und um eine solche Expedition zu überleben, würde sie Opfer bringen müssen – davon war sie überzeugt. Vor allem das Rauchen aufgeben.
Als Lisa schließlich elf Monate später – auf einer klimatisierten Tour mit einem halben Dutzend anderer Leute wohlgemerkt – durch die Wüste trekkte, führte die Karawane so viel Wasser, Nahrungsmittel, Zelte, Karten, GPS-Apparate und Funkgeräte mit sich, dass eine Stange Zigaretten auch nicht viel ausgemacht hätte.
Aber damals im Taxi wusste Lisa das noch nicht. Und für die Wissenschaftler im Labor waren die Details ihrer Reise nicht weiter von Belang. Aus Gründen, die sie gerade erst zu verstehen begannen, hatte die geringfügige Veränderung von Lisas Wahrnehmung an jenem Tag – die Überzeugung, dass sie das Rauchen aufgeben musste, um ihr Ziel zu erreichen – eine ganze Reihe von Veränderungen ausgelöst, die letztlich auf alle Aspekte ihres Lebens ausstrahlen würden. Im Verlauf der nächsten sechs Monate ersetzte sie das Rauchen durch Joggen, und diese Verhaltensänderung veränderte ihrerseits die Art und Weise, wie sie sich ernährte, arbeitete, schlief, Geld sparte, ihre Arbeitstage und ihre Zukunft plante und so weiter. Sie begann, Halbmarathons zu laufen, absolvierte dann einen Marathon, drückte wieder die Schulbank, kaufte ein Haus und verlobte sich.
Schließlich nahm sie an der besagten wissenschaftlichen Studie teil, und als die Forscher CT-Aufnahmen von Lisas Gehirn untersuchten, stießen sie auf etwas Bemerkenswertes: Bestimmte neurologische Muster –...